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Eine Speculation

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Textdaten
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Autor: Otto Ruppius
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Titel: Eine Speculation
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aus: Die Gartenlaube, Heft 49–52, S. 769–772; 785–788; 801–804; 817–823
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Eine Speculation.

Erzählung aus dem amerikanischen Südwesten.
Von Otto Ruppius.

Den Mississippi herauf arbeitete sich ein mächtiges Dampfboot und begrüßte die vor ihm liegende Häusermasse von St. Louis mit einem kaum enden wollenden Brüllen der Dampfpfeife. Die Gallerien der oberen Cajüte wie der Bord des untern Packraums zeigten sich dick mit Passagieren besetzt; es war die Jahreszeit, in welcher Jeder, der es ermöglichen kann, dem tiefen Süden mit seinen Krankheiten entflieht – und als das Boot die unabsehbare Reihe der an der Landung neben einanderliegenden Fahrzeuge passirt und an einer leeren, sichtlich reservirten Plattform angelegt hatte, schien die herabdrängende Menge der Reisenden kaum das Niederfallen der Landungsbrücke erwarten zu können, um den festen Boden zu gewinnen. Als sich endlich der Hauptstrom der Angelangten sammt den sich schreiend Bahn brechenden Packträgern an das Land ergossen, betrat ein junger, modern gekleideter Mann, die Reisetasche in der Hand und einen kleinen Koffer hinter sich herschleifend, die Plattform, in augenscheinlicher Unschlüssigkeit auf das Gewühl vor sich und die auf der Höhe der Laudung ausmündenden Straßen der Stadt blickend. – „Hotel, Sir?“ –„Hotel?“ klang es ihm von verschiedenen Seiten entgegen, und im nächsten Augenblicke sah er sich auch von einem engen Kreise eifriger „Runners“ umgeben, von denen ihm Jeder mit wunderbarer Geschwätzigkeit ein anderes Gasthaus zu empfehlen und zugleich sich seines Gepäcks zu bemächtigen suchte.

„Halt einen Augenblick!“ rief der Ankömmling abwehrend, „weiß Einer von Euch, wo das Bankgeschäft von C. F. Peters ist? Ich muß jedenfalls dort in der Nähe unterzukommen suchen!“

„Mr. Peters steht dort an der Office, Sir,“ ließ sich eine Stimme hinter ihm hören, „der Gentleman mit dem grauen Haare neben der Lady, Sir, und wenn Sie ihn sogleich sprechen wollen, so trage ich Ihnen dann Ihr Gepäck nach, Sir!“

Der zurückgewandte Blick des jungen Mannes fiel zuerst in das Gesicht eines riesigen Schwarzen, welcher sich mit freundlichem Grinsen verbeugte und mit einem: „Sie sind ganz sicher, Sir, Porter Nr. 2 vom Boot!“ auf das metallene Schild seiner Mütze zeigte – dann aber auf den angedeuteten, als „Office“ bezeichneten Punkt, ein kleines hölzernes Haus, welches neben aufgeschichteten Fässern und andern Frachtgütern sich auf der halben Höhe der Landung erhob. Dort standen zwei Männer in modischer, leichter Sommertracht, die Entleerung des angelangten Bootes beobachtend, und einen halben Schritt zurück, im Schatten des Gebäudes eine schlanke, elegante Frauengestalt.

„Es ist gut, Bob, ich werde am besten thun, die Gelegenheit zu benutzen,“ erwiderte der Ankömmling, nach einer kurzen Ueberleguug sich seines Gepäcks entledigend, „verwahrt mir die Sachen hier, bis ich zurückkomme. Wer ist der andere Gentleman?“

„Cornel[1] Webster, der Haupteigenthümer des Bootes hier, Sir!“ war die Antwort, in welcher sich die ganze Ehrfurcht vor der Bedeutung des Genannten ausdrückte, und mit einem leichten Kopfnicken wandte sich der Frager ab, durch das Gewühl von Menschen und hallenden Lohnkutschen die bezeichnete Richtung einschlagend. Auf halbem Wege indessen zog er sein Taschenbuch, entnahm ihm einen sorgfältig darin verwahrten Brief und begann dann sich das leicht umgeschlungene Halstuch, sowie den darüber gelegten Hemdenkragen sorgfältig zurecht zu rücken.

Nach kurzem Gange hatte er die Gruppe erreicht und sich dem ihm bezeichneten ältlichen Manne zugewandt, in dessen glattrasirtem Gesichte mit der voll ausgeprägten amerikanischen Geschäftsmiene er indessen umsonst nach einem bekannten Zuge zu suchen schien. „Mr. Peters?“ fragte er, noch wie im halben Zweifel.

„Das ist mein Name, Sir!“ erwiderte der Angeredete, mit einem kurzen scharfen Blick die stattliche Gestalt des Herangetretenen überfliegend.

„So bitte ich um Entschuldigung,“ fuhr dieser deutsch auf die erhaltene englische Antwort fort, „wenn ich die glückliche Chance zur Ueberreichung eines Briefs benutze, der mir in Deutschland zur persönlichen Abgabe eingehändigt worden war.“

„Ah!“ zog Jener, mit einer leichten Befremdung in seinen Zügen das dargereichte Convert in Empfang nehmend und es nach einem kurzen Betrachten der Adresse öffnend; der junge Mann trat einen Schritt zurück und warf einen Blick nach den beiden Uebrigen der Gesellschaft. Der von dem Schwarzen als Colonel Webster Bezeichnete hatte sich bei dem ersten Klänge der deutschen Laute weggedreht und schien auch sogleich Gelegenheit gefunden zu haben, durch einige Rügen gegen die unweit arbeitenden Lastträger den hohen Ton des Befehlenden hören zu lassen; er konnte nur einige Jahre älter sein als der Angekommene, und sein ganzes Aeußere zeigte trotz der Geschäftszeit eine sorgfältige Eleganz. Die junge Dame, halb von dem reichbefranzten Sonnenschirm verdeckt, schien den Herangetretenen kaum beachtet zu haben und mit abgewandtem Kopfe gleichgültig das Gewühl an der Laudung zu betrachten.

„Well, Sir, ich freue mich, Sie hier zu sehen, obgleich ich mich Ihrer selbst kaum mehr erinnere,“ begann Peters nach einem kurzen Durchstiegen des entfalteten Schreibens; „der Brief ist schon manchen Monat alt, Sie kommen also nicht direct von Deutschland?“

„Ich war fast ein Jahr in New-York, und wäre wohl auch [770] noch dort, wenn die jetzige Geschäftskrisis nicht die Hälfte der jungen Leute beschäftigungslos gemacht hätte,“ erwiderte der Ankömmling in freimüthiger Haltung. „Ich hatte das Unglück, in einem der Häuser placirt zu sein, die ganz schlossen. Dann wandte ich mich nach Cincinnati, um mein Heil auf die eigene Brauchbarkeit hin zu versuchen, und erst als ich auch dort fand, daß alle Arbeitskräfte auf das Nothwendigste beschränkt werden, entschloß ich mich hierher zu gehen, wo das Geschäft noch flott sein soll, und mich Ihnen nach dem Wunsche meines Vaters vorzustellen.“

„Hm, hm!“ brummte der Bankier, mit halb zerstreutem Blick den Brief in seiner Hand zusammenfaltend, und wandte sich dann nach seiner Begleiterin. „Hier, Ellen, dies ist der Sohn unseres alten Freundes Behrend, dessen Du Dich wohl noch aus den Lebzeiten Deiner Mutter erinnerst!“

Die Dame wandte langsam den Kopf, und der junge Mann sah in ein jugendliches Gesicht voll durchsichtiger, aristokratischer Blässe, das indessen durch ein großes, dunkeles Augenpaar ein wunderbares Leben gewann. Sie ließ einen gleichmüthigen Blick auf die Züge des vor ihr Stehenden fallen und sagte dann, kalt den Kopf neigend, englisch: „Ich habe wohl kaum noch eine recht klare Erinnerung aus Deutschland, Pa!“ In das Gesicht des jungen Mannes aber war plötzlich ein helles Roth geschossen. „Wenn dies Fräulein Helene ist,“ erwiderte er wie in leichter Befangenheit, „so habe ich wenigstens noch eine deutliche Erinnerung an die dunkeln, böse zusammengezogenen Augenbrauen des kleinen Mädchens, das ich wider seinen Willen aus dem Wasser zog, aus dem es sich trotz der Gefahr durchaus selbst helfen wollte!“

Für einen kurzen Moment erhielten ihre Wangen einen Anflug von Farbe, und ihr Auge ruhte schärfer auf dem Gesicht des Sprechenden, „Wohl möglich,“ versetzte sie dann leicht, ihr Englisch beibehaltend, während ihre Züge wieder den Ausdruck der frühern Kälte annahmen, „es mag indessen eine ziemlich lange Zeit zwischen Ihrer Erinnerung und heute liegen!“

