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Eine Räubergeschichte

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Autor: Isolde Kurz
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Titel: Eine Räubergeschichte
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aus: Die Gartenlaube, Heft 22–23, S. 364–368, 382–386
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Eine Räubergeschichte.

Von Isolde Kurz.0 Illustrirt von Fritz Bergen.

Ich war dieses Jahr früher als sonst, schon mit den ersten Leuchtkäfern, gekommen und ging in den holperigen Gäßchen von San Terenzo umher mit dem angenehmen Gefühl, eine wandelnde Sehenswürdigkeit zu sein. Die guten Leute waren ordentlich stolz auf den zeitigen Sommergast, um so stolzer, als in Lerici drüben noch nicht eine einzige Wohnung vermiethet war. Keine süßere Würze der eigenen geschmeichelten Eitelkeit als das Mißgeschick derer „von drüben“! Ist doch selbst der aufgeklärteste Kopf im ganzen Ort, mein Hauswirth Giacomino, von seinen Weltumsegelungsfahrten mit der unerschütterten Ueberzeugung zurückgekehrt, daß jeder Bewohner von Lerici mit dem Keim alles Bösen geboren werde – gerade wie weiland dem großen florentinischen Dichter Dante die gottverlassene Schlechtigkeit der nachbarlichen Fiesolaner ein Glaubenssatz war. Und auch der Klassiker von San Terenzo, ein dichtender Kapitän, hatte in einem seiner ungedruckten Gedichte, die sich von Mund zu Mund fortpflanzen, der Vermuthung Raum gegeben, daß Judas Ischariot aus Lerici gebürtig gewesen sei.

Diese uralte Eifersucht der beiden feindlichen Nachbarorte hat sich schon so weit auf mich übertragen, daß ich immer eifrig zustimme, wenn mein Hauswirth mir die Vorzüge San Terenzos auf Kosten von Lerici anpreist, und ich thue es mit gutem Gewissen, genieße ich doch in meinem unscheinbaren Felsennest den Segen einer wind- und sonnegeschützten Lage und habe das prächtige, gluthbestrahlte und von Stürmen umtoste Lerici auf der anderen Seite der Bucht mit seiner gewaltigen alten Zwingburg, die Land und Fluth beherrscht, gerade vor Augen; ich bin also weit besser dran, als wenn ich mich im umgekehrten Fall befände.

Als ich auf der Höhe des „Solaro“ aus dem über und über mit Staub bedeckten unbeschreiblichen Vehikel, das mich bis hierher gebracht hatte, herausgekrochen war, meine Gepäckstücke auf die Köpfe der herzugeeilten Weiber und Kinder vertheilt hatte und jetzt an der Spitze meiner Karawane den steilen Berghang hinunterstieg, kam ich mir vor wie ein Forschungsreisender mit seiner Expedition in wilden Ländern, und als ich zuerst wieder durch die Olivengebüsche tief, tief unten eine weite Fläche von geradezu unwahrscheinlichem Ultramarinblau leuchten sah, da pries ich die Natur, daß sie dies Restchen Paradies durch einen fast uneinnehmbaren Schutzwall gegen die anfluthende Kultur gesichert hatte.

In der That, nichts hat sich in dem stillen Golf geändert seit meinem letzten Hiersein. Dieselben Gesichter kommen mir entgegen, wie vor Jahren schaukeln sich die zur nächtlichen Fahrt gerüsteten Fischerboote auf der Reede, und die Netze werden von halbnackter, schwarzgebrannter Jugend keuchend ans Land gezogen. Wenn ich das Meer eintönig zwischen den Klippen murmeln höre und die Weiber mit bloßen Füßen die Wäsche in der schmutzigen Kanalmündung stampfen sehe, so ist mir, als stehe die Zeituhr still – und richtig, dort wandelt auch schon wie gewöhnlich der Doktor um die Ecke, begleitet von dem jungen Mann aus Bagnola, von dem mir Giacomino schon vor Jahren versichert hat, daß er ganz gewiß in kurzem ein Genie werden oder ins Narrenhaus kommen müsse, zwei Fälle, von denen bis jetzt noch keiner eingetroffen ist.

Und doch, eine Veränderung stößt mir auf, als ich mich abends zur Ruhe begebe: ich bemerke nämlich, daß Giacomino, der sonst um diese Zeit immer sorglich die Hausthür zu verriegeln pflegte, heute sich damit begnügt, sie einzuklinken und einen umgestülpten Kehrbesen von innen gegen die Thür zu lehnen, doch wohl mehr ein andeutendes Sinnbild der Sicherheit als ein wirkliches Werkzeug derselben. Der Riegel ist nämlich, wie ich höre, schon vor Monaten zerbrochen. Uebrigens ist ein solcher Besen der landesübliche Verschluß, und der Riegel vom vergangenen Jahr war nur einer der vielen Luxusgegenstände, die der in allen Dingen vorangeschrittene Giacomino sich gestattete, gewiß ein Ueberfluß in einer Gegend, wo man, wie die Einwohner versichern, das Geld auf den Straßen niederlegen kann und gewiß ist, es des andern Tags wieder zu finden. Darum theilen sich auch die beiden feindlichen Nachbarorte in die zwei einzigen verfügbaren Carabinieri dergestalt, daß die Wächter des Gesetzes zweimal wöchentlich, am Montag und am Donnerstag, in San Terenzo Aufenthalt nehmen, während sie den Rest der Woche auf die Sicherheit von Lerici verwenden.

Um meinen Vortheil als einziger Badegast nun auch sattsam auszukosten, nahm ich meinen Hauswirth, der sich während der Saison verhundertfachen muß, ausschließlich in Beschlag und besuchte in seiner Gesellschaft all die wunderbaren Orte, die ich bisher nur dem Namen nach gekannt hatte. Bald fuhren wir in die geheimnißvolle Grotte von Maralunga, wo das leise glucksende Wasser unser Boot ganz von selbst nach innen zog, daß die Fledermäuse erschreckt von den Wänden auffuhren. Bald steuerten wir zwischen dem Tino und der Palmaria hindurch nach dem kleinen Tinetto, der jetzt nur noch als ein wüster Steinhaufen aus den Wassern ragt. Das Nonnenklösterlein, das vor Zeiten dort gestanden hat, ist der Sage nach bei Nacht von kreuzenden saracenischen Piraten überfallen worden; seine Insassinnen wurden bis auf die letzte nach der Levante geschleppt, ohne daß die frommen Brüder vom Tino, der doch so nahe liegt, daß sich [365] Nonnen und Mönche fast die Hände über die schmale Wasserstraße hinüber reichen konnten, Hilfe zu bringen wagten.

So erzählte mir im Vorüberfahren Giacomino, der wie immer an Geschichten unerschöpflich war. Wer, der je den Golf besuchte, hätte nicht von Giacominos Geschichten gehört? Er ist das wandelnde Sagenbuch der ligurischen Küste. Und da er gewissenhaft immer mit denselben Worten erzählt, so kann ich die meisten seiner Geschichten auswendig, brauche also nur noch mit einem Ohr zuzuhören, während das andere dem sanft klatschenden Eintauchen der Ruder lauscht.

Inzwischen hat der Mond seine flimmernde goldene Straße von Ufer zu Ufer gezogen, auf dem Tino flammt das elekrische Licht auf und wirft, sich im Kreise schwingend, starke blitzende Strahlen über das verdunkelte Wasser. Ich wickle mich in mein Mäntelchen, strecke mich auf der Ruderbank aus und noch in den dämmernden Halbtraum hinüber folgt mir Giacominos Lieblingsgeschichte von dem Nationalhelden von San Terenzo, dem tapfern Banditen Giuseppe Suffardi, für dessen todten Leib eine schöne Gräfin vergeblich sein ganzes Gewicht in Gold geboten hat.

Doch nicht lange dauerte dieser weltabgeschiedene Zustand. Eines Tags, als ich wieder in eifrigem Müßiggang am Strande saß, meine Haare an der Sonne trocknend, und einem Seesterne zusah, der sich langsam in dem Sande unterm Wasser vor mir in Drehbewegungen zwischen Moos und Gesträuchen hinwand, legten sich mir plötzlich zwei kleine warme Hände über die Augen, ich fühlte nach den runden Fingern, die mit zahlreichen Ringen besetzt waren, und rief: „Clelia!“

In der That, sie war es, meine gute Freundin vom vergangenen Jahr, die Frau des deutschen Botanikers. Sie hatte sich „emancipirt,“ wie sie sagte, und war allein gekommen, da sie hörte, ich sei schon hier, denn ihr Mann, der ewige Wanderer, hatte eine Reise nach dem hohen Norden angetreten.

