Eine Rheinfahrt mit Joseph Viktor Scheffel

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Autor: W. H. Riehl
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Titel: Eine Rheinfahrt mit Joseph Viktor Scheffel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 469, 474–477
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Eine Zeichnung von J. V. Scheffel:0 Ruine Reichenberg.

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Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Eine Rheinfahrt mit Joseph Viktor Scheffel.

Von W. H. Riehl.0 Mit einer Zeichnung von Scheffel auf Seite 469.

Ich machte im Sommer 1857 durch das westliche Deutschland von den Alpen zur Nordsee eine längere Reise, die in der Hauptsache wissenschaftlichen Studien gewidmet war. Doch fand ich dazwischen auch Zeit, in freier Wanderlust durchs Land zu schweifen, zu wandern, um zu wandern, wo gerade die Reize der Gegend mich lockten.

So hatte ich mich anfangs Juli im Schwarzwald umhergetrieben und war dann nach Karlsruhe gekommen.

Hier besuchte ich Scheffel, der mir seit seinem Münchener Aufenthalte befreundet war. In München hatte Scheffel glückliche Tage, aber auch Tage schweren Leides durchlebt, als seine hochbegabte Schwester in voller Jugendblüthe plötzlich starb. Ich hatte ihm in guten und bösen Stunden nahe gestanden, und dazu verband uns die gemeinsame Begeisterung für unser Volk in seiner lebendigen Gegenwart und in seiner Geschichte, für unser Land in der Poesie seiner Natur und seiner Alterthümer.

Scheffel war sichtlich erfreut über meinen Besuch, und da er wußte, daß ich mich lieber im Gehen unterhalte als im Sitzen, so schlug er sofort einen Gang durch die Straßen der Stadt vor, die in festlichem Schmucke prangte; Fahnen wehten von den Häusern, und eine fröhliche Menschenmenge wogte auf und ab. Es war der 9. Juli, und um die Mittagsstunde war dem jugendlichen großherzoglichen Ehepaare ein Erbprinz geboren worden. Nachdem wir uns lange durch Straßen und Gassen umhergetrieben hatten, zogen wir uns in die Kühle des stillen Schloßparkes zurück.

Ich begann – nun doch auf einer Bank sitzend – Scheffel von meiner Wanderung durch den Schwarzwald zu erzählen, und er befragte mich genau über die Wege, welche ich eingeschlagen, und was ich gesehen und nicht gesehen hatte. Mein Bericht fand keineswegs seinen Beifall. Er tadelte mich, daß ich ihn nicht vorher benachrichtigt habe von meiner Schwarzwaldfahrt: er würde mir nach Basel entgegengekommen sein, um mich weit schönere Wege zu führen und mir weit Merkwürdigeres zu zeigen. Er betrachtete den Schwarzwald als seine eigenste Domäne. Ich war in der That planlos meiner Nase nachgegangen, und das ist zuweilen auch ein besonderes Vergnügen, ja, um mit Scheffel zu reden, „eine tapfere Kunst“.

Wir stritten darüber, was das Schönste sei: den Weg in unbekanntem Lande ganz allein zu suchen, oder von einem landeskundigen Freunde geführt zu werden, oder umgekehrt auf wohlbekannten Wegen den Freund zu führen. Ich erklärte das letztere für das Allerschönste. War ich doch stets ein leidenschaftlicher Cicerone gewesen! Wenn ich eine schöne Gegend auf einsamem Gang entdeckte, dann dachte ich immer schon im ersten Genießen daran, wie ich sie andern zeigen wollte, und glückte mir’s nachher, einen gleichgestimmten Kameraden zu finden, dem ich meine Entdeckungen vorführte, dann war das ganze weite Land erst voll mein eigen.

So hatte mir mein Vater, als ich ein neunjähriger Knabe war, den Rhein von Mainz bis Koblenz gezeigt, und ich zeigte ihn später wohl ein dutzendmal vielen lieben Wandergenossen; wir stiegen hinauf zu den Burgen, wir drangen in die Seitenthäler, und indem ich nicht nur mit eigenen Augen, sondern auch in anderer Augen sah, wie schön das Rheinthal sei, lernte ich den Vater Rhein erst recht kennen und lieben.

Scheffel war gepackt von der einfachen Wahrheit, die ja Tausende schon an sich erfahren haben, und indem er wiederholt bedauerte, daß er mir den Schwarzwald nicht in seiner Weise habe zeigen können, machte er den Vorschlag, ein paar Tage gemeinsam rheinab zu wandern, damit ich ihm ein Stück Rhein in meiner Weise zeige.