„Und währenddem sind aus Kindern Leute geworden,“ nickte der Alte mit einem Zuge leiser Satire um den Mund. „Sagen Sie, Mr. Webster,“ wandte er sich dann englisch an den Genannten, „hier ist der Sohn eines alten Freundes von mir, der bereits längere Zeit in New-York im Geschäfte gewesen ist; haben Sie selbst irgend eine Vacanz oder wissen Sie zufällig eine solche?“

„Ich denke, Sir,“ erwiderte dieser, sich nur halb zurückwendend, „wir haben bereits eine solche Menge unbeschäftigter und ganz tüchtiger junger Leute aus dem Osten hier, daß Sie Ihren Landsleuten rathen sollten, diese nicht noch zu vermehren!“

„Es ist im Grunde wirklich so,“ schloß sich Peters mit einem halben Achselzucken dem Ausspruche an, „indessen will ich Ihnen nicht alle Hoffnung nehmen, und wenn ich auch in meinem eigenen Geschäfte übervoll besetzt bin, so soll es mich doch jederzeit freuen, Sie, so oft Sie wollen, bei mir zu sehen – Bank der Versicherungs-Compagnie, Sir, die Ihnen jedes Kind zeigen kann und wo Sie mich immer bis drei Uhr Nachmittags finden werden!“ Er neigte leicht den Kopf und bot dem jungen Manne die Hand.

Dieser hatte sich bei der kühlen Entlassung zwei Secunden lang entfärbt, dann aber schien eine Art Scham über die unbewachte Regung in ihm lebendig zu werden. Er richtete sich plötzlich voll auf, legte mit einem kurzen englischen: „Ich danke Ihnen, Sir!“ das indessen ein rasches Zucken von Bitterkeit um seinen Mund nicht verbergen konnte, seine Finger in die dargereichte Hand und wandte sich dann mit einer flüchtigen, allgemeinen Verbeugung ab, rasch dem Orte wieder zustrebend, wo er sein Gepäck gelassen. Noch hatte er aber nicht die Linie des nach der Stadt wogenden Menschenstroms erreicht, als er sich am Arme gehalten fühlte und einen der Lastträger neben sich sah. „Mr. Peters wünscht Ihnen noch ein Wort zu sagen, Sir!“ hörte er; aber nur zögernd und erst nach sichtlichem innerem Kampfe folgte er der Aufforderung. Als er sich zurückgewandt, sah er, wie der Bankier ihm einige Schritte entgegengetreten war. „Entschuldigen Sie mich,“ sagte dieser, während ein eigenthümlicher Ausdruck, fast wie ein halber zurückgedrängter Spott, sich in dem steifen Gesichte zeigte, „ich wollte nur sagen, daß ich jedenfalls bestimmt darauf rechne, Sie bei mir zu sehen, da Sie mir doch Mancherlei über Ihren Vater erzählen müssen –“

„Wenn ich mich dafür lange genug in St. Louis aufhalten sollte, werde ich nicht verfehlen, Sir!“ erwiderte der Angeredete mit einer kalten Verbeugung; in diesem Augenblicke aber war die junge Dame ihrem Vater rasch nachgetreten, und der Sprecher sah einen so freundlichen Blick aus ihrem dunklen Auge auf sich fallen, daß er unwillkürlich seine neue Abschiedsbewegung unterbrach.

„Ich hoffe mit Sicherheit, Sie in unserer Privatwohnung zu sehen, Mr. Behrend – Sie sind doch der Joseph?“ sagte sie deutsch, während sich ein anmuthiges Lächeln über ihre Züge breitete, zugleich aber auch, ihr ganzes Gesicht verklärend, ein leichtes Roth in ihre Wangen trat.

Joseph fühlte den Eindruck, welchen dieses völlig veränderte Wesen des Mädchens auf ihn hervorbrachte, trotzdem aber konnte er sich auch des Gedankens nicht erwehren, daß es doch nur eine Höflichkeitsform darstelle, um die rücksichtslose Weise des Alten gegen ihn zu verwischen, und er vermochte nur mit einer neuen Verbeugung und einem gehaltenen: „Sie haben über mich zu befehlen, Miß!“ zu antworten.

Sie blickte einen kurzen Moment wie forschend in seine Augen. „Dann dürfen wir Sie morgen nach drei Uhr zum Mittag bei uns erwarten?“ fragte sie.

„Ich werde Ihre Freundlichkeit voll würdigen, Miß, wenn es mir bei den schlimmen Aussichten, die mir so eben gestellt wurden, möglich sein sollte, zwei Tage hier zu bleiben,“ erwiderte er ruhig, „jedenfalls aber hoffe ich auf das Glück, Sie, ehe ich gehe, noch einmal sehen zu können!“

Ihr Auge war wieder so ernst und der Ausdruck ihrer Züge so kalt als vorher geworden; fast schien es, als wolle sie noch ein Wort entgegnen, aber mit einem gemessenen Kopfneigen wandte sie sich schweigend ab.

„Well, Sir, das Geschäft natürlich vor allem Andern, und es ist immer am besten, man sieht sich die Dinge gleich mit den rechten Augen an, ohne sich unnütze Hoffnungen zu machen,“ sagte Peters, das glattrasirte Kinn reibend, „indessen muß ich, wie gesagt, noch das Nöthige über Ihren Vater hören, dann kann man auch vielleicht noch ein anderes Wort sprechen, und so lassen Sie mich nicht zu lange auf Sie warten!“

Behrend hatte auf’s Neue die knöcherne Hand des Alten in der seinen gefühlt und mit einem letzten unwillkürlichen Blick auf das Mädchen, das seine Gegenwart indessen kaum mehr zu bemerken schien, den Rückweg angetreten. Er fühlte sein ganzes Innere von dem Empfange und der rücksichtslosen Entmuthigung, die ihm geworden, wund; hatte er sich doch vorher eine so ganz andere Vorstellung von der eben stattgefundenen Begegnung gemacht – er wußte auch, daß ein anderes Benehmen seinerseits ihm gar nicht möglich gewesen wäre, und war mit sich völlig fertig, von dieser Seite nicht die kleinste Hülfe zu einem Unterkommen für sich mehr zu beanspruchen; trotzdem aber konnte er, wenn er an das Mädchen dachte, sich gerade dieses Benehmens halber einer leisen Unzufriedenheit mit sich kaum erwehren, und als er an dem freiwerdenden Flußufer den zurückgelassenen Schwarzen neben seinem Gepäcke erblickte, mußte er das Auge noch einmal nach der kaum verlassenen Gruppe zurückwerfen. Dort fuhr soeben neben der Office eine Equipage mit einem galonnirten Neger auf dem Bocke vor; der Dampfboot-Eigenthümer, in sichtlich angeregtem Gespräche mit dem Mädchen, öffnete selbst den Schlag, aber lachend kam sie mit einem leichten Schwunge seiner Hülfe beim Einsteigen zuvor; dann folgte der alte Peters, und Webster nahm zuletzt auf dem Vordersitze Platz.

„Muß es nicht ein schönes Paar geben, der Cornel und Miß Peters, Sir?“ fragte der herangetretene Schwarze, den Blick des jungen Mannes verfolgend, „und viel Geld, viel Geld auf beiden Seiten, Sir!“

„Ein Paar?“ fragte Behrend sich rasch zurückwendend, und als Jener mit einem: „Sicherlich, Sir, es ist schon allgemein bekannt!“ erwidert, drehte er sich langsam nach seinem Gepäck. Was ging ihn denn auch nur im Entferntesten eine solche Angelegenheit an? und doch war es ihm in demselben Augenblicke geworden, als sei ein heller Gedanke, der fast unbewußt ihm in der Seele gestanden, plötzlich verloschen. „Nach irgend einem anständigen Mittel-Hotel, Bob!“ sagte er in sonderbar gedrückter Stimmung und folgte dann dem rasch mit seinen Habseligkeiten vorauschreitenden Träger.

Das rege Leben und Treiben indessen, welches sich ihm beim Eintritt in die Straßen überall entgegenstellte und ein vollgültiges Zeugniß für das großartige, ungeschmälerte Geschäft der Stadt ablegte, ließ ihn für den Augenblick die gehabte Begegnung vergessen [771] und frischte seine Lebensgeister an. Wenn er auch von dem Briefe seines Vaters einen Haupterfolg gehofft hatte, so war er dennoch nicht allein auf ihn gestützt hierher gegangen. Drei Empfehlungen seines New-Yorker Principals für St. Louis befanden sich noch in seinem Taschenbuche, und bei diesem regen Geschäftstreiben überall meinte er kaum an so schlechte Aussichten, wie sie der Dampfboot-Eigener für jeden Stellung suchenden jungen Mann angedeutet, glauben zu dürfen. Eine Minute lang stand die Erscheinung des genannten wieder vor seinem inneren Auge; und es war ihm, als sei ihm noch nie ein Gesicht begegnet, das ihn durch den Ausdruck hochmüthiger Sicherheit, zugleich aber auch durch einen eigenthümlichen Zug von Seelengemeinheit so abgestoßen hatte, wie dieses – und das war die Wahl desselben Mädchens, das seine Jugenderinnerung jetzt in ein so helles Licht vor ihn gehoben.