Das also bedeutete der endlose Zug von Koffern und Kisten, der sich vorhin wie eine Völkerwanderung den Solaro herabgewunden hatte – Signora Clelias Gepäck für die Sommermonate! Da stand sie vor mir, unruhig und glitzernd wie ein Stern, und schon wieder voll Begier nach etwas Neuem, noch nicht Dagewesenem.

Kaum hatte sie an meinem nassen Kopf gesehen, daß ich eben aus dem Bade kam, als sie auch schon die Lust anwandelte, entgegen dem italienischen Vorurtheil, das erst vom 15. Juni an die Seebäder gestatten will, ebenfalls mit ihrer Badekur sofort zu beginnen.

Das hat nun aber seine Schwierigkeiten, denn die Kabinen sind natürlich noch nicht aufgeschlagen, und so vom Kahn aus unter freiem Himmel in die Fluth zu springen, das erscheint Signora Clelia als ein unnatürlicher Gewaltakt. Daher beschließen wir ein freundlich Wörtlein mit dem Inhaber des „Stabilimento“, der Badeanstalt, zu sprechen, ob er nicht von der Regel eine Ausnahme machen und uns vorläufig eine Badehütte aufrichten wolle.

Der Badebesitzer, der im Ort, Gott weiß warum, den Spitznamen „Il Principe“ führt – denn alles „Fürstliche“ liegt seinem Wesen und Anstand fern – steht eben hemdärmelig am Strand und betrachtet zufrieden die vielen im Meeresgrund eingerammten Pfähle, welche die Säulen seines Wohlstandes sind, da er auf ihnen in ein paar Wochen wieder die Bretterbude aufzurichten gedenkt, aus der ihm seine Einnahme für das ganze Jahr quillt. Der „Principe“ ist eine der wunderlichsten Figuren, die mir jemals vorgekommen sind. Wer seinen Kopf ansieht, diesen runden, mit dichtem bürstenartigen Haar bestandenen schwarzen Kürbis, der sucht unwillkürlich nach dem Buckel, der von Rechtswegen zu einem solchen Kopf gehört. Aber der „Principe“ hat keinen Buckel. Erst nach einigem Forschen entdeckt das Auge die Ursache des Mißbehagens, das diese Gestalt einflößt. Ein mächtig entwickelter Brustkasten ruht ganz unvermittelt auf einem schwächlichen schwankenden Säulenpaar, das unter dieser Last bei jedem Schritte umzuknicken scheint. Der „Principe“ schiebt sich deshalb auch nur mühsam und schwerfällig vorwärts und legt sich jahraus, jahrein keine andere Beschäftigung auf, als hemdärmelig mit gekreuzten Armen auf das Meer hinauszublicken, sein Ackerland, das ihm ungepflügt goldene Früchte trägt.

Doch, o Macht des Vorurtheils! Der Mann blieb taub für die Honigzunge der Signora, die ihn einmal über das andere „caro principe, principino mio“ nannte, taub selbst für meine Vorstellung, daß ihm diese Bäder außerhalb des Abonnements mehr eintragen würden, als er uns während der ganzen Saison berechnen dürfte. Er erklärte rundweg, kein Badinhaber, „der etwas auf sich halte,“ werde vor dem 15. Juni seine Anstalt eröffnen, er habe das immer so getrieben und es sei dem Menschen nicht gut, alte Gewohnheiten mit einem Schlag zu ändern.

„So baden Sie dach in der Vallata drüben,“ fügte er schließlich hinzu, als er unsere Verstimmung sah. „Eine schönere Badewanne würden Sie am ganzen Golf vergeblich suchen, und dazu haben Sie dort noch einen Sand so weich wie ein persischer Teppich.“

In der That ist diese tiefe Einbuchtung zwischen San Terenzo und Lerici, die unter dem Namen La Vallà im Volksmund geht – gerade die Mitte des Bogens, an dessen äußersten Enden die beiden eifersüchtigen Ortschaften liegen, – einer der schönsten Punkte im Golf von Spezia, aber der Weg dahin führt auf baumloser Straße über die erste und schroffste Steigung des „Solaro“ und ist deshalb bei einer Temperatur wie der unsrigen wenig verlockend.

Das gab ich dem „Principe“ zu bedenken, allein er erwiderte gelassen: „Warum machen Sie es nicht wie [366] diese?“ – und deutete mit dem Finger auf eine Schar junger Landmädchen, die eben auf dem Klippenvorsprung, hinter dem diese Einbuchtung liegt, zum Vorschein kamen. Sie schritten barfuß, die Holzschuhe in der Hand, den Klippenweg von der Vallata herunter und patschten dann, die Kleider sorgfältig zusammenraffend, gleichmüthig durch das seichte Uferwasser, das herwärts von den Klippen die Parkmauern der Villa Maccarani wäscht. Dies war allerdings der kürzeste und einfachste Weg nach der Vallata. Ich warf einen Blick auf Clelias verzärtelte Erscheinung und wir wandten dem Spötter unmuthig den Rücken.

Gegen Abend, als ich zufällig wieder des Weges kam, fand ich Clelia bei den abgetragenen Baracken stehen und das Sinken der Fluth beobachten. Da sahen wir, wie sich unterhalb der Parkmauer und fernerhin an den Klippen erst einzelne Steine aus dem Wasser hoben; diese bildeten kleine Inselchen, die größer und größer wurden, und bald lag ein schmaler, aber völlig trockener Uferweg vor uns. Ich war schon oft zur Zeit der Ebbe auf dieser Furt hingeschritten, aber Signora Clelia betrachtete die Erscheinung mit Verwunderung und meinte, hier wäre ja die Straße, die der „Principe“ uns vorschlüge.

Ich blickte zweifelhaft auf ihre Stöckelschuhe, doch ein ganz neuer Geist der Thatkraft und Unternehmungslust schien dieses Jahr in die hübsche Frau gefahren zu sein; sie bestand auf dem Versuch.

Eine halbe Stunde später waren wir schon unterwegs und der „Principe“ sah uns kopfschüttelnd nach, wie wir den niederen Quai hinabstiegen und an seinem Pfahlwerk vorüber mit geschürzten Kleidern längs der Parkmauer auf dem trockenen Kies hingingen, den heranhüpfenden kleinen Wellchen rasch ausweichend und begleitet von dem Neffen meines Hauswirths, dem kleinen Oscarino, der unser Badezeug in einem Ballen auf dem Kopf trug.

Die Expedition gelang über alles Erwarten gut, nur der Klippenweg bot einige Schwierigkeit, weil einer der Zinken so steil ist, daß er nur auf Händen und Füßen erklettert und rutschend wieder verlassen werden kann. Doch gute Laune besiegte auch dieses Hinderniß und jubelnd faßten wir nach kurzer Wanderung auf dem Gestade der Vallata Fuß.

Vor uns lag das herrliche Panorama des blauen Golfs mit seinen Buchten und Inseln, hinter uns die bewaldete Höhe von Marigola, zur Rechten der düstere Park der Villa Maccarani, der uns mit seinen hohen Cypressen und dichten Oliven, Steineichen und Pinien die Aussicht versperrte, links der steile Aufstieg nach der Fahrstraße von Lerici, die sich kühn am Berge hinwindet, und an den beiden Hörnern des Golfes auf dem äußersten Landvorsprung die Kastelle von San Terenzo und Lerici.

Natürliche Nischen in der Felswand schienen nur auf uns gewartet zu haben und ließen sich durch ein vorgespanntes Badetuch bereitwilligst in kleine Ankleidekabinette verwandeln. Und was soll ich von dem weichen durchsonnten Sande des Ufers sagen, der sich den Sohlen anschmeichelt wie ein Plüschteppich, was von der glatten Spiegelfluth, die wie ein Krystall den allmählich abfallenden Grund mit seinen breiten Sandwellen durchblicken läßt?

Als wir nach vollendetem Bade den holperigen feuchten Rückweg einschlugen, gelobten wir uns beide, nie wieder von der Bretterbude des „Principe“ Gebrauch zu machen, nachdem wir zu so viel höheren und vollkommeneren Genüssen durchgedrungen waren.

Wir hielten Wort und wochenlang überwanden wir Tag für Tag die Hindernisse des Wegs, der uns allmählich so vertraut wurde, daß wir ihn auch im Schlafwandel zurückgelegt hätten.