Mein Plan war eigentlich, von Karlsruhe aus den Odenwald zu durchstreifen, den ich noch nicht kannte. Allein der Odenwald lief mir ja nicht davon; ich konnte ihn für diesmal bei Seite liegen lassen, und da mein nächstes städtisches Ziel Kassel war, so beschloß ich, mit Scheffel eine Rheinfahrt bis zur Lahnmündung zu machen und dann mit ihm die Lahn hinauf zu gehen.

Schon am nächsten Tage fuhren wir nach Frankfurt und Mainz, frohgemuth, in frischester Wanderlust, Stab und Tasche unser einziges Gepäck.

Ich will nicht unsere ganze Rheinfahrt schildern; ich greife nur die zwei eigenartigsten Tage heraus.

Wir hatten in St. Goarshausen übernachtet und waren früh aufgestanden, geweckt vom prächtigsten Sonnenschein. Als wir im Vorgärtchen des Gasthauses beim Frühstück saßen, begrüßte mich ein alter Bekannter aus Frankfurt. Ich stellte ihm meinen Freund Scheffel vor. Kaum hatte er den Namen gehört, so fragte er, ob er vielleicht das Vergnügen habe, den Dichter des „Trompeters von Säckingen“ vor sich zu sehen. Und als ich dies bejahte, sprach er seine helle Freude aus über das schöne Gedicht, welches er schon viermal gelesen, und welches ihm so gut gefalle, daß er ganz ungewollt viele Verse auswendig behalten habe. Und er sprach auch gleich ein paar Verse, die ganz vortrefflich in die heitere Morgenstimmung hier im Garten am Rheine paßten. Man fühlte, wie das Lob des Mannes aus dem Herzen kam. Und der Mann war kein Dichter, kein Litteraturmensch, kein schwärmerischer Jüngling, sondern ein fünfzigjähriger Beamter der fürstlich Thurn und Taxisschen Generalpostdirektion. Da mußte doch dieses freiwillige Lob doppelt schwer wiegen. Allein Scheffel hörte ihn schweigend an, sein Gesicht sah ganz feierlich zwischen den Vatermördern hervor, die er unpoetischerweise zu tragen pflegte, und nach einer peinlichen Pause ergriff ich das Wort, um dem begeisterten Oberpostbeamten einige Artigkeiten zu sagen, die ihm eigentlich der Dichter hätte sagen sollen.

Scheffel war damals noch wenig bekannt; sein „Trompeter“, schon seit Jahren erschienen, errang erst später den durchschlagenden Erfolg, und der Dichter klagte oft darüber, daß seine Gedichte so wenig gelesen würden. Nun stand plötzlich ein Leser vor ihm, wie sich ihn der Poet nur wünschen mag; – und der Poet sah darein, als hätten ihm die Hühner das Brot gefressen, und verabschiedete sich ganz steif und kalt von dem Fremden, der ihm doch so nahe getreten war.

Im geselligen Verkehr mußte man zwischen dem eingefrorenen Scheffel und dem aufgethauten Scheffel zu unterscheiden wissen. Diesmal war er vollständig eingefroren.

Als wir jedoch aufgebrochen waren und die Schlucht des Forstbachthals hinanstiegen, durch welches wir den Weg zur Burg Reichenberg suchten, thaute er plötzlich auf und meinte, schöner habe dieser Morgen für ihn nicht beginnen können als durch die [475] Begegnung mit dem liebenswürdigen Frankfurter, der ihm seine ehrliche, warme Anerkennung so gewinnend ausgesprochen habe. So echtes Lob entschädige ihn für das Schweigen der Kritik und mache ihn glücklicher, als wenn es sein „Trompeter“ heute schon zur zehnten Auflage gebracht hätte.

Ich blieb stehen, sah ihm erstaunt ins Gesicht und fragte: „Aber warum hast Du denn nicht vor einer halben Stunde auch nur die Hälfte dieser schönen Worte, die Du mir jetzt sagst, dem freundlichen Fremden gesagt? Auch er würde sich dann ganz glücklich gefühlt haben, und jetzt hat er sich vermuthlich geärgert.“

„Habe ich denn nichts gesagt?“ fragte Scheffel ganz verwundert.