Der Eintritt in das Hotel, welchem er zugeführt worden, brach seine Gedanken ab, und bald befand er sich mit dem Schwarzen, der mit höflich gekrümmtem Rücken seines Lohnes harrte, in einem Zimmer der oberen Räume.

„Ihr seid in St. Louis zu Hause und kennt hier die Leute, Bob?“ fragte der junge Mann, sein Taschenbuch ziehend und dieses auf dem Tische seiner Papiere entledigend, „ich möchte gleich über einige Adressen die nöthige Auskunft haben!“

„Eigentlich bin ich nur vom Boot – der „Lilly Dale“, Sir, mit dem Sie selbst gekommen, und bin in New Orleans, wohin die gewöhnlichen Fahrten gehen, gerade so zu Hause, wie hier,“ erwiderte der Neger mit verbindlichem Grinsen und mehrfacher Verbeugung, „indessen kenne ich von den großen Geschäftsleuten wohl die meisten hier, Sir!“

Behrend sah, wie von einem neuen Gedanken berührt, langsam auf. „Es ist bei der beginnenden Hitze wohl schlecht zu leben in New Orleans?“ sagte er, „ich hörte, daß um jetzige Zeit schon die meisten Fremden die Stadt verlassen und daß in den Geschäften oft Noth um die nöthigsten Arbeitskräfte sei.“

„O, die Stadt ist noch ziemlich gesund, nichts als etwas Cholera und Knochenfieber, an denen nur Leute sterben, die das Klima nicht gewohnt sind, Sir; das gelbe Fieber wird erst in vier oder sechs Wochen kommen,“ erwiderte der Schwarze bereitwillig. „Nachher freilich ist es für Solche, die Furcht haben, nicht ganz sicher, und es werden sowohl für junge Gentlemen in den Geschäften als für die gewöhnlichen Arbeiter hohe Preise bezahlt. Wir nehmen nur neue Fracht ein und gehen übermorgen gerade hinunter, aber von unsern Arbeitern denkt wohl Keiner einmal an die Krankheiten.“

Der junge Mann rieb sich kräftig die Stirn und machte dann einen raschen Gang durch das Zimmer. „Well, Bob, es ist möglich, daß wir die Fahrt wieder zusammenmachen,“ sagte er endlich, bei seinen Papieren stehen bleibend, „vorläufig aber laßt einmal hören, wo ich die Leute, an die ich hier adressirt bin, finde!“

Bob vermochte prompt Auskunft zu geben, und der Deutsche bemerkte mit Genugthuung, daß er kaum langer Zeit bedürfen würde, um seine sämmtlichen Besuche, die ihn über seine Hoffnungen am Platze unterrichten sollten, abzumachen; der Schwarze hatte sich endlich mit einer Bezahlung, die sichtlich zu seiner Zufriedenheit ausgefallen war, entfernt, und Behrend begann seine Empfehlungsbriefe einzeln und langsam, als strebe er bei einem jeden schon im Voraus zu errathen, welches Schicksal er ihm bringen werde, wieder an ihrem frühern Orte zu bergen. Zuletzt blieb noch ein unverschlossenes, augenscheinlich schon mehrfach geöffnetes Schreiben in seiner Hand, und wie mechanisch entfaltete er es jetzt von Neuem, langsam den Blick über die Zeilen gleiten lassend. Es war ein Brief von einer kräftigen Männerhand geschrieben und lautete:

          „Mein lieber Sohn!

Ich habe mich gefreut, einmal wieder Nachrichten von Dir zu erhalten, wenn diese auch eben nicht die günstigsten sind. Du bist außer Stellung und siehst auch vor langer Zeit keine Möglichkeit, wieder unterzukommen. Trotz dieser allerdings unangenehmen Lage nimmt mich dennoch der gedrückte Ton Deines Briefes wunder, der mir zu Deinem ziemlich kräftigen Charakter und der vernünftigen Weise, in welcher Du schon hier die amerikanischen Verhältnisse auffaßtest, kaum recht passen will. Es ist die erste Calamität, in welche Du gerathen bist, und mag sie auch noch so bedeutend sein, so muß sie doch überwunden werden. Das Wie, lieber Sohn, mußt Du freilich besser kennen, als ich hier; indessen kann ich mir eben nicht denken, daß ein so großes Land mit so reichen Hülfsmitteln einen jungen Mann, der nur fest an dem amerikanischen „Hilf Dir selbst!“ hält und seine mannigfachen Anlagen zu verwerthen strebt, gänzlich ohne Chance zu diesen letzteren lassen könnte. Ich muß bei dieser Gelegenheit wieder an meinen alten Freund Peters denken, der jetzt ein reicher Bankier in St. Louis ist und nach seinem hiesigen Bankerott mit so wenigen Mitteln nach Amerika ging, daß ihm eigentlich die Reise erst durch ein kleines Capital, das ich ihm auf guten Glauben hin vorstreckte, ermöglicht wurde. Er hat wohl schwerere Calamitäten als Deine jetzige durchmachen müssen, besonders da er sein Töchterchen bei sich hatte und auch nicht mehr die Elasticität Deiner Jugend besaß, ehe es ihm nur gelang, mir das geliehene Geld zurück zu erstatten. Er hat aber endlich trotz des Mangels jeder Unterstützung seinen Weg gemacht, und da Du nun, lieber Joseph, Amerika einmal zum Felde Deiner Thätigkeit gewählt hast, so mußt Du eben versuchen, es ihm nachzuthun. Du hast meinen Brief an ihn noch nicht abgegeben und Du hast auch Recht, wenn Du wahrscheinlich meinst, daß man von derartigen Empfehlungen, die auf eine Art Dankbarkeit Anspruch machen, nur im äußersten Nothfälle Gebrauch macht; indessen hoffe ich, daß, wenn dieser Fall bei Dir einmal eintreten sollte, Du nicht gänzlich ohne Rath und eine unterstützende Hand von ihm gehen wirst. – Für eine augenblickliche Verlegenheit, in welcher Du Dich befinden könntest, lege ich hier noch eine kleine Summe in einem Wechsel bei, bitte Dich aber, in’s Auge zu fassen, daß es bei den Kosten, welche Deine heranwachsenden Geschwister verursachen, mir nicht möglich werden würde, dieselbe zu erneuern. Die Grüße der Uebrigen schließe ich diesmal nicht bei, da ich es vorgezogen haben, ihnen von dem jetzigen Stande Deiner Angelegenheiten nichts zu sagen. Und so erhalte Dir einen kräftigen, starken Geist, der schon Schlimmeres überwunden hat, damit Du uns bald bessere Nachrichten senden kannst.

          Dein treuer Vater Behrend.“

Der junge Mann hatte die Zeilen durchblickt, wie man längst bekannte Worte noch einmal überliest; hier und da aber war sein Auge auf einer Stelle haften geblieben, als trete sie ihm in einem neuen Lichte entgegen, und dann hatte sich ein Zug tiefer Bitterkeit um seinen Mund gelegt. „Was er diesem „alten Freunde Peters“ geschrieben hat, weiß ich nicht,“ sagte er endlich, den verdüsterten Blick in den sonnigen Himmel hinausrichtend, während er mechanisch das Papier wieder zusammenfaltete, „aber er hat sicher kein Wort der Erinnerung an den erwiesenen Dienst laut werden lassen und sich in dem Gedächtnisse des Alten gerade so betrogen, wie ich mich in dem der Tochter. Immerhin denn! eine Wohlthat der Barmherzigkeit hätte ich mir ohnedies nicht erzeigen lassen!“ Er trat langsam an das Fenster, ohne etwas von dem lebendigen Gewühl in der breiten Straße vor sich zu sehen; seine Gedanken waren an dem Mädchenbilde hängen geblieben, das plötzlich wieder in ihm aufgetaucht war, und unwillkürlich suchte er diese aristokratischen Züge, in welchen sich stolze Kälte und weiche Anmuth so wunderbar vereinigten, mit seiner Jugenderinnerung in Einklang zu bringen. Das waren noch dieselben dunkeln glänzenden Augen mit den tiefschwarzen, fein gezogenen Brauen darüber, welche das sechsjährige Mädchen vor allen Gespielinnen seiner Schwester ausgezeichnet und die er sich meist vergegenwärtigt, wenn er beim heimlichen Lesen eines Ritterromans auf den „zauberischen Blick“ einer „Huldin“ gestoßen; das war noch derselbe eigenthümliche Ausdruck von Selbständigkeit und Willenskraft, welche das Kind, eines kürzeren Wegs halber über den schmalen, nassen Steg des Mühlbachs hatte gehen und fast verunglücken lassen – aber wie gänzlich anders waren doch diese Einzelnheiten in der Gesammterscheinung dieses jungfräulichen, zur vollen Schöne erblühten Gesichtes wieder. Er mußte an das sonnige Lächeln, an das leise Erröthen denken, mit welchem sie gefragt: „Sie sind doch der Joseph?“ und er meinte jetzt erst sich des melodischen Tonfalls ihrer Stimme recht bewußt zu werden, meinte denselben fast in sich nachvibriren zu fühlen – da aber klangen auch wieder die Worte des Schwarzen in seine Ohren: „Wird es nicht ein schönes Paar, Sir?“ und an die Stelle der lächelnden Züge vor ihm trat der Ausdruck von stolzer, gemessener Kälte, mit welchem sie ihn entlassen; er sah sie dann von der Seite jenes ihm so widerlichen Menschen lachend in den Wagen springen, und mit einer kräftigen Bewegung seiner Schultern, wie sich gewaltsam seiner Träumerei entreißend, hob er den Kopf. „’s ist schon recht so,“ sagte er, sich wieder nach dem Innern des Zimmers wendend, „das Hoffen auf Connexionen [772] ist ein für allemal gebüßt. Läßt sich hier nicht bald etwas für mich finden, dann in Gottes Namen nach New-Orleans – mein Alter daheim soll wenigstens nicht sagen, daß ich vor irgend einem möglichen Schritte zur Erlangung meines Lebensunterhaltes zurückgeschrocken wäre. Die Cholera fürchte ich nicht, und das gelbe Fieber ist vorläufig noch nicht da!“