Darüber war der Sommer vorgeschritten, duftige bunte Kleider und Sonnenschirme von den wunderbarsten Formen und Farben tauchten schmetterlingsartig in den engen düsteren Gäßchen von San Terenzo auf und blinkten lustig von der Hügelstraße von Lerici herüber, denn jetzt war es auch „drüben“ so voll geworden, daß beide Orte keinen Grund mehr hatten, einander um ihre Badegäste zu beneiden.

Junge Mädchen im Matrosenkostüm, den niedern Strohhut auf den schwarzen hängenden Flechten, steuern geschickt ihre Kähne zwischen den anlandenden Dampfbooten durch, Herren im Badekostüm, gestreift wie Zebras, stürzen sich vom Hafendamm kopfüber in die Fluth, neugierige Fremde erklimmen das alte Kastell und lassen sich von der gutmüthigen drei Mann starken Besatzung das mächtige, den Golf beherrschende Teleskop richten, um drüben auf dem Quai von Lerici, der in einen Korso verwandelt ist, die Damenwelt zu beobachten.

Und richtig, am 15. Juni eröffnet auch der „Principe“ nach Brauch und Herkommen mit einem Festkonzert seine fertige Bretterbude, die er auf den poetischen Namen „Amphitrite“ getauft hat.

Er hat allen Grund, auf sein diesjähriges Werk stolz zu sein, die Pläne, über die er so lang am Ufer brütend gesonnen hat, liegen jetzt verwirklicht vor aller Augen. Der langen Vorderreihe von Badekabinen mit den hohen vom Wellenstoß erschütterten Wassertreppen hat er einen luftiggebauten Tanzsaal angehängt, den eine Reihe Petroleumlampen und rothe Baumwollgehänge an den Innenwänden zieren. Die unvermeidliche Drehorgel läßt ihre ohrenzerreißenden Töne vernehmen, nach denen sich schon einige tanzlustige Paare drehen, und am Schenktisch wird ein abscheuliches Bier verabreicht. Aber mit Kopfschütteln und mit Vorwurfsblicken, als verstehe er die Welt nicht mehr, sah uns der „Principe“ nach, als wir auch an diesem bedeutungsvollen Tage an seinem Wunderbau vorüber nach der Vallata wanderten.

Doch er sollte in der Folge noch mehr Anlaß zum Kopfschütteln und zu Vorwurfsblicken bekommen, da ihm mit einem Male die Hälfte der Badekabinen leer blieb. Die Ursache stellte sich bald heraus, als wir an einem der nächsten Tage bei unserer Ankunft in der Vallata die Felsennischen durch fremde Badetücher verhangen fanden.

Andere waren in unsere Fußstapfen getreten und hatten uns den unvergleichlichen Badeplatz nachentdeckt.

Doch dies kümmerte uns vorerst nicht viel.

Der Strand war lang genug, daß man sich gegenseitig aus dem Wege bleiben konnte, und bot noch andere natürliche Schlupfwinkel, die sich mit wenig Kunst in leidliche Badehütten verwandeln ließen. Indeß auch von diesen Stellen wurden wir mehr und mehr durch die nachrückende Kulturwelt verdrängt, wie es ja zu gehen pflegt, daß die ersten Entdecker eines neuen Landstrichs sich bald ihrer Nachfolger nicht mehr zu erwehren vermögen.

Und immer finsterer blickte der „Principe“ uns nach, wenn wir an seinen Pfahlbauten vorüber den Klippenweg einschlugen, denn stetig mehrte sich die Zahl der Ueberläufer aus seinem Lager, und es war bereits in San Terenzo ein öffentliches Geheimniß, daß der „Principe“ Feuer und Flamme gegen uns war.

Eines Morgens, als ich eben die Felsenstufen hinunter steigen wollte, die nach der Marina, dem sandigen Hafenplatz, führen, kam mir Giacomino barfuß, mit bis an die Kniee aufgeschlagenen Beinkleidern und nassem Tauwerk in den Händen entgegen und rief:

„Wohin wollen Sie? Das Meer ist ja in den Straßen! Haben Sie denn den Sturm nicht gehört? Das brüllte die ganze Nacht und schlug an den Quai wie ein Raubthier, das an den Stangen seines Käfigs rüttelt!“

Ich mußte bekennen, daß ich den ganzen großen Aufruhr verschlafen hatte.

Als ich um die Felsenecke bog, bot sich mir ein überraschender Anblick.

Die Marina war vom Meer völlig verschlungen, die Boote, die Tags zuvor an der sanften Böschung hoch ins Trockene hinaufgezogen worden waren, standen fußtief im Wasser, die Fluth leckte bis an die Stufen meiner Felsentreppe und drang bei den niedriger stehenden Häusern in die Thüren ein. Ein paar Männer patschten mit hoch aufgestülpten Beinkeidern im Wasser umher und fischten Stricke, Bretter und allerlei Geräthschaften zusammen, die da herrenlos einhertrieben. Sonst war der kleine Ort wie ausgestorben, weil die meisten Badegäste nicht zu den Hausthüren herauskonnten.

Doch nein, nicht ganz ausgestorben, denn drüben auf dem Quai steht Clelia in scharlachrothem Kleid mit Sonnenschirm von derselben Farbe und winkt und ruft zu mir herüber. Was sie spricht, kann ich zwar vor dem Getöse des Wassers nicht [367] verstehen, aber ich folge der Richtung ihrer Hand, die nach dem Meere hinausdeutet, und sehe dort ein riesiges dunkles Etwas wie einen Walfisch auf der Fläche treiben und sich mit den lächerlichsten Bewegungen hin und her drehen und wälzen. Bald lag es unter Wasser und schien zu versinken, bald bäumte es sich wie von einem Peitschenhieb getroffen hoch auf und reckte einen halbabgelösten Balken wie einen Riesenarm zum Himmel, dann legte es sich auf die Flanke und entblößte trauervoll eine eisenbeschlagene Bretterwand. Jetzt überschlug es sich plötzlich und streckte, auf dem Rücken liegend, eine hölzerne Treppe in die Luft.

Giacomino stand lachend neben mir.

„Das ist eine von den neuen Kabinen des ‚Principe‘,“ sagte er. „Der Mann ist ganz außer sich, er schwört, Sie hätten sein Kasino verhext und ihm alles Glück fortgetragen.“

Giacomino, der menschenfreundliche Giacomino, macht sich über das Unglück seines Nächsten lustig! Das brächte meine ganze Psychologie ins Wanken, wenn mir nicht noch rechtzeitig einfiele, daß der „Principe“ aus Lerici ist.

Als er noch sprach, tönte ein Schrei vom Quai herüber. Eine Welle, größer und stärker als die übrigen, hatte sich über den Hafendamm bis vor die Thür des Apothekers gestürzt und unterwegs an der armen Signora Clelia und ihrem nagelneuen Kleide ihr Müthchen gekühlt.

Nun war für die nächste Zeit nicht mehr ans Baden zu denken. Der „Principe“ hatte seine Kabinen geschlossen und die Wassertreppen hoch hinaufgezogen, damit sie ihm nicht von der Fluth zertrümmert würden. Desto weiter hatte er aber die gastlichen Thüren seines Kasinos aufgethan, und der gut gesinnte Theil der Badegesellschaft, das heißt diejenigen, die ihr Abonnement bezahlt hatten und ihre Bäder in der „Amphitrite“ nahmen, verbrachte dort die Nachmittage, die Damen mit bunten Stickarbeiten beschäftigt, die Herren rauchend und Zeitungen lesend oder an dem neu eingerichteten Dominotisch. Abends wurde zum Schein der qualmenden Petroleumlampen getanzt und das Gequiekse der Drehorgel übertönte oft noch die Donnerstimme der Wogen.

Daß wir beide, Clelia und ich, uns wie die verstoßenen Engel an dem Thore dieses Eden vorüberdrückten, versteht sich von selbst.

Doch solche Vereinsamung vermochte uns nicht einzuschüchtern, und der erste klare Sonnenschein, der wieder über San Terenzo aufging, sah uns auch schon unterwegs nach der Vallata. Heute mußten wir sogar unser Badezeug selber tragen, denn Oscarino war nirgends zu finden.

Und siehe, da stand auch der „Principe“ wieder unter seinem Kasino. Er grüßte tiefer als sonst, indem er uns mit einem feierlichen „buon bagno!“ ein gesegnetes Bad wünschte. Täuschte ich mich oder sah ich etwas wie stille Schadenfreude um seine Mundwinkel zucken?