„Nein!“ rief ich, „gar nichts hast Du gesagt!“

„Dann habe ich eben geschwiegen,“ entgegnete er ganz trocken, „weil ich so vergnügt war.“

Unser nächstes Ziel, die Burg Reichenberg, war bald erreicht. Schon von ferne freuten wir uns des Anblicks der großartigen Ruine, die an malerischem Reiz der Thürme und Mauern die meisten Rheinburgen übertrifft; nur mangelt dem Vordergrunde der Schmuck des Stromes, denn Reichenberg erhebt sich etwa eine Stunde landeinwärts im Hügelland.

Aber gerade die einsame Lage des weltvergessenen Gemäuers lockte uns. Wir waren beide der Ansicht, daß zu einer wahrhaft schönen Gegend auch schöne, recht gründlich ruinierte Burgen gehören, „freie Burgen“, das heißt unbewohnte und unbewachte Trümmer, die dem Wanderer offen stehen, die wir beherrschen und auf eine Stunde unser eigen nennen, solange wir darin umherklettern, in alle Winkel kriechen und treiben, was wir wollen. Die freie Burg und der freie Wald, das waren so herrliche Wanderziele, die das heutige Geschlecht wenig mehr sucht und die freilich auch immer seltener zu finden sind.

Eine ganz „freie“ Burg war Reichenberg freilich auch schon damals nicht mehr. Am Eingang wohnte ein Pförtner, der uns ein neues, soeben vom Buchbinder gekommenes Fremdenbuch vorlegte, auf dessen erstes Blatt wir beide uns als die ersten einschrieben. Allein nachdem wir diesen Zoll entrichtet, hatten wir dann doch die Freiheit, uns nach Herzenslust in einem Labyrinth von Trümmern zu tummeln.

Wir suchten in dem alten Mauerwerk nach syrisch-fränkischer Architektur, nach maurischen Hufeisenbogen, nach Alhambraornamenten, wir suchten den Orient im Herzen der Niedergrafschaft Katzenelnbogen. Ich hatte Scheffel schon den ganzen Morgen lüstern gemacht nach dieser merkwürdigen Burg, die den Einfluß der Kreuzzüge auf den deutschen Burgenbau bekunde. Der mächtige Hauptthurm, auf dem Grundriß eines Vierpasses erbaut und also in vierfacher Rundung profiliert, oben mit einem Stachelkranze von horizontal weit hervorragenden Säulenbasalten phantastisch geschmückt, dünkte uns wenigstens von weitem sehr morgenländisch. Allein im Innern der Burg fanden wir zwar manche interessante Konstruktionen und Ornamente, die von der großartigen und reichen Anlage des alten Baues zeugten, die wir aber doch trotz allen Widerstrebens nur für abendländisch erklären mußten, bis ich zuletzt Scheffel darauf aufmerksam machte, daß bei den ältesten Bautheilen nirgends ein Rest oder Ansatz eines Giebels zu entdecken sei. Die Dächer seien in der That alle flach gewesen, flache, massiv gemauerte Dächer wie bei den Burgen der Kreuzfahrer in Syrien, auf Blanche-Garde bei Askalon, auf der Burg zu Saona. Wo die Wände aufhörten, da fange der Orient an.

Nachdem wir uns im Schatten des großen Thurmes gelagert hatten, erzählte ich, daß Graf Berthold von Katzenelnbogen den vierten Kreuzzug im Jahre 1204 mitgemacht habe und glücklich wieder heimgekehrt sei; da sei nun nichts wahrscheinlicher, als daß er sich diese stolzeste Burg seines Landes zum Andenken im orientalischen Stile habe bauen lassen.

Scheffel meinte, man lerne doch jeden Tag etwas Neues. Bisher habe er nur gewußt, daß Franzosen und Italiener den vierten Kreuzzug unternommen hätten, um in Konstantinopel sitzen zu bleiben und das „lateinische Kaiserthum“ zu gründen; nun erfahre er, daß doch auch ein deutscher hoher Herr dabei gewesen sei.

„Allein der Deutsche wurde todtgetheilt, als die Lateiner die Beute theilten,“ bemerkte ich dazu. „Die Venetianer erhielten die schönsten Inseln des griechischen Meeres zu Lehen, ein Lombarde Makedonien, der französische Kriegsberichterstatter, Villehardouin, Achaja, andere französische Ritter Athen und etliche weitere Städte; nur der deutsche Graf hat nichts gekriegt, und es wäre doch so schön gewesen, wenn Athen damals katzenelnbugisch geworden wäre.“

Scheffel meinte, der Graf Bertold sei dann wohl aus Verdruß wieder nach Haus gegangen und habe sich im Herzen Katzenelnbogens sein eigenes Konstantinopel gebaut, dieses Reichenberg mit den platten Dächern, dem nur ein Stückchen Bosporus fehle.