Er blickte nach seiner Uhr; noch waren zwei Stunden bis zu Mittag, und mit einem Nicken der Befriedigung wandte er sich nach seinem Koffer, um für die zu machenden Besuche die nöthigen Aenderungen an seinem Anzuge vorzunehmen. – –

Es war am Abend desselben Tages; schwere Wolkenmassen hatten den Himmel überzogen und schienen das Mondlicht, auf welches die nur zum Nothbedarf entzündeten Gasflammen in den Straßen schließen ließen, völlig ausgelöscht zu haben; dunkel und unhörbar flossen unten die Wasser des breiten Stroms, und nur die unabsehbare Reihe der Dampfbootlichter bezeichnete die Uferlinie. – Die Landung herauf stiegen zwei Gestalten und blieben auf der halben Höhe unweit eines Haufens aufgestapelter Frachtgüter stehen. „Alles in Ordnung, Wilson?“ klang es halblaut, nachdem ein vorsichtiger Rundblick des Fragers ihn von der völligen Einsamkeit des Ortes überzeugt zu haben schien.

„Alles, Sir!“ war die Antwort, „die Mehlfässer lagern im Schuppen, das Schweinefleisch und der Whiskey sind im Hofe untergebracht, und wenn uns nicht der Teufel geradezu ein Faß entzwei schlägt, so wird es als die prächtigste Ladung, die nur ein Boot getragen, den Mississippi hinunter schwimmen. Wollen Sie die Colli noch einmal genau nachsehen, so können Sie nachher mit gutem Gewissen Stück für Stück beschwören.“ Ein heiseres Lachen folgte den letzten Worten, aber eine hastige Bewegung des ersten Sprechers unterbrach es.

„Keine Thorheit, Wilson, so sicher man auch sein mag!“ rief dieser mit vorsichtig gedämpfter Stimme, während er von Neuem einen raschen Blick über die nächste Umgebung gleiten ließ; „ich werde jetzt allerdings die gesammten Stücke noch einmal mit der Liste vergleichen und danach morgen bei Zeiten die Versicherung vornehmen lassen. Ich wünsche indessen, daß, ehe dies geschehen ist und ich nach dem Boote komme, diese Ladung schon völlig an Bord gebracht sei, und dann erst die Verladung der fremden Fracht erfolge; auf so genauem Fuße ich auch mit dem alten Burschen von der Versicherungs-Bank stehe, so ist er noch ein Schnüffler, der bei jeder Versicherung selbst seine Nase so tief als möglich in die Güter stecken möchte. – Was nun aber das Weitere anbetrifft,“ fuhr dieselbe Stimme in noch sorgfältigerer Dämpfung fort, „haben Sie sich mit Butler über die beste Weise geeinigt, Wilson, damit jeder Fehlschlag zur Unmöglichkeit wird?“

„Ohne Sorge, Sir!“ lachte der Andere in seiner früheren unangenehmen Weise, „das Geschäft ist richtig arrangirt, und Sie können um so ruhiger sein, als wir nicht nur unseren Gewinnantheil haben, sondern auch unglücklichen Falles den Schaden mitzutragen hätten!“

Der Erstere nickte langsam und wandte sich dann mit einem: „So kommen Sie!“ der Höhe der Landung zu.

Als Beide sich kaum zehn Schritte von ihrem bisherigen Standpunkte entfernt hatten, löste sich von dem Haufen der Frachtgüter eine dunkele Gestalt los und folgte den Davongehenden vorsichtig durch die Finsterniß, bis die Letzteren sich der Reihe von Lagerhäusern, welche oben parallel mit dem Flusse sich hinzog, näherten und dort in den ungewissen Schein der Straßenlaternen traten. Hier versuchte der Nachfolgende, den sicheren, raschen Schritt eines zufällig Passirenden annehmend, die Voranschreitenden zu überholen, augenscheinlich um einen Blick in ihre Gesichter zu erhalten; in der nächsten Secunde aber verschwanden die Beiden in einer sich aufthuenden Seitengasse, und als Jener die Mündung derselben erreicht, starrte ihm ein völlig undurchdringliches Dunkel daraus entgegen. Er blieb stehen und wandte sich langsam wieder zurück. „Ich hätte darauf schwören mögen, daß es seine Stimme war; man braucht sie eben nur einmal im Leben gehört zu haben!“ brummte er nachdenklich und stieß beim nächsten Schritte gegen einen vom Flusse heraufkommenden Menschen, der indessen sofort mit einem schmiegsamen: „Bitte um Verzeihung, um Verzeihung, Sir!“ zur Seite wich.

„Halloh, Bob, seid Ihr das?“ rief Jener, und der aus dem Wege getretene Neger näherte sich, den jungen Deutschen vom Morgen wiedererkennend, mit zwei grotesken Verbeugungen. „Ihr könnt mir vielleicht Auskunft geben, ob morgen früh schon irgend ein Dampfboot nach New-Orleans geht?“ fuhr der Sprechende fort, „ich habe bereits umsonst versucht, eine bestimmte Auskunft darüber zu erhalten.“

„Weiß von keinem, Sir,“ war die bereitwillige Antwort, „unsere „Lilly Dale“ wird in den nächsten Tagen wohl überhaupt das einzige Boot sein, das die ganze Reise dahin macht.“

„So – dann werden wir also doch die Tour zusammen machen, Bob! Aber was ich dabei fragen wollte: War das wohl Colonel Webster, der vor einigen Minuten vom Boote herauf kam? ich meine ihn soeben gesehen zu haben, konnte ihn aber nicht mehr erreichen.“

„Glaube kaum, Sir, daß Mr. Webster Abends und bei dieser Dunkelheit ohne Noth hier herunter kommen würde,“ erwiderte der Schwarze kopfschüttelnd, „am Bord war er nicht, ich komme daher, Sir.“

„Hm – nun dann nur noch eine Frage: Kennt Ihr Jemand von den Bootbeamten oder der Mannschaft, der Wilson heißt?“

„Sicherlich nicht auf unserm Boote, Sir,“ gab der Befragte unter neuem Kopfschütteln zurück und mit einem nachdenklichen: „Bis auf Weiteres denn, Bob!“ nahm der Andere seinen Weg wieder auf.