Allein kaum hatten wir ein paar Schritte längs der Mauer auf dem schmalen vom Meer beleckten Sandstreifen gemacht, als wir stehen blieben und uns mit zweifelnden Blicken ansahen. Zwischen Sand und Kies sickerte Wasser hervor und durchfeuchtete unser Schuhwerk. Und doch war dies die trockenste Stelle; sobald sich der Boden ein wenig senkte, vielleicht schon hinter der nächsten Mauerecke, mußte die Nässe sich vermehren.

Wäre nur ein Boot erschienen, um uns mitzunehmen, mit ein paar Ruderschlägen hätten wir die Vallata erreicht.

Aber alle Fahrzeuge sind auf hoher See, denn nach solchen Sturmtagen gehen die Bewohner der Tiefe am leichtesten ins Netz, und am fernsten Saume des Horizonts blähen sich in Reih und Glied Dutzende und Dutzende milchweiß schimmernder Segel.

Inzwischen suchte ich das wankende Gemüth der Signora Clelia zu stärken, indem ich ihr vorstellte, wie beschämend ein Rückzug für uns wäre, denn unter der Thür des Kasinos erwartete uns unfehlbar der „Principe“, und er würde sich’s nicht nehmen lassen, im Vorbeigehen zu fragen, ob das Bad erquickend gewesen sei.

Sprungweise mußten wir uns vorwärtsbewegen, indem wir die breitesten und trockensten Steine auswählten; aber immer nässer wurde der Pfad, so daß uns nichts mehr übrig blieb, als nach Landesbrauch Schuhe und Strümpfe abzustreifen und bis zu der Loggia des alten Maccaranipalastes zu waten. Jenseits lag ja eine Strecke festen Landes, mit Kiesgeröll beworfen, welche zu den Klippen führte, und dann waren wir in solcher Höhe über dem Meeresspiegel, daß uns das Wasser nichts mehr anhaben konnte.

Also schnell einen forschenden Blick in die Runde, der uns überzeugt, daß wir allein sind mit Luft und Meer und mit den Vögeln des Himmels, die jenseit der Mauern zwitschern. Signora Clelia ergiebt sich lachend ins Unvermeidliche, wir entledigen uns beide der Fußbekleidung und waten mit geschürzten Kleidern vorwärts.

Indessen welch ein Marterweg war dies! Clelia jammerte laut auf, als sie mit den zarten Füßchen auf die groben Kieselsteine trat, und wäre ohne meine Hilfe zweimal geradezu ins Wasser gestürzt.

Und dabei stach die Sonne, gegen die unsere großen Strohhüte nur mangelhaften Schutz gewährten, mit voller Juligluth herunter. Wir dankten Gott, als wir endlich die geschundenen Sohlen auf die Pflastersteine der Veranda setzten.

Aber ach, jetzt konnten wir erst sehen, daß das Stück Festland, das sonst hier zwischen dem Meer und der zurücktretenden Parkmauer lag, vom Wasser aufgesogen war, – das Meer umspülte heute selbst die Stufen der Veranda. Deshalb also waren wir keiner Seele auf dem ganzen Weg begegnet! Und nun glaubte ich auch zu verstehen, weshalb uns der „Principe“ so höhnisch nachgelächelt hatte.

Ueber unseren Rückzug will ich schweigen, er hat sich auf lange Zeit in unsere Erinnerung schmerzlich eingeprägt.

Die Sonne, die unterdessen ein gut Stück höher gestiegen war, brannte immer stärker, das Wasser, das um diese Stunde noch nicht durchheizt ist, glitzerte so verlockend kühl, und dort stand richtig noch der „Principe“, der unsere Rückkehr abgewartet hatte, und grinste uns von weitem entgegen. Nein, diese Miene war nicht zu ertragen, das sagte selbst Clelia trotz der geschundenen Füße.

Wir hatten jetzt die Wahl, ob wir für heute und so lange der hohe Wasserstand anhielt, auf das Bad verzichten oder beim „Principe“ zu Kreuz kriechen wollten.

Indeß, es blieb noch eine dritte Möglichkeit; ich hätte sie freilich nicht vorzuschlagen gewagt, aber der Anstoß ging von Clelia [368] selber aus. Es stand uns ja noch der Weg über die Höhe offen, der zwar steil und in der Hitze beschwerlich war, aber unfehlbar ans Ziel führte. So eilten wir lachend und scherzend, als ob unser Vergnügen durch die nassen Schuhe noch vermehrt sei, zu der gemauerten Straße zurück und wandten uns vor den Augen des „Principe“, der uns beharrlich nachblickte, dem Solaro zu.

Ich bat heute der Signora im stillen den Vorwurf der Weichlichkeit ab, so wacker hielt sie sich auf dem beschwerlichen Weg. Und wenn sie auch oft schwer athmend stehen blieb und sich mit dem bunten seidenen Tüchlein die Stirn wischte, so kam doch keine Klage über ihre Lippen. Endlich hatten wir die Höhe der Marigola erreicht und hier zweigte unsere Straße rechts um die Ecke nach dem Walde ab. Nur wenige ebene Schritte an der Besitzung der Maccarani vorüber, dann ging es bergab eben so steil, wie wir heraufgeklommen waren, aber die Kühle des Eichen- und Olivendickichts empfing uns hier und von unten wehte uns die Seebrise in die erhitzten Gesichter. Jäh abfallend führte der Weg am Rande eines ausgetrockneten Waldbachs hin, der sich ein tiefes Bett durch das Gehölz gerissen hatte und bald schimmerte es tiefblau herauf – ein Jubelruf grüßte den Anblick und unten standen wir auf dem Sande des langen halbmondförmigen Gestades.

Einen schöneren Tag als diesen habe ich nie am Strande gesehen. So neugeboren, so ahnungsvoll und erinnerungslos blickte das Meer, als ob sich nicht schon Tausende und Tausende von Geschlechtern in seinem Auge gespiegelt hätten, als ob noch wie dazumal am Schöpfungsmorgen der Geist Gottes über den Wassern schwebte. Der Tino und die Palmaria sahen wie frisch gewaschen aus den Fluthen herüber, von Lerici tönte sonntägliches Glockengeläute. Die Vormittagssonne wob über den grünlichen Spiegel ein Netz von Strahlen, das in goldenen Maschen auf den Sandwellen des Grundes flimmerte. Nach diesem Netze haschen, es zerreißen und die zitternden Strahlen ihr zertrenntes Gewebe wieder herstellen sehen, dann uns gegenseitig mit Schaum überspritzen oder wetteifernd nach einem bunten Kiesel auf den Grund tauchen – über diesem kindlichen Spiel müssen uns Stunden vergangen sein. Signora Clelia vergaß selbst die immerwache Sorge um ihr schönes Haar, sie ließ die entfesselten braunen Flechten im Wasser spielen und tauchte wie ein Delphin. Und rings umher die tiefste Einsamkeit, kaum daß dann und wann verlorenes Hundegebell von Lerici herübertönte. Die Villa Orlandini, deren Parkthor auf unsern Strand herausgeht, ist dieses Jahr unbewohnt geblieben, da sie von einem Amerikaner gemiethet, aber nicht bezogen wurde; also auch von dieser Seite her ist keine Störung zu fürchten. Die italienische Gesellschaft, die uns sonst unsern Badeplatz streitig machte, hält sich fern, natürlich im Aberglauben, daß nach Sturm- und Regentagen das Seebad durch das hinzugekommene Süßwasser schädlich sei. Somit sind wir für heute unbestrittene Herrinnen des Gewässers.

Und dann nach dem Bade das sonnige, wonnige Lagern auf dem weichen durchglühten Sand! In den weiten weißen Mantel gehüllt, den breiten Hut über das Gesicht gezogen, sich mumienhaft einbetten im Sande, mit einem freigebliebenen Arm immer neue Schichten heißen Sandes über sich thürmen, bis die ganze Gestalt unter einem Sandhügel verschwunden ist, dann die Last mit einem Mal abwerfen und den Bau von neuem beginnen – aus den Ritzen des Hutes, durch welche goldene Strahlen schießen, hinaufblinzeln in das satte ungebrochene Blau, das uns oben, unten, allgegenwärtig umfängt, und endlich eingelullt von dem endlosen eintönigen Cikadengeschmetter, gedankenlos, selbstverloren ins All hinüberdämmern, sich nicht mehr als Mensch fühlen, sondern als ein beseeltes Stück der umgebenden Natur, als einen Wassertropfen, der zu der unendlichen Fluth gehört, als ein Sandkorn im weiten Sandgefilde! –

Aus diesem seligen Behagen riß uns jählings eine rauhe Stimme, die in barschem Tone ein Almosen heischte.