So gestalteten wir, wie im Duett herüber und hinüber spinnend und erfindend, ein phantastisches Gewebe von mittelalterlicher Romantik und modernem Humor, und Scheffel meinte zuletzt, das sei ein prächtiger Stoff zu einem lustigen Gedicht, und er wolle von Reichenberg und dem Katzenelnboger in Konstantinopel singen und sagen, sobald er wieder in der Stephanienstraße zu Karlsruhe sitze.

Ob er diesen Plan wirklich weiter verfolgt, ob er wenigstens irgendwelche Skizze niedergeschrieben hat? Ich weiß es nicht. Der Stoff wäre wenigstens echt Scheffelisch gewesen.

Als wir die Burg verließen und wieder an der Pförtnerwohnung vorbeikamen, erhob ich warnend den Finger und sprach: „Es ist gut, daß uns vorhin der Mann nicht belauscht hat, der das Fremdenbuch stiftete und dem die Burg gehört, Archivar Habel von Schierstein. Er hat Reichenberg vor dem schon begonnenen Abbruch gerettet, aber wenn er jetzt vor uns stände, würde er den ganzen romantischen Aufbau Deines geplanten Gedichtes schonungslos umreißen und Dir erklären, daß jener Bertold, der allerdings Herr dieser Lande war und den vierten Kreuzzug mitgemacht hat, Reichenberg gar nicht erbaut habe, sondern vielmehr Wilhelm, ein anderer Graf seines Hauses, und zwar hundert Jahre später. Es wäre dann ein neues Räthsel, wie Graf Wilhelm lange nach den Kreuzzügen zu der orientalischen Bauweise seiner Burg gekommen sei, und wir könnten ihn zu diesem Zwecke etwa eine Pilgerfahrt ins gelobte Land machen lassen. Vielleicht würdest Du nun aber noch lieber den kritischen Archivar Habel selbst besingen, der die Burgen rettet und die Burgenpoesie vernichtet, einen alten Junggesellen, den leibhaften Jonathan Oldbuck. Walter Scotts Alterthümler ins Deutsche übersetzt, der eine ganze Anzahl schöner Burgen sein eigen nennt, auf denen er sich hier und dort ein kleines Stübchen hergestellt hat, um ab und zu einsame Tage in stiller Beschauung zu verbringen.“

Scheffel meinte, die kritischen Einwände des Archivars würden ihn gar nicht stören; als Poet habe er das unumschränkte Recht, die Burg Reichenberg durch den Grafen Bertold hundert Jahre vor ihrer Erbauung erbauen zu lassen, allein er werde den Archivar Habel auch in das Gedicht bringen und das Dörfchen Reichenberg dazu, für welches der Burgherr Stadtgerechtsame von Kaiser Ludwig dem Bayern erwirkt und das es trotzdem in einem halben Jahrtausend nicht einmal zu einem ordentlichen Wirthshaus gebracht habe. Er brummte noch eine Weile über diese urkundlichen Privilegien und das mißrathene Dorf; denn es war sehr heiß geworden und wir hatten großen Durst. Wir begannen darum so schnell wie möglich nach dem gastlicheren Sankt Goarshausen zurückzugehen.

Als wir uns aber nach einer Strecke Wegs noch einmal nach der Burg umschauten, fand Scheffel das Bild so wunderschön, daß er sich unter den nächsten Baum setzte und fast eine Stunde lang trotz allen Durstes Burg und Landschaft sorgsam zeichnete.

Ich spann während der unerwarteten Rast an meinen Gedanken über die prächtigen Ruinen weiter; der Pförtner kam mir sehr glücklich vor, der Jahr um Jahr in der Burg und mit der Burg wie mit einer treuen Freundin leben durfte. Ich beschloß, eine Novelle zu schreiben, worin ein so verfallenes Mauerwerk das Glück und Geschick eines sonst aller Glücksgüter ledigen guten Menschen bestimme, und so entstand in mir der Plan zu der Novelle „Burg Neideck“, den ich dann nach meiner Gewohnheit jahrelang in mir herumtrug, bevor ich ihn ausführte.

Einige Monate nach unserer Rheinfahrt überraschte mich Scheffel durch die Zusendung einer großen, in Sepiatönen wirksam angetuschten Zeichnung. Sie stellte die Burg Reichenberg im freien Stil einer historischen Landschaft dar, ein charakteristisches Blatt, welches betrachtenswerth wäre, auch wenn es Scheffel nicht gezeichnet hätte. Als theueres Andenken an den Freund hängt es heute noch unter Glas und Rahmen in meinem Zimmer, seine Nachbildung wird auch den Lesern der „Gartenlaube“ nicht unwillkommen sein.