[785] Eine Zeitlang noch stand vor Behrend’s Gedanken das zufällig belauschte Gespräch, das irgend ein lichtscheues Unternehmen verrieth, ohne daß doch der junge Mann über die Natur desselben mit sich hätte einig werden können; als er aber in die nächste sich öffnende breite Straße einbog, um nach seinem Hotel zu gelangen, traten seine eigenen Angelegenheiten wieder vor seine Seele. Daß er jetzt an der Landung gestanden, in der Dunkelheit versuchend, die unten liegende „Lilly Dale“ aus dem Gewirre der übrigen Dampfboote herauszufinden, war das Ergebniß eines Tages voll erregter Hoffnungen und immer aufs Neu folgender bitterer Enttäuschungen. Er war nirgends, wohin ihn seine Empfehlungsbriefe geführt, mit Unfreundlichkeit oder auch nur mit Kühle empfangen worden; es waren jedenfalls warme Worte, durch welche sein New-Yorker Principal ihn eingeführt, denn man hatte sich sichtlich für sein Unterkommen interessirt; und waren auch die Geschäfte, an welche er adressirt worden, bereits überall besetzt, so wurden ihm doch eine Reihe neuer Adressen mit der nöthigen Empfehlung aufgegeben; ja Einer der Principale war sogar persönlich zu verschiedenen seiner Geschäftsfreunde mit ihm gegangen; aber immer war das Endresultat aller Nachfragen und Bemühungen gewesen, daß, wenn Behrend einige Wochen warten könne, sich jedenfalls etwas für ihn finden werde, daß aber bei der Menge junger Kaufleute, welche seit der Krisis im Osten St. Louis heimgesucht, sich für den Augenblick kaum ein Engagement werde erzwingen lassen. Warten aber konnte Behrend nicht mehr, er hatte es zu lange für seine Geldmittel in New-York und Cincinnati gethan. Als er nun bei dämmerndem Abend, ohne sich eines stillen Drucks ganz erwehren zu können, den Weg nach seinem Hotel eingeschlagen, hatte er neben einem der gebräuchlichen Lastkarren, die Peitsche in der Hand, eine Figur erblickt, deren er sich, wenn auch in besserem äußerlichen Zustande, aus seinen New-Yorker Kreisen zu erinnern gemeint, und sein zweifelnder, starrer Blick hatte auch sofort bei dem Beobachteten eine lachende Begrüßung hervorgerufen. Wenige Worte der folgenden Erklärung waren hinreichend gewesen, um in Behrend jede etwa noch wache Illusion über seine Aussichten zu zerstören. Der jetzige Karrenführer und vormalige Handlungsbeflissene, der ebenfalls mit den besten Empfehlungen St. Louis betreten, hatte sich so lange mit der Hoffnung auf eine passende Stelle getröstet, bis ihm Geld und Credit zu Ende gegangen und er, um nicht zu verlumpen, die nächste sich ihm bietende Beschäftigung angenommen hatte. Man kannte in der kaufmännischen Welt den Fall und rechnete es dem jungen Manne zur Ehre an, daß er zu anderer Arbeit gegriffen und nicht, wie ein großer Theil der übrigen Beschäftigungslosen, sich auf schlechtes Schuldenmachen gelegt. Er hatte jetzt selbst den Plan, nach New-Orleans zu gehen und dadurch auf jede Gefahr hin sich seiner Lage zu entreißen, aber noch waren seine neuerworbenen Mittel zur Reise nicht hinreichend. – Nach einem gemeinschaftlichen Schlucke im nächsten Trinklocale hatten sich endlich Beide getrennt, und Behrend war nach einer kurzen Wanderung durch die bereits dunkeln Straßen zu dem Entschlusse gelangt, keinen Tag länger hier sein Geld unnütz zu verzehren und sich auf kürzestem Wege, am Flusse selbst, nach dem nächsten abgehenden Dampfschiffe zu erkundigen. So war er nach der Landung gekommen, wo ihm die Frachtgüter auf dem von ihm eingeschlagenen Wege einen Halt zu besserer Orientirung geboten hatten. –

Als Behrend eine Stunde später sein Bett gesucht hatte und noch einmal die Erlebnisse des Tages an sich vorüberziehen ließ, wollte ihm die Begegnungsweise des alten Peters unter den obwaltenden Verhältnissen fast in einem milderen Lichte erscheinen; und wenn er auch nach den fehlgeschlagenen Versuchen zu seinem Unterkommen dessen Geschästslocal am wenigsten noch aufsuchen mochte, um nicht in den Verdacht zu gerathen, als hoffe er zuletzt noch auf eine Art Barmherzigkeitshülfe durch ihn, so wollte er doch der Schicklichkeit genügen und einen Besuch in dessen Privatwohnung machen. Ließ sich die Tochter sehen, so hoffte er wenigstens den Eindruck bei ihr zu verwischen, den er bei seinem ersten Auftreten als unglücklicher Beschäftigung Suchender auf sie gemacht haben mochte; nahm sie indessen seinen Besuch nicht an, was sich bei der Weise, in der sie ihn am Morgen verabschiedet, auch erwarten ließ, so konnte er damit sein Urtheil über diese Leute vervollständigen. Trotz der Ruhe indessen, mit welcher er sich den letzten Gedanken vor die Augen zu stellen suchte, überschlich ihn doch auf’s Neue das Gefühl von innerer Wundheit, welches er am Morgen nach dem ersten Empfange gehabt – das war dasselbe kleine Mädchen, das so oft nach „dem Joseph“ gerufen, wenn irgend eine Schwierigkeit bei einem unternommenen Spiele zu beseitigen war, oder eine vermeintliche Gefahr durch einen fremden Hund oder einen frechen Bettelbuben sich zeigte; es war sonderbar, wie treu mit einem Male alle diese längst untergegangenen Erinnerungen wieder in seiner Seele aufstiegen – und als er nach geraumer Weile aus einem Halbschlummer, der ihn überkommen, auffuhr, betraf er sich auf so wunderlichen, schon halb zum Traum gewordenen Phantasiebildern von seltsamen Genugthuungen, die sich sein Stolz ihr gegenüber schuf, von denen aber dennoch jede ihm das eigene [786] Herz zerschneiden wollte, daß er, unwillig auf sich selbst, sich auf die Seite warf und mit Vorstellungen seiner künftigen Wirksamkeit unter Cholera und gelbem Fieber seinen Gedanken einen neuen Weg wies. –

Es war am nächsten Morgen nach elf, als Behrend, nachdem er sorgfältig Toilette gemacht, sich zu dem einzigen Abschiedsbesuche, den er für nöthig fand, anschickte. Sein Koffer stand bereits neu gepackt und geschlossen. In den Frühstunden war er am Bord der „Lilly Dale“ gewesen, um sich über die genaue Abfahrtszeit zu unterrichten, hatte hier die neue Ladung beinahe schon völlig eingebracht gefunden, und der „Office-Clerk“ hatte es für möglich gehalten, daß das Boot bereits am Spät-Nachmittag seine Reise antrete, da es nur noch auf die geringe Vervollständigung seiner Fracht warte und sich nicht durch Einhalten einer bestimmten Abfahrtszeit nach den wenigen Passagieren, welche um diese Jahreszeit stromabwärts gingen, richten könne. Der junge Deutsche hatte also beschlossen, sobald er seine letzte Pflicht in der Stadt erfüllt, das Hotel zu verlassen und sich ohne Weiteres an Bord zu begeben.

Der Wohnungs-Anzeiger hatte ihn für seinen Besuch nach einer der fashionablen Straßen der Nordseite gewiesen, und nach kaum viertelstündigem Gange befand er sich einem bronzenen Gitter gegenüber, welches an seinem Eingange die angegebene Hausnummer zeigte und eine kleine geschmackvolle Gartenanlage, sowie das im Hintergründe befindliche villaähnliche Gebäude von der Straße abschloß. Ein Kiesweg führte ihn zwischen zwei riesigen Schattenbäumen nach dem von Säulen getragenen Portico, und nicht ohne ein leicht bedrückendes Gefühl der eigenen Unbedeutendheit diesen sichtlichen Zeichen des Reichthums gegenüber zog er die Klingel. Eine sauber gekleidete Negerin öffnete und wies ihn auf die Frage nach Miß Peters, seine Karte in Empfang nehmend, in den hohen Parlor, in welchem die zugezogenen schweren Damastgardinen ein wohlthuendes halbes Dämmerlicht geschaffen hatten. Eine eigenthümliche Spannung ließ den jungen Mann kaum einen Blick auf die reichen Umgebungen werfen; noch wußte er nicht, welchen Empfang er finden werde, und fast unwillkürlich waffnete er sich mit dem eigenen Stolze gegen Alles, was ihm die nächsten Minuten bringen konnten; er ward indessen ohne langes Harren seiner Ungewißheit entledigt. In der Vorhalle rauschten Frauengewänder, und die hohe, leichte Gestalt von Ellen Peters trat ein, wandte sich nach dem Fenster, um einen der Vorhänge zurückzuschlagen, und hob dann erst die Augen nach dem jetzt im vollen Lichte Stehenden. Es war ein wunderbar ernster, prüfender Blick, welcher den jungen Mann traf, und einen Augenblick fühlte sich dieser von der Erscheinung des Mädchens, welche, jetzt vom Hute und der frühern Umhüllung befreit, in der Fülle des dunkeln, glänzenden Haares und dem modernen, eng an die weichen Formen des seinen Oberkörpers sich anschließenden Jäckchen, eine völlig veränderte für ihn war, fast der errungenen Sicherheit beraubt; als sie aber mit einem leichten englischen: „Setzen Sie sich, Sir!“ nach dem nächsten Stuhle wies, ließ die kalte Ruhe ihres Tons ihn schnell seine Haltung wiedergewinnen.