Entsetzt fuhren wir beide in die Höhe. Vor uns stand ein stämmiger Kerl von abschreckender Häßlichkeit mit einem dicken knorrigen Stock, in Lumpen von jener seltsamen gelblich braunen Farbe gehüllt, die in aller Herren Ländern die eigentliche Bettlerlivree zu sein scheint. Auf mächtigen Augenknochen standen wahre Buschwälder von Augenbrauen, die schwarzen dicken Haare hingen in einem Büschel aus dem durchlöcherten Kopf eines breiten Filzhutes heraus, von dem eigentlich nichts vorhanden war als die Krämpe.

Noch starrte ich ihn fassungslos an, denn ich glaubte mich im Bann eines wilden Traumes, da tönte hinter mir eine andere Stimme: „Un soldo, Signora!“ – und zurückfahrend sah ich einen zweiten Kerl mit Knotenstock, womöglich noch unheimlicher als der erste, denn sein Gesicht war mit Pockennarben zerackert und über dem rechten Auge trug er einen schwarzen Wachstuchfleck.

Ich suchte mein Entsetzen so gut wie möglich zu verbergen und antwortete mit erkünsteltem Unwillen:

„Was fällt Euch ein? Glaubt Ihr denn, man nehme die Börse mit ins Bad?“

Signora Clelia drängte sich an mich heran und suchte ihr goldenes Armband in den Falten des Bademantels zu verbergen; es war an ihrem linken Arm angeschmiedet und hätte ihr nur mit diesem selbst entrissen werden können.

Da tönte es aufs neue mit dumpfer Stimme:

„Un pezzo di pane, Signora!“ Ein Stück Brot!“

Unhörbar war ein Dritter durch das Gebüsch herangeschlichen, schwarz und fürchterlich wie die ersten, ein Kerl, dem der Hunger aus dem fahlen, hagern Gesicht sah.

Wuchsen die Unholde aus dem Boden? War das ganze Zuchthaus los? Da stand ein Vierter – und noch kein Ende.

Sie schlossen einen Kreis um uns, sagten aber kein Wort mehr. So standen wir uns gegenüber, wie lange, weiß ich selbst nicht, doch war es lange genug, um uns diese Gestalten auf ewig ins Gedächtniß zu prägen, die scheußlichen Banditengesichter, die kurzen, nur bis zu den Knieen reichenden, zerschlissenen Beinkleider, unter denen die sehnigen Beine und bloßen Füße zum Vorschein kamen, die grotesken Filzhüte, die in der Farbe an fetten Humus erinnerten, auf dem eben Moos zu keimen beginnt.

Unsere Blicke flogen rasch nach allen Seiten, ob nirgends Hilfe zu finden wäre. Die schöne Einsamkeit, die wir noch soeben gepriesen hatten, war jetzt unsere schrecklichste Feindin geworden. Auf der Fahrstraße von Lerici war keine Seele zu sehen, der Klippenweg nach San Terenzo war durch das Wasser abgeschnitten, das Thor der Villa Orlandini blieb verschlossen.

[382] Endlich löste sich die qualvolle Spannung. Die Kerle wurden des Gegenüberstehens und Anstarrens müde und kehrten sich brummend ab, dem Festland zu, nachdem der eine noch einmal ganz nah herangeschlichen war und nach Clelias goldenem Reif geschielt hatte. Sie entfernten sich ein paar Schritte, blieben dann nochmals stehen, scheue, finstere Blicke auf uns werfend – und jetzt – ja, unzweifelhaft, sie zogen sich zurück, sie gingen einer um den andern auf den Waldweg zu, den Wildbach hinauf und verschwanden allmählich hinter der Biegung.

Sobald der Bann von uns genommen war, flohen wir eilends nach der Felsennische, und ich bin gewiß, Signora Clelia hat in ihrem Leben noch nie so rasch Toilette gemacht wie an diesem Morgen.

Jetzt erst überlegten wir ruhig, was zu thun sei. Daß wir nicht allein hinter den Banditen her nach San Terenzo zurückkehren konnten, das stand uns sogleich fest. Hier am Strand waren sie doch durch die Nähe der Fahrstraße, vielleicht auch durch das mögliche Auftauchen eines Nachens in Schach gehalten; sollten wir ihnen jetzt wehrlos in das abgelegene Dunkel des Waldwegs folgen? Sollten wir nicht lieber den Weg nach Lerici einschlagen, um dort Hilfe zu holen? Dem aber stand ein anderer Gedanke entgegen. Wir vermutheten nämlich, daß die Unholde eben von dort her gekommen seien, daß auf der einsamen Straße noch andere von derselben Bande lauern möchten.

Unschlüssig setzten wir uns auf die Holzbank vor der Villa Orlandini und warteten, indem wir unsre gelösten Haare trocknen ließen.

Die Sonne stand jetzt über unserem Scheitel, jenes riefe, feierliche Schweigen war eingetreten, das um die Mittagszeit am Meere zu herrschen pflegt. Selbst die Vögel im Park der Maccarani waren verstummt, kein Hundegebell ließ sich mehr vernehmen, nur das leise Klatschen der steigenden Fluth am Ufer.

Endlich wurde auf der Fahrstraße über uns in weiter Ferne eine Gestalt sichtbar; wir verfolgten sie mit gespannten Blicken, sie kam näher, es war ein Mann, der rüstig ausschritt und offenbar San Terenzo zustrebte. Jetzt kam er schon den Abhang herunter und wollte, mit raschem Gruß an uns vorübereilend, den Klippenweg einschlagen. Es war ein Mann in mittleren Jahren, augenscheinlich auch den mittleren Ständen angehörig und von mittlerer Statur, gleichviel, er war ein Mensch von civilisiertem, vertrauenerweckendem Aussehen und trug einen Bambusstock, der zwar keinen Vergleich aushielt mit den Urwaldsknüppeln unserer Banditen, aber immerhin ein Stock war.

Wir riefen ihm zu, daß der Klippenweg des Hochwassers wegen nicht gangbar sei, erzählten unser Abenteuer und baten ihn, uns durch den Waldweg nach San Terenzo zu begleiten.

Der Mann hörte unsere Erzählung mit etwas ungläubigem Lächeln an, war jedoch gern bereit, uns zu begleiten, unser Weg sei ohnehin der seinige.

Während wir langsam den Waldweg hinaufstiegen, unser Beschützer voran und wir ihm auf dem Fuße folgend, entspann sich zwischen mir und Clelia ein leise geführter Streit über die Anzahl unsrer Banditen, da ich dieselbe aufs Gerathewohl auf fünf angegeben hatte, Clelia aber sich nur an vier erinnern konnte. Doch weil ich meiner Sache nicht gewiß war, ließ ich mich leicht zu ihrer Ansicht bekehren.

Als wir um den Waldweg bogen, standen wir alle drei einen Augenblick vor Bestürzung still. Auf einem Baumstumpf saß einer unsrer Briganten, beide Hände um den Stock geschlungen, als habe er auf uns gewartet. Unser Begleiter schritt jedoch vorwärts und wir folgten.

Als wir nahe kamen, erhob sich der Unhold, riß sich den zerlöcherten Hut vom Kopf und grüßte tief und ironisch. Hinter einem Baum trat ein zweiter hervor und bekomplimentierte uns gleichfalls, doch ließen sie uns unangefochten vorüber und folgten erst aus einiger Entfernung.

„Wären wir nur schon bei der Marigola,“ seufzte Clelia, „dort wohnen doch wieder Menschen!“

Unser Begleiter machte ein gleichmüthiges Gesicht und pfiff leise vor sich hin, doch fühlte ich, daß auch ihm nicht geheuer bei der Sache war. Die Befriedigung, ihn so für seinen Unglauben gestraft zu sehen, half mir fast über die eigene Furcht hinweg.

Endlich war die Marigola erreicht, doch, o Schreck! – vor dem sonst immer offenen Hoftor, das nur heute gerade geschlossen war, stand wieder einer von unsern Strolchen. Dieser grüßte nicht, sondern starrte uns nur auf unverschämte Weise ins Gesicht. Und als wir um die Ecke bogen, sahen wir auch den vierten, der langsam vor uns her den Solaro hinunter humpelte.

Gleichviel, wir waren jetzt in der Nähe menschlicher Wohnstätten, da und dort stand schon ein Häuschen am Wege, bald kam das Dörfchen Bagnola in Sicht, und von hier aus waren es nur noch einige hundert Schritte nach San Terenzo. Wohlbehalten kamen wir an, doch erst in der Nähe des Orts verloren wir unsre unheimliche Gesellschaft aus den Augen.