Des andern Morgens zogen wir von St. Goarshausen rheinabwärts. Es war Sonntag, kein Wölkchen trübte das Himmelsblau, die Glocken läuteten von ferne, und als sie verstummten, [476] war es so still ringsum, daß man nur das leise Rauschen des wirbelnd fluthenden Stromes hörte.

Als wir an dem ehemaligen Kapuzinerkloster Bornhofen vorübergingen, welches im Laufe der Zeit ein Wirthshaus geworden war, beschlich mich eine Erinnerung aus vergangenen Tagen, und ich erzählte sie dem Freunde; denn wir hatten uns lange genug angeschwiegen im stillen Genießen des herrlichen Morgens am Rhein.

Vor sechzehn Jahren war ich auf meiner ersten akademischen Herbstferienreise einsam dieselbe Straße gewandert; mit selbsterworbenen zehn Gulden in der Tasche hatte ich eine Reise von Weilburg nach Frankfurt, von dort zum Rheine und stromab bis Oberlahnstein und dann die Lahn hinauf zurück nach Weilburg unternommen. Als ich an einem frischen Septembertage um zwölf Uhr gegen Bornhofen kam, war ich gesättigt von Naturgenuß, aber sehr hungrig im Magen. Ich ging darum in das Kloster und begehrte zum Mittagessen einen Teller Suppe und einen Schoppen Wein; denn mehr duldete meine Börse nicht. Der Wirth, eine weit vornehmere Erscheinung als ich, sah mich etwas verwundert an, brachte aber doch das Bestellte, indem er den Teller mit unnachahmlichem Schwung gleichsam auf den Tisch warf und den Schoppen mit festem Stoß daneben pflanzte, und rief. „Da haben Sie Ihre Suppe!“ Er schien fast gewünscht zu haben, daß ich etwas mehr bestellt hätte, und ich hätte gewünscht, daß etwas Brot oder ein wenig Gemüse oder gar einige Stückchen Fleisch in der Suppe geschwommen wären, allein es war nur reinste, klare Fleischbrühe – bouillon clair. Ich aß mit bestem Appetit, sofern man eine lautere Flüssigkeit essen kann, trank meinen Wein, zahlte meine Zeche und ging gehobenen Muthes weiter.

Doch bald regte sich der Wunsch nach etwas festerer Speise. Ich trat darum in Camp in eine Bäckerstube und begehrte für einen Kreuzer Schwarzbrot. Der Bäcker sprach mir freundlich zu, während er ein großmächtiges Stück, fast den halben Laib, herunterschnitt. Ich meinte, das sei viel zu viel für einen Kreuzer, allein er entgegnete, es sei gerade recht, er habe verschiedene Taxen. Er hielt mich offenbar für einen wandernden Handwerksburschen, und da er sich mehr zu nehmen weigerte, zahlte ich meinen Kreuzer, steckte das Brot in mein Täschchen und setzte mich vor dem Dorf in den Schatten eines Nußbaumes. Und während ich dort vergnüglich von dem guten frischen Brot schmauste, gingen mir Kinkels sinnige Verse vom Brot und Wein – vom „Abendmahl der Schöpfung“ – durch die Seele. Dem Nußbaum gegenüber stand aber ein alter bemooster Heiligenstock, und als ich mich sattgegessen hatte, zeichnete ich den alten Stein mit den fernen Thürmen von Boppard im Hintergrunde und war vielleicht der vergnügteste „Rheinreisende“ des ganzen Tags.

Dies alles erzählte ich Scheffel, während wir von Bornhofen rheinab pilgerten, und meinte, es sei mir doch bis jetzt recht gut gegangen im Leben. Und wir standen zuletzt vor demselben Heiligenstock, den ich vor sechzehn Jahren gezeichnet hatte, und jenseit des Flusses glänzten die Thürme von Boppard im hellsten Sonnenlicht.

Da fiel mir plötzlich ein, daß ich im vergangenen Frühjahr den Honoratioren von Boppard einen Besuch versprochen habe. Ich hatte das Versprechen inzwischen ganz vergessen gehabt, jetzt aber sagte ich Scheffel, es wäre doch prächtig, wenn ich in Gemeinschaft mit ihm meine Zusage erfüllte; wir wollten einen Fährmann suchen, daß er uns nach Boppard übersetze, es sei bald elf Uhr, die passendste Besuchsstunde.