„Ich komme nur, Miß Peters, um Ihnen ein Wort des Abschieds zu sagen, und Sie gestatten mir wohl, dies in unserer Muttersprache zu thun,“ begann er, ohne ihrer Einladung Folge zu leisten, „ich verlasse St. Louis noch heute, und so bleibt mir eben nur übrig, Ihnen meine Freude, Sie nach langer Zeit so glücklich wieder gesehen zu haben, auszudrücken.“

Sie hob wie in leichter Ueberraschung den Kopf. „Sie reisen wieder ab? Haben Sie meinen Vater schon gesprochen?“ fragte sie nach einer augenblicklichen Pause langsam.

„Ich habe nicht geglaubt, ihn noch einmal belästigen zu dürfen,“ erwiderte er ruhig, „ich kann mir lebhaft vorstellen, wie unbehaglich Besuche sind, in denen man nur den Ausdruck von unbequemen Wünschen oder Hoffnungen sieht, und schon als Colonel Webster sich so ungeschminkt über die hiesigen Aussichten für junge Kaufleute äußerte, that es mir leid, daß ich überhaupt gegen Mr. Peters von meinen Absichten gesprochen. – Aber,“ unterbrach er sich, während sie ernst und unverwandt das große Auge auf seinem Gesichte ruhen ließ, „bei Mr. Webster fällt mir ein, daß, wie ich höre, Sie zu diesem bald in das engste Verhältniß treten werden, und so darf ich wohl bei dieser Gelegenheit gleich meinen Glückwunsch zurücklassen, zu dem ich später doch kaum eine Gelegenheit finden würde!“

Sie antwortete nicht sogleich, und Behrend fühlte ihren Blick, trotz der Ruhe darin, auf sich haften, als wolle sie ihn bis in sein Innerstes senken; zugleich aber ward er sich bewußt, daß ihm bei aller angenommenen äußern Gleichgültigkeit die Worte doch nur durch eine stille Erregung und halbe Bitterkeit dictirt worden waren, die er fast außer seiner Controle fühlte.

„Setzen Sie sich einmal, Mr. Behrend,“ sagte sie plötzlich, während ein leiser Anflug von Farbe in ihr Gesicht trat, „mir ist es, als könnten Sie kaum von der geraden Wahrheit abgehen, und so sagen Sie mir ehrlich, was Sie von hier wegtreibt, ehe Sie mit meinem Vater gesprochen haben – ich weiß, daß er Sie erwartet hat!“ Sie nahm zugleich einen nahestehenden Fauteuil ein und deutete erwartend auf den nächsten Stuhl.

„Durchaus nichts Anderes, Miß, als die einfachen Thatsachen, die ich schon berührte,“ versetzte er, wie nothgedrungen ihrem Gebote folgend, „Mr. Peters hat mir, noch ehe ich irgend einen bestimmten Wunsch aussprach, auf das Unzweideutigste versichert, daß, wie sein eigenes Geschäft schon übervoll besetzt sei, es überhaupt in der Stadt keine Aussicht zu einem Engagement für mich gebe; von dem Letzteren habe ich mich bereits selbst überführt, und da ich es bitter hasse, irgend eine Rücksicht zu beanspruchen, die sich nicht von selbst gebietet, so habe ich es unterlassen, Mr. Peters noch einmal zu belästigen.“

Sie blickte ihn zwei Secunden auf’s Neue wortlos an, während sich jetzt indessen ihre Züge wie unter einem lächelnden Gedanken aufhellten. „Sie haben gestern eine Kindererinnerung in mir wach gerufen, an welche sich später von selbst andere geknüpft haben,“ sagte sie dann; „waren Sie nicht damals von einer so regen Empfindlichkeit, daß Sie einmal um irgend einer Ursache willen das schönste Kinderfest verließen?“

Es war ein seltsam gemischtes Gefühl, das sich in diesem Augenblicke des jungen Mannes bemächtigte; eine Empfindung von Glück, daß sie selbst die angeregten Erinnerungen weiter gesponnen, zitterte in ihm, während er dennoch auch den indirecten Vorwurf in ihren Worten erkannte und sich zugleich von der leichten Weise, mit welcher sie das Verfahren ihres Vaters gegen ihn zu behandeln schien, verletzt fühlte. „Ich habe immer nur gestrebt, mich vor unverdienten Demüthigungen zu bewahren, Miß, und was bei dem Kinde als Fehler erscheinen mag, bildet sich später oft zu einer für die Selbstachtung unerläßlichen Eigenschaft heraus,“ erwiderte er, ohne die verschiedenen Regungen in sich ganz verbergen zu können; „lassen Sie mich Ihnen aber herzlich für die Erwähnung jener Zeit danken, die mir seit gestern kaum wieder aus den Gedanken gewichen ist.“ Er erhob sich, als fürchte er, sich zu weit gehen zu lassen; das Mädchen aber, in deren Wangen bei seinen letzten Worten ein leises Roth gestiegen war, hob bei seiner Bewegung rasch den Kopf.

„Und Sie wollen meinen Vater vor Ihrer Abreise nicht noch einmal sprechen?“ fragte sie, langsam ihren Sitz verlassend.

„Gott, Miß, wenn ich nicht fürchten darf, ihm unbequem zu sein, so werde ich es ja gern als Pflicht betrachten, von ihm persönlich Abschied zu nehmen!“ erwiderte er, wie im leichten Kampfe mit sich selbst, und mit einem hellen Lächeln der Befriedigung reichte sie ihm jetzt die weiße, schmale Hand.

„So rechne ich darauf, Mr. Behrend,“ sagte sie, „und ich will wünschen, daß Sie es nicht für nöthig finden, so schnell schon St. Louis zu verlassen!“ –

Als er eine Minute darauf wieder die Straße betrat und den Weg nach dem Geschäftstheile der Stadt einschlug, schüttelte er leise den Kopf. „Für mich aber wird es recht gut sein, bald wegzukommen, um nicht zuletzt noch einer Hochzeit beiwohnen zu müssen, die mir das halbe Leben verbittern könnte!“ brummte er; nach einer Weile stillen Sinnens indessen reckte er kräftig die Schultern. „Weg damit!“ sagte er mit Energie in dem halbunterdrückten Tone, „Herzensnoth wäre es gerade, was mir zu meinem übrigen Elende noch gefehlt hätte!“

Eine Viertelstunde später stand er vor der ihm von Peters bezeichneten „Bank der Versicherungs-Compagnie“, deren glänzendes Schild er schon während seiner Gänge am Tage vorher bemerkt gehabt, hielt aber den Griff der hohen Thür einen Augenblick mit zusammengezogenen Brauen in seiner Hand, als überdenke er die zu sagenden Worte, ehe er öffnete. Ein weites helles Zimmer, dessen Länge ein breiter, eleganter Zahltisch durchschnitt und die Reihe der dahinter emsig an ihren Pulten arbeitenden Clerks von dem übrigen Raume abtrennte, nahm ihn auf und gab ihm schon beim ersten Ueberblick eine Idee von der Ausdehnung des Geschäfts. [787] Niemand schien seinen Eintritt zu beachten, und als er sich an den nächsten der jungen Leute mit der Frage nach Mr. Peters, den er persönlich zu sprechen habe, wandte, wurde er mit einem kurzen: „In seinem Zimmer, Sir!“ nach einer Thür am Ende des Raums gewiesen. Unwillkürlich überkam den Eingetretenen gegenüber dieser achtunggebietenden Stille und unverrückbaren Emsigkeit um ihn her das Gefühl einer leichten, respectvollen Scheu vor dem Manne, dem er soeben entgegentreten wollte; indessen hatte er ihn ja in nichts zu beanspruchen, kam im Gegentheil, um ihn der Verpflichtung gegen einen hülfreich gewesenen Freund zu entheben und als Behrend die bezeichnete Thür öffnete, hatte er völlig seine frühere Stimmung gegen den Bankier wiedergefunden. Noch geschärft ward diese aber, als ihm beim Eintritt in das einfach, aber behaglich eingerichtete Arbeitszimmer die Stimme Webster’s entgegenklang und Peters, bequem in den Lehnsessel vor seinem Schreibtische zurückgelehnt, nach dem ersten aufschauenden Blicke den Ankömmling kaum weiter zu beachten schien.

„Well, Sir, ich kann Ihnen nur sagen, daß Sie mehr Glück haben als andere Leute, die bei der jetzt beginnenden Jahreszeit oft nicht halbe Fracht für den Süden auftreiben,“ ließ sich der Hausherr hören, während Webster sich von der Seitenlehne des Sophas, auf welcher er nachlässig gesessen, erhob, als wolle er in Gegenwart des fremden Zeugen das Gespräch abbrechen.