Im Umsehen lief unser Abenteuer von Mund zu Munde. Ueberall wurden wir angehalten, befragt, man bedauerte nur, daß heute nicht der „Tag der Carabinieri“ sei, sonst wollte man der Strolche gleich habhaft werden und ihnen den Respekt vor fremden Badegästen beibringen.

Giacomino kam sehr niedergeschlagen und sagte:

„Es war mir schon lang nicht wohl bei Ihrem Umherstreifen [383] Die Weiber von San Terenzo trauen sich seit Wochen nicht mehr allein aufs Feld zum Grasschneiden wegen der Strolche.“

„So?“ sagte ich gedehnt. „Also wußtet Ihr von ihnen?“

„Ich wußte nur, daß vor einiger Zeit zwei Sträflinge aus dem Zuchthaus von Carrara ausgebrochen sind und sich in hiesiger Gegend umhertreiben sollen.“

„Beim Himmel!“ sagte ich, „warum habt Ihr mich denn nicht gewarnt?“

Der alte Seemann sah mich mit seinen ehrlichen blauen Augen an und sagte ganz harmlos:

„Ja, wenn wir die Badegäste verscheuchen, wovon sollen dann die armen Leute in San Terenzo leben?“

„Auch du, Brutus!“ dachte ich.

Wer dagegen glühende Kohlen auf unsre Häupter sammelte, das war der „Principe“.

Mitfühlend trat er zu der Gruppe heran und sagte:

„Ja, Giacomino wäre verpflichtet gewesen, Sie zu warnen; ich habe es nicht gekonnt. Sie hätten ja sonst glauben können, ich spreche aus Eigennutz.“

Mit der höflichsten Handbewegung lud er uns ein, sein neues Etablissement zu besichtigen. Er führte uns durch seine Cabinen und ging bereitwilligst auf alle Verbesserungen ein, die Clelia vorschlug, wie Spiegel und kleine Fußteppiche, und als wir das Casino verließen, hatten wir beide unsere Karten für den Rest der Badezeit in der Tasche. Von da an badeten wir täglich dort, auch die andern Ueberläufer kehrten zurück und der „Principe“ hielt die ganze Gesellschaft wieder in seinen Vaterarmen.

Noch muß ich berichten, daß ich abends beim Nachhausekommen den Schlosser fand, der soeben einen neuen Riegel an die Hausthür nagelte.

So oft wir aber künftig unser Abenteuer erzählten, entstand zwischen mir und Clelia ein kleiner Streit, ob es eigentlich vier oder fünf Spitzbuben gewesen seien, und seltsamerweise war es jetzt immer Clelia, die auf der letzteren Lesart beharrte und sich dabei auf meine frühere Aussage berief. Ein skeptischer Maler aber, der uns eine noch größere Phantasie zutraute, als wir in Wahrheit besaßen, nannte die Strolche schlechtweg frei nach Falstaff unsre „elf Steifleinenen.“

Die Schutzmannschaft von Lerici war natürlich gleich Tags darauf bei mir und Clelia erschienen, um sich den Vorfall eingehend berichten zu lassen. Von da an sahen wir auch die blanken Uniformen eine Zeit lang täglich in den Gassen von San Terenzo auftauchen. Die Organe der Sicherheit schienen nachträglich ihre ganze Wachsamkeit auf uns vereinigen zu wollen, und wären die „von drüben“ wirklich sittlich so nieder veranlagt gewesen, wie es die öffentliche Meinung in San Terenzo annahm, so hätten sie jetzt vollauf Gelegenheit gehabt, ihren verderblichen Neigungen die Zügel schießen zu lassen. Indessen wurden keine Fälle von Piraterie ruchbar, aber auch von unsern Briganten verlautete nichts weiter.

Der Eifer der Carabinieri mußte bald abgekühlt sein, denn die weißen Federbüsche waren schon nach kurzem nicht mehr zu sehen.

Das ganze Abenteuer schien längst in Vergessenheit begraben, als ich eines Tages aus dem Casino geräuschvoll zu der Festnahme meiner Briganten beglückwünscht wurde.

Noch desselben Tages kamen auch die beiden Braven von Lerici herüber, glühend vor Siegeswonne, und berichteten ihre Geschichte, die ziemlich einfach war.

Als sie sich überzeugt hatten, daß ihre Streifereien in Uniform nutzlos seien, griffen sie zur List. In Verkleidungen, die sie, um Aufsehen zu vermeiden, täglich wechselten, durchforschten sie die Gegend lange vergeblich. Man nahm bereits an, daß sich die beiden Sträflinge ins Ligurische hinüber gezogen hätten, da kamen unsre zwei Carabinieri eines Tags auf den Einfall, als Schnitterinnen das lange Gras in der Vallata zu mähen, einen Korb mit Eßwaaren neben sich. Kaum waren sie am Werk, so brachen aus dem Rohrwäldchen hervor zwei zerlumpte, verwilderte Gestalten, mit langen Messern in den Gürteln und Knotenstöcken in den Händen, und versicherten sich ohne viel Umstände des Eßkorbs. Die vermeintlichen Weiber thaten sehr erschrocken, bis sie ihre Revolver aus den weiten Röcken gezogen hatten, dann riefen sie durch einen Pfiff in die Hände zwei in der Nähe aufgestellte Kameraden herbei und bemächtigten sich der Angreifer, die gleich durch Handschellen festgemacht wurden. Als die Strolche gesäubert und rasirt waren, konnte mit Hilfe der im Besitz der Behörde befindlichen Photographien mit Leichtigkeit bewiesen werden, wer sie waren.

„Es thut mir nur leid, daß ich sie Ihnen nicht vorstellen kann,“ fügte der höfliche Brigadier seiner Erzählung hinzu.

Ich dankte lachend für so viel Aufmerksamkeit, sah aber wohl, daß der Mann noch etwas auf dem Herzen hatte.

Nach einigem Zögern begann er:

„Wir hatten infolge Ihrer Begegnung in der Vallata den Befehl, auf fünf Briganten zu fahnden. Nun sind jedoch aus dem Zuchthaus von Carrara nur zwei entsprungen, und nur von diesen zweien haben wir das Signalement erhalten. Diese sind denn auch festgenommen und überführt, wiewohl sie den Ueberfall in der Vallata hartnäckig leugnen. Wo aber wären die drei andern hingekommen?“

„Ja, das frage ich auch.“

„Sind es denn wirklich fünf gewesen?“ fragte er mit einem kaum merklichen Lächeln. „Sollten Sie sich nicht getäuscht haben? Die Damen waren ja ohnehin über die Zahl nicht einig.“

„Herr Brigadier,“ sagte ich ernst, „ich kann auf vier Briganten einen Eid ablegen. Den fünften lasse ich dahingestellt, denn es könnte sein, daß ich aus Schreck einen doppelt gesehen hätte.“

„Könnten Sie nicht auch zwei doppelt gesehen haben?“

„Nimmermehr!“ entgegnete ich.

Signora Clelia, an die man sich gleichfalls mit der Frage wandte, wurde sehr unmuthig, sie erinnerte sich jetzt ganz genau nicht nur der vier, sondern auch des fünften, den sie eben so deutlich beschrieb wie seine Kameraden, so daß ich über dieser Sicherheit selbst wieder irre wurde und mich am Ende ihrer Aussage anschloß.

Der Brigadier ließ die Frage eilig fallen, er wollte die Signora offenbar durch keinen weiteren Widerspruch reizen, damit die Zahl der Briganten sich nicht noch vermehre.

Die Nachforschungen wurden aufs neue betrieben, doch ohne weiteres Ergebniß. Der größere Theil der Badegesellschaft neigte nun natürlich zu der Ansicht, daß wir in jener Schreckensstunde unter dem Bann einer optischen Täuschung gestanden hätten; wir mußten uns manche Neckereien gefallen lassen und besonders der skeptische Maler versetzte Signora Clelia in hellen Zorn, weil er uns in seinem trockenen Ton dringend rieth, betreffs der Zahl einen Vergleich mit den Wächtern des Gesetzes zu schließen – es sei ja schon Triumph genug, daß jetzt zwei wirkliche Banditen verbürgt und in die Annalen der Geschichte eingetragen seien. – –

Er gab sich für ein Original, dieser Maler, der seinen deutschen Namen Georg Maurer ins Italienische übersetzt hatte und sich jetzt „Giorgio Mauro“ schrieb. Hoch oben im Gebirge hatte er sich in einem alten baufälligen Thurm einquartiert und kam nur, wenn ihn der Hunger trieb, nach Lerici oder San Terenzo herunter; den Rest der Zeit verbrachte er in seiner Einsiedelei – wo er vom Meer nichts sah als einen Streifen am Horizont – unter Kühen, Ziegen und Farbentöpfen. Und das nur der Badegesellschaft wegen, die er haßte, ohne sie zu kennen, denn er behauptete, sie hätte dem Golf schon seine besten Reize wegbewundert, die darum von Jahr zu Jahr weniger würden. Nie malte er einen Gegenstand, der schon andern zum Modell gedient hatte, und ebensowenig konnte er es leiden, wenn ihm jemand bei der Arbeit zusah, weil er versicherte, daß der Genius alsbald von ihm weiche, wenn seine Heimlichkeit gestört werde, und daß dann von Stund an kein Segen mehr bei seinem Werk sei.