Scheffel fragte verwundert, wen ich denn eigentlich besuchen wolle. Ich erwiderte, das wisse ich selbst nicht genau, ich kenne keinen Menschen in Boppard, nicht einmal dem Namen nach; es sei eben die „gebildete Gesellschaft“, es seien die Honoratioren von Boppard, denen unser Besuch gelte.

Und nun berichtete ich Folgendes:

Im vergangenen Frühjahr hatte ich eine „Adresse“ aus Boppard erhalten, bedeckt mit vielen Unterschriften, es war die erste Adresse, die ich in meinem Leben erhielt, und ist auch die letzte geblieben. Ein Verein, ein Kasino, dessen Namen ich vergessen, hatte während des Winters meine „Familie“ und die „Kulturgeschichtlichen Novellen“ gelesen und so viele Freude daran gefunden, daß sämmtliche Mitglieder mir ihren Dank auf einem Foliobogen aussprachen und mich baten, ihr Gast zu sein, wenn ich einmal nach Boppard komme. Unterzeichnet waren der Bürgermeister, Beamte, Geistliche beider christlicher Bekenntnisse, der Rabbiner, Aerzte, Lehrer, Kaufleute, kurzum, wie es schien, die Spitzen der gebildeten Gesellschaft. Ich hatte sofort mit einem Dankbrief geantwortet und am Schlusse gesagt, wenn mich mein Weg je wieder nach Boppard führen sollte, so würde ich der freundlichen Einladung Folge leisten. Und heute erinnerte mich der Anblick der Thürme der Stadt plötzlich wieder an das ganz vergessene Versprechen.

Scheffel, der es sonst durchaus nicht liebte, bei fremden Leuten Besuche zu machen, war ganz entzückt von meinem Gedanken, und wir fuhren sofort über den Rhein. Erst auf dem Wasser kam uns das Bedenken, an welcher Thür wir denn eigentlich anklopfen sollten; denn ich wußte ja keinen Namen mehr. Da ich mich aber ganz bestimmt entsann, daß der Bürgermeister an der Spitze der Unterzeichner gestanden habe, so beschlossen wir zum Bürgermeister zu gehen und uns dort zu melden. Wir trafen ihn auch zu Haus, einen sehr artigen Herren in den besten Jahren. Ich stellte uns beide vor und sagte, wir seien auf flüchtigem Durchmarsch, allein ich könne mir doch nicht versagen, mein Versprechen zu erfüllen, ihn persönlich zu begrüßen und meinen schriftlichen Dank mündlich zu wiederholen mit der Bitte, daß er denselben auch den anderen Herren vermitteln möge.

Der Bürgermeister ließ jedoch einen so kurzen Besuch nicht gelten: wir möchten wenigstens bis morgen bleiben und die Gäste des Vereins sein; er werde sofort alle die übrigen Unterzeichner von unserer Anwesenheit in Kenntniß setzen. Es bedurfte keiner großen Ueberredung, uns seinem Wunsche willfährig zu machen, und es ging nun alles so planmäßig Schlag auf Schlag, als ob man unsere Ankunft just auf diesen Tag und zu dieser Stunde längst erwartet hätte.

Wir wurden in der Kaltwasserheilanstalt Marienberg einquartiert, einem ehemaligen Kloster, welches sich auf einer Anhöhe oberhalb der Stadt erhebt. Unsere Zimmer waren kühl und luftig, die Aussicht entzückend, unser Wirth fein gebildet und herzlich, seine junge Gemahlin schön und liebenswürdig; der Arzt der Anstalt gesellte sich hinzu, uns in artigster Weise die Honneurs zu machen. Wir waren wie im Paradies.

Als wir am Familientische speisten, ließ ich unwillkürlich mein Auge durch das offene Fenster zum Rhein und zum gegenüberliegenden Ufer schweifen. Scheffel errieth meine Gedanken und konnte nicht umhin, der Gesellschaft mein Abenteuer vor sechzehn Jahren in drolligster Weise zu erzählen, und indem er das ehemalige Kloster Bornhofen drüben im Thale mit dem Kloster hier oben auf dem Berge verglich, welches zwar kein Wirthshaus geworden sei, aber das gastlichste Asyl für Kranke und Gesunde, stießen wir zum Schluß auf das Wohl unserer freundlichen Wirthe an.

Ich habe Scheffel niemals so aufgethaut gesehen wie an diesem Tage.