„Well, Sir, die eigene Speculation muß eben nachhelfen, worauf sich nicht Jeder einlassen mag,“ sagte der Letztere sich zum Gehen anschickend, und vor Behrend stand bei dem eigenthümlichen Tonfall in der Stimme des Redenden plötzlich wieder das belauschte Gespräch vom Abend zuvor; der Deutsche hätte jetzt darauf geschworen, in dem gestrigen Hauptsprecher Webster vor sich gehabt zu haben, der ganze Inhalt der geheimen Unterredung schien auch völlig mit dem Geschäftsbetriebe des Dampfboot-Eigenthümers in Verbindung zu stehen; umsonst aber versuchte Behrend noch jetzt unwillkürlich ein Verständniß des Gehörten in sich zu erwecken und entschlug sich endlich jeden Gedankens um eine Angelegenheit, die ihn zuletzt doch in keiner Weise berühren konnte.

„Und wann geht das Boot?“ fragte der Bankier, als Webster eine Bewegung zum Abschied machte, „ich habe vielleicht selbst noch eine Art Frachtstück mitzugeben, möchte aber dafür die letzte Zeit zur Einlieferung wissen.“

„Ich denke bis vier oder fünf Uhr Alles an Bord zu haben, Sir, und sehe dann keinen Grund, die Abfahrt zu verzögern!“ war die Erwiderung; Peters nickte ruhig, und der Andere verabschiedete sich leicht, ohne von dem noch unweit des Einganges harrenden jungen Manne Notiz zu nehmen. Erst als die Thür hinter dem Abgehenden sich geschlossen, wandte sich der Bankier, seinem Stuhle eine Schwenkung gebend, nach dem Dastehenden.

„Well, Sir, Sie haben auf sich warten lassen,“ begann er, und derselbe eigenthümliche, halb spöttische Zug, den Behrend schon bemerkt, als ihn Peters nach seiner ersten Vorstellung hatte zurückrufen lassen, machte sich wieder um des Sprechers Mund bemerkbar; „Sie haben mir nicht geglaubt und auf eigene Faust Ihr Heil versucht, wie ich gehört? Sind in einem Punkte genau wie Ihr Vater, der auch stets absprang wie Stahl, wo er meinte, daß seine gerechten Erwartungen nicht sogleich erfüllt würden; das thut’s aber in einer Zeit, wie wir sie jetzt hier haben, nicht. Was denn nun, da Sie mir eigentlich schon den Weg verfahren haben, wenn ich auch vielleicht etwas für Sie hätte thun können?“

Behrend hatte mit völlig ruhigem Gesichte den Bankier aussprechen lassen, aber er meinte mit doppelter Stärke die Genugthuung zu fühlen, welche ihm sein gefaßter Entschluß jetzt bot. „Ich glaube, Mr. Peters, daß Sie mir gestern schon die Nutzlosigkeit einer Bemühung in meinem Interesse andeuteten,“ sagte er kalt, „und so komme ich jetzt auch nur, um Ihnen ein schuldiges Adieu zu sagen, da ich am Nachmittag wieder abreisen werde!“

Der Alte hob langsam den Kopf, während sein Gesicht plötzlich ernst wurde. „Sie reisen wieder ab; so, so!“ sagte er nach einer kurzen Pause, „meinten jedenfalls, die offenen Stellen hier nur auf Ihre Fähigkeiten warten zu finden – gerade das, was ich gestern fürchtete. Nun möchte ich Ihnen aber sagen, daß Sie mit Ihrer kurzen Weise kaum etwas erreichen werden, als Ihr Geld zu verreisen und doch zu keinem Zwecke zu kommen!“

„Ich muß es eben riskiren, Mr. Peters; ich habe hier gestern einen New-Yorker Collegen als Karrenfuhrmann sein Brod verdienen sehen, und ein solcher Lebensunterhalt bleibt mir wohl überall, während ich für anderwärts immer noch Hoffnungen hegen darf, die ich hier nicht habe!“

„Die Sie hier nicht haben?“ unterbrach ihn Peters, die Hände auf die Armlehnen seines Sessels stützend, als wolle er sich in einer plötzlichen Erregung des Unmuths erheben. „Wenn ich Ihnen gleich bei Ihrer Ankunft die hochfliegenden Illusionen nehmen wollte, mit denen zu seinem Schaden Jeder, der einen Empfehlungsbrief in der Tasche gehabt, hierher gekommen ist: müssen Sie dann auch voraussetzen, ich werde mich überhaupt nicht um Sie kümmern? Habe ich Ihnen nicht angedeutet, wie viel ich auf Ihren Vater halte, und Sie zu einem ausführlichen Gespräche eingeladen?“

Behrend schüttelte mit einer leichten, höflichen Neigung den Kopf. „Sie haben mir selbst die gänzliche Hoffnungslosigkeit für ein baldiges Engagement angedeutet, Mr. Peters, meine gestrigen Erfahrungen haben diese nur bestätigt, und so würde jede Güte Ihrerseits, die mein Hierbleiben ermöglichte, für die ich aber in keiner Weise auszukommen vermöchte, mich doch nur vor mir selbst demüthigen müssen. Ich danke Ihnen herzlich, Mr. Peters, aber da nun einmal hier ein geschäftliches Unterkommen vor der Hand nicht möglich ist, so muß ich es eben wo anders suchen. Ich habe bei der kommenden Jahreszeit sichere Aussicht in New-Orleans beschäftigt zu werden, die Hitze genirt mich wenig, das gelbe Fieber ist noch nicht da und auch nicht jedes Jahr gleich bösartig, also denke ich dort einmal mein Heil zu versuchen.“

Peters schüttelte unmuthig den Kopf und drehte sich dann halb seinem Schreibtische wieder zu. „Ich kann Ihnen nur sagen, daß Sie eine Tollheit begehen, Sir!“ sagte er nach kurzem Sinnen; „haben Sie denn aber wenigstens Geld genug zur Rückreise, falls eine bessere Ueberlegung noch zur rechten Zeit käme – oder ist eine solche Frage auch gegen Ihre Ehre?“

„Ich bin noch genügend versehen, sonst würde ich mich freimüthig um eine Aushülfe für kurze Zeit an Sie gewandt haben,“ erwiderte der junge Mann ruhig. „Sie beurtheilen wohl meine Gefühlsweise, die mich zu dem jetzigen Schritte drängt, nicht ganz richtig, Mr. Peters; Sie haben selbst Ihren Weg nur durch die eigene Thatkraft gemacht, und wenn ich mich nicht auf außergewöhnliche Rücksichten oder gar Wohlthaten, die nicht einmal ihren Grund in mir selbst finden, stützen mag, so glaubte ich, daß Sie mich verstehen könnten!“

„Ich verstehe Sie recht gut, besser als Sie sich vielleicht selbst, Sir; aber ich weiß auch, daß das Sprechen hier zu nichts mehr führt,“ nickte der Alte und hielt eine kurze Weile den Blick vor sich auf den Boden geheftet. „Alles, was ich Ihnen noch rathen will, fuhr er dann langsam fort, „ist, daß Sie sich wenigstens nicht so ohne Weiteres in Ihr voraussichtliches Verderben stürzen, sondern sich unterwegs nach einer Chance, die sich Ihnen bieten könnte, umsehen. Ich will Ihnen zwei Briefe für Memphis zurecht machen; die „Lilly Dale“, mit welcher Sie jedenfalls gehen, hat starke Ladung dahin und wird für einige Stunden anlegen müssen. Sollte es dort aber auch mit einer Stellung nichts sein, so erkundigen Sie sich vielleicht des Genaueren über das Sommerleben in New-Orleans und die Sterblichkeit unter den neuen Ankömmlingen. Ich sage Ihnen das Letztere um Ihres Vaters willen, sonst würde ich bei Ihrem so bestimmten Entschlusse kein weiteres Wort darüber verloren haben. Die Briefe werden in zwei Stunden für Sie bereit liegen.“

„Ich nehme mit dankbarstem Herzen Ihre Freundlichkeit an, Mr. Peters!“ beeilte sich jetzt Behrend zu erwidern, aber mit einem kurzen, unmuthigen: „Schon recht, Sir!“ drehte sich der Bankier seinem Schreibtische zu und gab damit das Zeichen der Entlassung.

Als der junge Mann die Straße wieder erreicht, wußte er kaum, ob er mit sich zufrieden oder unzufrieden sein solle. Wenn er an Ellen dachte, fühlte er, daß es ihm unmöglich gewesen wäre, eine Existenz anzunehmen, wie sie der Alte vorläufig wohl für ihn beabsichtigt, eine Existenz, die sich nur auf dessen Wohlthaten irgend einer Art stützen konnte, bis eine glückliche Gelegenheit ihm ein wirkliches Unterkommen verschaffte; – fühlte überdies, daß er auf den ihm gewordenen Empfang bei seiner Ankunft kaum anders als durch eine volle, stolze Selbstständigkeit habe antworten dürfen, wenn diese Empfangsweise auch, wie Peters jetzt meinte, auf sein Bestes abgezielt habe – und dennoch war es ihm daneben, als sei er zu kurz und schroff in seinem Verfahren gewesen und habe sich selbst damit geschadet.