Darum wunderten wir uns ein wenig, als wir eines Tages von ihm aufgefordert wurden, ihn in seiner Klause zu besuchen und sein neuestes Bild in Augenschein zu nehmen. Er sei durch Giacominos Erzählung von dem Briganten Giuseppe Suffardi angeregt worden, den Ueberfall einer Postkutsche auf der Magrabrücke zu malen, und habe das Bild für die römische Ausstellung bestimmt. Da wir im Brigantenfache Sachverständige seien, fügte er lächelnd hinzu, halte er große Stücke auf unser Urtheil. Ich sagte ihm auch, soweit es von mir abhing, gern unsern Besuch zu; schwieriger war es, Signora Clelia für die Partie zu gewinnen, die, seitdem sie nicht mehr jeden Tag über Geröll und Klippen nach der Vallata zu pilgern brauchte, gleich wieder in ihre alten trägen Gewohnheiten zurückgefallen war, sich um neun Uhr erhob und gegen Mittag mit ihrer ersten Toilette fertig wurde.

Doch ich fand den Weg zu ihrem Herzen, denn ich erinnerte mich, daß ich in ihrem Zimmer ein niedliches mitgebrachtes Jagdgewehr gesehen hatte, das vorjährige Geschenk ihres Mannes, ein unschuldiges Spielzeug, das bis beute noch keinen Tropfen Blut vergossen hat. Ein zierlicher Jagdanzug befand sich gleichfalls unter [384] ihrem Gepäck, denn das hübsche Köpfchen der Signora warf von Zeit zu Zeit phantastische Blasen auf, die der Gatte geschickt auf das unschädliche Gebiet der Toilette abzulenken verstand.

Ich redete ihr also ein, daß sie sich reizend ausnehmen müßte im kurzen grünen Jagdkleid, das kleine Filzhütchen auf dem Kopf, mit dem Gewehr auf der Schulter in den frischen Morgen hineinwandernd. Das zog; sie freute sich schon auf das halbe Dutzend Vögel, das sie schießen, und auf die Ueberraschung des Malers, wenn sie ihre blutige Beute aus der Jagdtasche hervorholen würde als Zugabe für den Frühstückstisch.

Als wir aber am andern Morgen zeitig aufbrechen wollten, fand sich’s, daß die Patronen fehlten, sie waren bei der Abreise vergessen worden. Indeß durch eine solche Kleinigkeit ließ sich Signora Clelia nicht in ihrem Jagdvergnügen stören – war doch der Schaden ganz auf seiten des Malers.

Büchse und Jagdtasche wurden also dem kleinen Oscarino umgehängt, der uns auch heute begleiten durfte. Die Signora war wirklich zum Entzücken hübsch in dem grünen, nur bis zu den Knöcheln reichenden Röckchen, dem weißen Westchen mit Goldverschnürung und den hohen Stiefelchen von rothem Leder. Sie wußte es auch und dieses Bewußtsein hielt sie kühl, wie hätte sie es sonst bei solcher Temperatur erträglich finden können in Tuchkleid und hohen Schnürstiefeln? Denn natürlich, die Sonne stand schon hoch, wir hatten ja mehr als eine Stunde über dem Suchen nach den Patronen verloren.

Oscarino ließ den Hahn der Büchse klappen und gab drei stumme Salutschüsse ab, als wir endlich das Thürmchen erreicht hatten.

Der Maler, der uns von weitem entgegengekommen war, führte uns unter einem Rebenspalier durch, das schon große Beeren zeigte; dahinter waren Stakete angebracht, an denen sich prächtige rothe Tomaten unten am Boden hinrankten. Wir traten in einen kühlen, gepflasterten Hof, wo unter einem mächtigen Feigenbaum ein paar Stühle aufgestellt waren. Der Maler zog einen der schwerbehangenen Aeste nieder, daß wir die appetitlichen Früchte brechen konnten.

„Das ist meine Küche, mein Speiseschrank und Eßtisch,“ sagte er, während wir uns mit Wonne an dem triefenden rothen Fleisch labten.

Auf der linken Seite des Gehöfts lag noch ein niedriges schuppenartiges Gebäude, wohl ursprünglich ein Stall, das aber jetzt einen höheren Beruf erfüllte. Im Vorbeigehen hatte sich mir nämlich durch das tiefgelegene Fenster, dessen Scheibe völlig ausgebrochen war, ein seltsamer Anblick geboten. Fast die Hälfte des Gelasses nahm ein rohgemauerter Herd mit großem schwarzen Kamin ein, worauf allerlei unerforschliche Gegenstände untergebracht waren, im leeren Raum befand sich ein mehrschläfriges Bett – jedenfalls die Lagerstätte einer ganzen Familie. Daneben saß mit dem Rücken gegen das Fenster ein Mann in wollenem Hemd, mit schwarzem wirren Haar, der einem schreienden Kind große Mengen Brei mit einem Holzlöffel in den Mund stopfte. Ein paar Ziegen spazierten frei durch das Zimmer.

Der Maler führte uns die Thurmtreppe hinauf in sein Atelier, ein hohes, fast leeres Zimmer mit Fenstern nach allen Seiten, wovon aber drei mit alten Shawls und Strohmatten verhängt waren. Eine Staffelei mit einem großen Stück Leinwand, das uns vorerst nur die Kehrseite zeigte, ein paar an die Wand gelehnte Bilder, gleichfalls mit dem Rücken nach dem Beschauer, ein Tischchen, worauf Pinsel und Palette lagen, das war die ganze Ausstattung, denn die Stühle hatte der Hausherr zu unserm Empfang in den Hof getragen.

Er nahm das Bild von der Staffelei, drehte es um und begann im Tone eines Cicerone:

„Hier sehen Sie ein Bild des berühmten Giorgio Mauro, darstellend den Ueberfall eines Postwagens auf der Magrabrücke durch den Briganten Giuseppe Suffardi –“

Er konnte nicht weiter reden, denn Clelia war mit einem Schrei zurückgeprallt.

„Um Gotteswillen! Sehen Sie doch, erkennen Sie ihn?“ rief sie, mich am Arm schüttelnd.

Ich trat nahe an das Bild heran und sagte, im höchsten Grad betreten: „Bei Gott, er ist’s!“

„Was soll das heißen? Wen haben Sie erkannt?“ fragte der Maler, auch seinerseits betroffen.

„Einen unsrer Briganten aus der Vallata,“ sagte ich, „hier der vorderste, der den Pferden in die Zügel fällt –“

Aber Clelia faßte den Künstler am Arm und rief außer sich:

„Reden Sie. Wie kommen Sie zu diesem Gesicht? Wer hat Ihnen zu dem Briganten Modell gestanden?“

„Um Gotteswillen, Signora, beruhigen Sie sich,“ beschwor der Maler. „Hier liegt ein Irrthum vor –“

„Keineswegs,“ sagte ich, „der Kerl ist zu gut getroffen: das sind die buschigen Brauen über den starken Augenknochen – und sehen Sie her – ich müßte lachen, wenn es nicht zu unheimlich wäre – hier ist sogar der durchlöcherte Hut, aus dem der wilde Haarbüschel hängt.“

„Aber das ist ja mein eigener Hut!“ betheuerte der Maler; „ich habe ihn mir zu dekorativen Zwecken so zugestutzt, und das mit dem Haarbüschel ist meine eigenste Erfindung.“

„Gleichviel,“ sagte ich, „wir müssen wissen, wer Ihnen Modell gestanden hat.“

„Nein, das wird zu arg,“ rief nun der Maler. „Mein Modell ist mein eigener Hauswirth, die ehrlichste Haut von der Welt. Er nennt zwar nichts sein eigen als dieses alte Gemäuer, eine Vigne und einen Ziegenstall, der ihm zugleich als Küche und Familienzimmer dient, aber sein Herz denkt nicht an solche Gaunerstreiche. – Hier kommt er übrigens soeben über den Hof! – Nicola! Nicola!“ rief er zum Fenster hinaus.