Nach Tisch betrachteten wir unter kundiger Führung die Stadt und begaben uns dann zum Bürgermeister, wo wir bereits eine große Zahl von Herren versammelt fanden, die uns erwarteten. Man hatte die glücklichste Form gewählt, uns die landschaftlichen Reize Boppards zu zeigen und zugleich in zwanglosester Weise mit einander zu verkehren: einen gemeinsamen Waldspaziergang zu einer freien Bergeshöhe. Dort lagerten wir uns behaglich und überblickten Stadt und Thal und Fluß im reichsten Gesammtbilde. Wir blieben droben bis gegen Abend in heiterem Gespräch und im Genusse der herrlichen Natur. Es wurden keine Reden gehalten, keine Trinksprüche ausgebracht, was auch nicht möglich gewesen wäre, da wir nichts zu trinken hatten; wir bewegten uns wie Freunde unter alten Freunden. Von Scheffel hatten die Bopparder bis dahin offenbar noch nichts gewußt, aber sie lernten ihn jetzt von seiner liebenswürdigsten Seite kennen. Mein Name war damals bekannter in Deutschland als der Name Scheffels; heute ist es umgekehrt. Ich empfahl den Herren Scheffels „Trompeter“ und „Ekkehard“ zur nächsten Winterlektüre, und sie werden es nicht bedauert haben, daß sie den Dichter früher kennengelernt hatten als seine Dichtungen. Hoffentlich haben sie auch nicht bedauert, daß sie bei mir den Autor später kennenlernten als seine Bücher.

Wir stiegen herab ins Thal, um zunächst wieder in eine Kaltwasserheilanstalt geführt zu werden, in das Mühlbad am unteren Ende der Stadt. Hier sollten wir uns vorläufig durch einen Trunk Wein erfrischen. Allein der Besitzer der Anstalt empfing uns, weit über das Programm hinausgreifend, mit einem vollständigen Abendessen, welches wir uns trefflich schmecken ließen. [477] Der Bürgermeister aber drängte zum Aufbruch, indem er sagte, dies sei keineswegs unser eigentliches Abendessen, wir würden dasselbe vielmehr in seinem Hause finden, wo auch eine größere Gesellschaft uns erwarte. An dem reichbesetzten Tische des Bürgermeisters ließen wir’s uns dann auch zum zweiten Mal schmecken, tranken aber mehr als wie aßen; denn es liegt in der Natur des Kulturmenschen, daß sein Durst ausdehnsamer ist als sein Hunger. Die Unterhaltung war sehr lebhaft und Mitternacht unvermehrkt herangekommen, als wie endlich aufbrachen und bergauf zu unserer Wohnstätte wanderten, zu der oberen Kaltwasserheilanstalt. Wir wollten uns ganz still auf unsere Stube schleichen, da begrüßte uns unsere junge Wirthin im schönsten Sonntagskleide und führte uns in das Staatszimmer, wo der Tisch gedeckt stand – mit einem dritten Abendessen! Sie hatte nicht gewußt, daß wir bereits im Mühlbad, entgegen dem Programm des Bürgermeisters, mit einem ersten und beim Bürgermeister, entgegen ihrem eigenen Programm, mit einem zweiten Abendessen überrascht worden waren. Sie hatte ohne Zweifel während langer Stunden peinlichen Wartens über Unpünktlichkeit gezürnt, aber sie hatte ausgeharrt und ein sehr gewähltes Mahl warm halten lassen, bis wir nach 12 Uhr ankamen; sie ließ uns keine Spur von Verstimmung merken und begrüßte uns so liebenswürdig, als ob wir fünf Stunden früher gekommen wären. Von Rührung, Dank und Mitleid erfüllt, entschuldigten wir uns aufs gründlichste und konnten auch weiter nicht widerstehen: – wir setzten uns zum dritten Abendessen, zur Sühne unserer Schuld, die eigentlich gar nicht unsere Schuld war. Wir nippten am Glase und thaten, als ob wir äßen, aber wir behaupteten uns beide auf der Höhe der Situation und suchten durch erlesene Artigkeit und beste Laune alles wieder gutzumachen.

Als wir gegen 1 Uhr endlich zu Bett gingen, meinte Scheffel, er habe nicht gewußt, daß es so anstrengend sei, auch nur einen halben Tag von lieben Leuten gefeiert zu werden. In seinem späteren Leben wird er diese ihm damals noch neue Thatsache öfters bestätigt gefunden ud entdeckt haben, daß es bei solcher Gelegenheit sogar noch Anstrengenderes zu ertragen giebt als drei Abendessen an einem Abend.

