Eine Sängerfahrt über den Ocean
[159] Eine Sängerfahrt über den Ocean. Mögen die deutschen Sänger einstweilen ihre Bündel schnüren und den Muth zu einem kühnen Unternehmen in sich reifen lassen; es ist für sie Aussicht zu einer Fahrt vorhanden, zu einer so fröhlichen, wahrhaft poetischen und vielfach bedeutsamen Sängerfahrt, wie sie unser bisheriger deutscher Festkalender noch nicht aufzuweisen hat.
In der großen amerikanischen Stadt Chicago, wo bekanntlich sehr viele Deutsche wohnen, wird im Juli d. J. das sechszehnte Sängerfest des nordamerikanischen (deutschen) Sängerbundes begangen werden, und mit regstem Eifer trifft das dortige Central-Comité des genannten Bundes bereits alle Veranstaltungen zu einer der Bedeutung des Festes entsprechenden nöglichst großartigen und fröhlichen Feier. Wer Amerika irgend kennt, der weiß auch, wie imposant und begeisterungsvoll dort solche Kundgebungen in’s Werk gesetzt werden. Alle amerikanischen Gesangvereine haben ihre zahlreiche Betheiligung zugesagt, und selbst die deutschen Sänger des fernen Californien werden die Wanderung durch endlose Prairien und über schneebedeckte Felsengebirge nicht scheuen, um bei dem großen Bruderfeste zu erscheinen. Jemehr aber dieses Fest von unseren Landsleuten in Amerika als „ein Hohes Weiheopfer“ betrachtet wird, „das dem deutschen Geiste in fremdem Lande gebracht werden soll“, um so weniger können sie sich mit dem Gedanken befreunden, dabei ein wichtiges Element nicht vertreten zu sehen: die deutschen Sangesbrüder aus der geliebten alten Heimath. Im Auftrage des Centralcomites in Chicago hat daher der correspondirende Secrctär desselben, Emil Dietzsch, am 5. Januar eine ernstgemeinte, durch ihre Herzlichkeit fast ergreifende Bitte um Betheiligung, resp. um Absendung von Vertretern an die deutschen Gesangvereine, zunächst an die in Hamburg, Bremen und Köln gerichtet. Wie sehr es dem Comité Ernst mit dieser Einladung ist, zeigen die bereits von ihm mit den Dampfschiffgesellschaften eingeleiteten Unterhandlungen, um für diejenigen Sänger, welche aus Deutschland hinübergehen wollen, die Kosten der Reise auf ein Geringes herabzusetzen.
Geld und Zeit werden freilich, trotz Allem, dazu nöthig sein; aber es giebt sicher in unseren Gesangvereinen eine nicht geringe Zahl von unabhängigen Männern, welche ohne Hinderniß diesem freundlichen Rufe folgen können. Die Einladung erinnert daran, daß sich ja deutsche Amerikaner in Menge zu dem nationalen Schützenfeste in Bremen eingefunden haben, daß ja deutsche Sänger nach London, ja, nach Lille gegangen sind. „Darum auf, ihr Sänger,“ so lautet die Aufforderung, „zaget nicht, entrollt euere Fahnen und ziehet gen Westen! Mit offenen Armen und alter deutscher Gastfreundschaft wollen wir euch empfangen und euch froh in’s hiesige deutsche Geistesleben einführen, auf daß ihr nachher zu Hause erzählen könnt: Auch über dem Ocean wohnen Männer, deren Herz noch schlägt für gute deutsche Sitte und das alte theure Vaterland"“