„Jesus Maria!“ schrie Clelia, „ich will ihn nicht sehen, ich habe noch genug von damals, – lassen Sie ihn nicht herein! – O Gott, in welche Mördergrube sind wir gefallen!“

Sie flatterte wie ein erschrockenes Vögelein in dem Thurmgemach umher, aber das Verbot kam zu spät.

Schon polterte es an der Thür und ein paar Sekunden darauf stand der Unhold vor uns. Er war es, vom Scheitel bis zur Zehe, der erste, der uns damals in der Vallata angeredet hatte. Mir lag noch der dumpfe Ton im Ohr, mit dem er mir „un soldo, Signora!“ zugeraunt hatte. Nur daß er in dem grauen Wollhemd mit Beinkleidern, die ihm zu den Knöcheln herabreichten, und mit Holzschuhen an den Füßen denn doch bei weitem vertrauenerweckender aussah als damals. Das straffe, in langen Strähnen herumhängende Haar und der verwilderte schwarze Bart waren freilich noch abschreckend genug, aber die Augen blickten jetzt mit gutmüthigem und respektvollem Ausdruck, während er grüßte und unter der Thüre auf Befehle wartend stehen blieb. Auch gab ihm die abgezogene rothe Zipfelmütze, die er in der Hand hielt, einen leisen Anflug von Komik, der ungemein ermuthigend auf uns wirkte.

[386] „Sagt, Nicola, habt Ihr diese Damen schon irgendwo gesehen?“

Unser Unhold stotterte ein verlegenes „Nein“, das aber so aufrichtig klang, daß ich sofort die Ueberzeugung gewann, er erkenne uns nicht.

Ich trat deshalb nahe auf ihn zu, blickte ihm fest in die Augen und sagte:

„Habt Ihr uns nicht vor sechs Wochen drunten in der Vallata, als wir im Bade waren, um ein Almosen angesprochen?“

„O Gott!“ rief er unbedacht, und ein Strahl des Erkennens flog über seine Züge. Er machte auch gar keinen Versuch mehr, zu leugnen, sondern drehte rathlos die Zipfelmütze in den Händen. Endlich stammelte er:

„Signora, ich bin ein guter Kerl – der Herr Maler kann es Ihnen bezeugen, daß ich ein guter Kerl bin, keiner Mücke thäte ich etwas zu leide – – und wäre es nicht, um dem ‚Principe‘, der mein Gevatter ist, einen Gefallen zu thun – wir sollten Sie ja auch nur ein wenig anbetteln, nichts weiter! – Ach, Signora, Sie werden doch einen Vater von fünf Kindern nicht ins Unglück bringen wollen!“

Während er sprach, sahen wir drei uns in die Gesichter. Es zuckte von verhaltenem Lachen um Clelias Mund, die sich abwandte und ans Fenster trat, um das Verhör nicht zu unterbrechen. Nur der Maler schien seinen fragenden Blicken nach den Zusammenhang nicht gleich begriffen zu haben.

„Also der ‚Principe‘ hat Euch zu diesem Streich angespornt?“ fragte ich ernst. „Wißt Ihr, welche Strafe auf dem Vagabundieren und Betteln steht?“

„Ach, Signora!“ jammerte der Mann.

„Was sagte Euch denn der ‚Principe‘?“ forschte ich weiter.

„Signora, ich will alles erzählen; er kam zu mir herauf, denn er bezieht den Ziegenkäs von mir. Da wollte er auch das Zimmer des Herrn Malers sehen und, neugierig wie er ist, dreht er das angefangene Bild auf der Staffelei um.“

„Nicola!“ rief hier der Maler empört, „Ihr wißt, daß ich niemand erlaube, meine angefangenen Bilder zu betrachten.“

„Verzeihen Sie, lieber Herr,“ sagte Nicola in neuem Schreck und schlenkerte seine Hand, als ob er sie verbrannt habe, während er unsicher von einem Bein aufs andere hüpfte. „Ich konnte nichts dafür, und er stellte das Bild auch gleich wieder hin. Sie müssen wissen, daß ich ihm noch ein Stück Geld schuldig bin von damals, als ich die Vigne kaufte – ich zahle ihm zwar regelmäßig den Zins, aber Sie wissen, wer Schulden hat, der ist kein freier Mann, er hätte mir ja die Summe kündigen können! – Also wie er mich da auf dem Bilde sieht, sagt er: ‚Nicola‘, sagt er, ‚so wie Ihr dasteht, könntet Ihr mir einen rechten Gefallen thun‘. – ‚Euch zu dienen‘, sage ich. – ‚Geht einen dieser Tage‘, sagt er, ‚in diesem Aufzug nach der Vallata, nehmt womöglich noch ein paar andere mit.‘ sagt er, ‚die eben so schön sind, und wenn Ihr dort jemand von der Badegesellschaft findet –‘“

Hier konnte Clelia nicht länger an sich halten, sie brach in ein lautes Gelächter aus, in das wir andern einstimmten, auch der entlarvte Räuber, der nun sah, daß das Wetter für ihn günstig war.

„Ich muß gestehen, Nicola, Ihr habt Eure Sache gut gemacht. Ihr saht wirklich einem Spitzbuben zum Verwechseln ähnlich.“

„Ich werde doch wissen, wie ein Brigant aussieht,“ meinte er jetzt, sich in die Brust werfend. „Ich habe nicht umsonst seinerzeit den Feldzug in der Basilikata mitgemacht. Wie viele habe ich da –!“ Er hob die Hände ans Gesicht, als lege er ein Gewehr an die Wange, und machte mit dem Zeigefinger die Bewegung des Abdrückens. – „Ja, fragen Sie nur den Herrn Kapitän unten in der Villa Petriccioli, der war mein Vorgesetzter.“

„Nun, Nicola, was hat Euch denn der ‚Principe‘ als Sündenlohn gegeben?“

„Jedem eine Cigarre, Signora,“ sagte der Mann. „Aber keine von der Regie – um ein solches Gewächs möchte kein Ehrenmann zur Hölle fahren – es waren geschmuggelte,“ setzte er mit strahlendem Gesicht hinzu.

Plötzlich fuhr Clelia mit einer heftigen Bewegung auf ihn zu, daß er fast erschrak.

„Wer begleitete Euch noch? Zu wie vielen waret Ihr?“

„Zwei Matrosen, die unterdessen wieder abgesegelt sind, und mein Schwager, der die Woche über im Arsenal von Spezia arbeitet.“

„Nun, Signor Mauro,“ sagte Clelia, „wenn Sie rechnen können, so rechnen Sie mir gütigst aus, wie viel Strolche es waren.“

„Ich denke, vier,“ entgegnete der Maler kleinlaut.

„Das meine ich auch,“ triumphierte Clelia. „Vier Briganten! Einen haben wir dazu gelogen.“

Der Mann hatte sich einen Augenblick entfernt und kam jetzt mit einer prächtigen Wassermelone zurück, dem einzigen, was sein Haus solchen Gästen anzubieten habe. Wir wollten danken, aber es lag ihm sehr am Herzen, daß wir wenigstens einen Bissen unter seinem Dach verzehren sollten.

Jedes von uns nahm ein Stück, was ihm eine sichtliche Beruhigung gewährte. Den Rest bekam Oscarino, der sich inzwischen mit dem ungeladenen Gewehr der Signora Clelia vergnügt hatte.

Der Heimweg war natürlich sehr heiter. Es hat wohl jederzeit etwas Beschämendes, wenn man eine Gefahr zwar nicht mannhaft, aber doch immerhin bestanden hat, das ganze Abenteuer sich hinterher in eine Posse auflösen zu sehen. Unsere Posse indessen hatte zum Trost eine ernsthafte Wirkung, waren doch durch sie zwei wirkliche Bösewichter ins Garn getrieben worden.

Giacomino wollte zuerst unsrer Mittheilung keinen rechten Glauben schenken. Als er aber nicht länger zweifeln konnte, sagte er achselzuckend:

„Was wollen Sie, wenn einer von Lerici ist, so kann man ihm alles zutrauen.“

„Ja,“ sagte Clelia zu mir gewandt, „und nun weiß ich auch, warum sie ihn hier den ‚Principe‘ nennen. Sie meinen jenes Urbild eines rücksichtslosen Bösewichts, das Macchiavellis Ideal gewesen ist.“

So oft sie aber später unsere Räubergeschichte erzählte, versäumte sie nie, hinzuzusetzen:

„Vier Briganten und nur einer dazugelogen!“