Des anderen Morgens begleiteten uns mehrere der neuen Freunde zum Rhein, wo wir einen Kahn mietheten, um zum rechten Ufer zurück zu fahren. Nach herzlichem Abschied bestiegen wir das kleine Fahrzeug und entdeckten erst, als wir schon in den Strom hinaus trieben, daß unser Fährmann eigentlich kein Mann, sondern ein halbwüchsiger Junge war, der nur mit Mühe Kahn und Fluth beherrschte.

Während wir so auf dem Wasser dahinglitten, begann Scheffel mir die Geschichte von der Meerfahrt des Pfalzgrafen Ottheinrich und dem Enderle von Ketsch zu erzählen, die er unlängst im alten Merian gefunden hatte. Er war eben zu der Stelle gekommen, wo Enderles Geist, in Hemdärmeln am Maste seines Schiffes stehend, dem entgegenfahrenden Pfalzgrafen zuruft: „Weichet, Herr Pfalzgraf, weichet, der dick’ Enderlein von Ketsch kommt!“ als zwei Dampfer, der eine zu Berg, der andere zu Thal fahrend, unsere Bahn kreuzten. Unser Nachen begann bedenklich auf den Wellen zu tanzen, die durch die Enge und die Krümmung des Stromlaufes doppelt hoch aufschlugen, der Fährbube verlor alle Macht über seine Ruder, und eine mächtige Woge traf unsere Breitseite, daß wir beinahe umgeschlagen wären. Scheffel erschrak sehr und verstummte mitten in seiner Geschichte; ich erschrak nicht minder, bat ihn aber, weiter zu erzählen, denn wenn es uns beschieden sein sollte, nach dem gestrigen Tage hier angesichts der gastlichen Stadt zu ertrinken, dann könnten wir’s jetzt doch nicht mehr ändern. Darüber waren wir aus den schlimmsten Wellen herausgekommen. Doch beendete Scheffel seine Geschichte erst, als wir wieder auf festem Boden standen, und zwar indem er sie wieder von vorn anfing. Er sagte mir übrigens damals noch kein Wort, daß er den Enderle von Ketsch poetisch behandeln wolle. Vielleicht hat ihm die Erinnerung an unsere Kahnfahrt die Geschichte des alten Merian so fest eingeprägt, daß er sich in Versen wieder von ihr befreien mußte.

Noch einen letzten Blick des Abschiedes auf Boppard, und wir schritten fröhlich weiter gegen Braubach, wo wir hinter der Marxburg bergan stiegen und, quer über die Höhen kreuzend, bei Dausenau das Lahnthal gewannen. Wir umgingen auf diese Weise Bad Ems, welches uns zu vornehm war, als daß wir’s hätten besuchen mögen. Wir streiften lieber durch Wälder und Wiesen als durch Villenstraßen und Kurpromenaden.

Nachdem wir zwei Tage lang das malerische Lahnthal aufwärts gewandert waren, trennten wir uns angesichts des Limburger Domes, der so unvergleichlich auf dem Felsen über dem Flusse thront, Scheffel südwärts, ich nordwärts weiterreisend. Beim Abschied bat mich Scheffel, ihm meine Landkarte des Odenwaldes zu leihen, die ich bei mir trug, weil ich ja anfangs jene Berge hatte aufsuchen wollen. Als er mir nach längerer Zeit die Karte zurückschickte, fand ich die Orte, welche er berührt hatte, von seiner Hand mit Bleistift unterstrichen. Er war von Zwingenberg zum Rodenstein gegangen und hatte fast alle Nachbarorte der Burg besucht, um dann über Rehbach und Asselbrunn ins Mümlingthal hinüber zu wechseln, wo ich seine Spur von Fürstenau bis Beerfelden verfolgen konnte. Dort hörten die Striche auf. Als ich später die lustigen „Lieder vom Rodenstein“ las, erkannte ich, daß Scheffel Lokalstudien dazu auf dem Heimweg von unserer fröhlichen Rheinfahrt gesucht hatte. Denn neben dem Rodenstein war das „treue schnapsbrennende Reichelsheim“ unterstrichen und „Gersprenz der fromme, züchtige Ort.“ Nur „des Odenwaldes Kronjuwel, Pfaffenbeerfurt, die duftige Mistfinkenhöhl’“ hatte keinen Strich.

Scheffels Nase scheint ihre Forschungen dort zu einer anderen Zeit gemacht zu haben.