[788] Indessen blieb in jedem Falle die Hauptsache wie sie war, und so strebte er, seinem Hotel zuschreitend, jeden Gedanken, der seinen Muth für den einmal gefaßten Entschluß hätte herabstimmen können, zu verbannen. Ein wohlthuender Gedanke aber war es ihm trotzdem, daß Memphis, wie die eigentliche letzte Entscheidung, noch zwischen ihm und New-Orleans lag, und er dankte dem Alten im Stillen, daß er ihm diesen Haltpunkt zur nochmaligen Frage an sein Schicksal auf den Weg gelegt.

Es war drei Uhr vorüber, als Behrend mit seinem Gepäck den Bord des Dampfbootes betreten hatte, und den qualmenden Schornsteinen nach schien er kaum viel zu früh angelangt zu sein. Die Briefe nach Memphis befanden sich in seinem Taschenbuche; sie waren ihm indessen durch einen der Clerks in der Bank übergeben worden, da Mr. Peters, wie es hieß, das Geschäft bereits verlassen habe, und diese Abwesenheit hatte dem jungen Manne fast wie ein letztes Zeichen des Unmuthes, welches ihm der Alte mit auf den Weg gebe, erscheinen wollen, das ihn jetzt drücke, er konnte sich selbst nicht erklären weshalb.

Das Innere des Fahrzeugs zeigte noch das gewöhnliche Durcheinander von ab- und zugehenden Reisenden, Gepäckträgern und ordnender Bootsdienerschaft vor der Abfahrt, und Behrend hatte es sich abseits auf einer der offenen Gallerien bequem gemacht, das Menschentreiben an der Landung beobachtend und unwillkürlich eine Parallele zwischen seinen Empfindungen, mit denen er gestern bei seiner Ankunft das Schauspiel betrachtet, und seinen jetzigen ziehend. Da blieb sein Auge plötzlich an einem von der Stadt heranrollenden offenen Wagen, der bald in kurzer Entfernung dem Boote gegenüber hielt, hängen, und sein Gesicht nahm die Blässe tiefer Erregung an; dort hatte eben der alte Peters den Boden betreten, während Ellen einer zweiten jungen Dame voran ihm mit leichtem Sprunge und ohne auf Beistand zu warten, folgte. Aber noch ein Anderer schien reges Interesse an der Angelangten zu nehmen; Webster war ihnen vom Eingange des Bootes rasch entgegen getreten, und vor seiner augenscheinlichen Ueberraschung schien das Gesicht des Bankiers fast seine ganze Steife aufgeben zu wollen. „Ich sagte Ihnen ja, daß ich Ihnen noch eine Art Frachtstück zu bringen hätte,“ hörte Behrend die Stimme des Alten, „nun sind es aber zwei geworden. Meiner Ellen ist es plötzlich in den Kopf geschossen, ihre heimreisende Freundin zu begleiten, und sie ist leider gewohnt, durchzusetzen, was ihr in den Sinn kommt!“

„Aber ich will doch nicht hoffen, daß die Reise weit geht, und Miß Peters uns für lange hier allein läßt?“ fragte der Angeredete hastig.

„Nur hinunter bis an die Ohio-Mündung, Sir – aber entschuldigen Sie mich einen Augenblick!“ gab Peters zurück und drehte sich nach dem Wagen, wo seine Tochter dem vom Bocke gesprungenen Schwarzen noch einzelne Anordnungen zurückzulassen schien.

Webster wandte das Gesicht nach dem Flusse, und Behrend sah ein kurzes, seltsames Zucken durch seine Züge gehen; ein unterdrückter Fluch schien sich plötzlich aus seinem Munde zu drängen, und dann, wie einem bestimmten Gedanken nachgebend, eilte er in das Boot zurück. Ehe indessen der Beobachtende noch Zeit gehabt, sich einen Gedanken über das eigenthümliche Wesen des Mannes zu machen, drang ein lauter Ruf desselben aus einem nahegelegenen Theile des Fahrzeugs zu ihm. „Wilson! Wilson!“ hörte er.

„Sir!“ tönte es als Antwort.

„Einen Augenblick hierher, aber ohne Verzug!“

Kein weiterer Laut ward hörbar, aber der eine Name „Wilson“ hatte den jungen Mann wie elektrisch berührt, es war derselbe, welcher gestern Abend bei der belauschten geheimnißvollen Unterredung gefallen war, und einige Secunden lang wurde es dem Horcher, als sei mit seiner Anwesenheit auf Webster’s Boote das besprochene lichtscheue Unternehmen an ihn selbst herangetreten und könne ihn in seine Verschlingungen hinein ziehen; als er indessen jetzt Peters und die beiden Damen das Boot betreten sah, wandten sich seine Gedanken dem unerwarteten Ereigniß zu, das ihn auf’s Neue in die Gesellschaft des Mädchens brachte, das er um seiner eigenen Ruhe willen am liebsten ganz gemieden hätte. Er hörte die kleine Gesellschaft die Treppe zum Salon heraufsteigen und war froh, ihr jetzt nicht in den Weg treten zu müssen, er hätte kaum selbst gewußt, welchen Ton gegen sie anzuschlagen. Da vernahm er nach einer kurzen Weile die Stimme des Alten durch die offene Thür zur Gallerie: „Der junge Behrend geht hinunter bis Memphis, oder auch weiter, wenn seinem Kopfe dort die Dinge nicht anstehen, und so ist wenigstens Jemand hier, an den Ihr Euch für irgend einen Nothfall werdet halten können!“

„Hoffentlich bedürfen wir der Adresse nicht, denn seiner bisherigen Weise nach wird er sich kaum sehen lassen!“ klang Ellen’s Stimme, und dem Lauscher schien eine Gereiztheit in ihrem Tone zu liegen, die ihm fast weh that. „Ich verstehe, daß sein Stolz sich beleidigt gefühlt haben kann, begreife aber diesen Trotz einer freundlichen Begegnung gegenüber nicht. Er wird eine Stellung in Memphis finden können, Vater?“

„Möglich, wenn es nicht wieder eine Beleidigung für seinen Stolz ist!“ erwiderte Peters trocken; „bei solchen Charakteren läßt sich nichts voraussagen, und sie legen auch den besten Willen lahm.“

„Aber wenn er nun wirklich in dieser Jahreszeit nach New-Orleans ginge, Vater?“ Und der plötzlich aufspringende Ton von Besorgniß in der Frage durchzitterte alle Nerven des Hörers.

„Und was könnte ich nach Allem, was ich ihm gesagt, nachdem er jede Hülfe, die ich unter den obwaltenden Umständen für ihn gehabt hätte, als ungehörige Wohlthat zurückgewiesen, dagegen thun, Tochter? In gewissen Verhältnissen ist ein Charakter wie der seinige Gold, während er in anderen Lagen zur Narrheit wird, gegen die, und wenn sie zum Selbstruin führte, sich äußerlich nicht ankämpfen läßt. Hat er noch die nöthige Vernunft, so wird ihm die rechte Besinnung kommen, ehe er New-Orleans erreicht.“

[801] Das Gespräch endete, und eine Zeitlang schwebte Behrend in der Besorgniß, die Redenden auf die Gallerie heraustreten zu sehen; aber er blieb allein, und nun wollte ein peinlicher Zustand der Ungewißheit über die Berechtigung zu seinem raschen Verfahren sich seiner bemächtigen, während die Stimme des Mädchens in ihrem verschiedenen Ausdrucke noch immer in seinem Ohre klang – da bog ein schwarzes Gesicht um die Ecke der vordern Gallerie, und der Dasitzende erkannte Bob, den Porter, welcher beim Anblicke des Deutschen mit einer wunderlichen Gesichtsverzerrung stehen blieb. Damit aber trat in einer plötzlichen Ideenverbindung auch Webster’s Gesicht vor die Seele des jungen Mannes. Er wußte jetzt mit einem Male, was seinen Stolz und seine Empfindlichkeit dem Alten gegenüber so geschärft; es war der Hochmuth jenes Menschen, dessen wegwerfender Antwort ihn Peters schon bei seiner Ankunft preisgegeben, jenes Menschen, welcher der Verlobte Ellen’s war, und er wußte nun auch, was ihn in näherer Berührung mit dem Bankier und dessen Familie niemals hätte ausdauern lassen. Er war mit sich und seinem Entschlusse wieder völlig klar. Mit dem Gedanken an Webster aber waren auch alle Empfindungen, welche der letztgehörte Ruf desselben in ihm erzeugt, von Neuem erwacht, und mit unwillkürlicher Hast winkte er den Schwarzen zu sich heran.

„Well, Bob, es ist nun doch ein Mann, der Wilson heißt, unter der Schiffsmannschaft!“ sagte er, seine Stimme dämpfend, und der Herbeigetretene riß mit einer Miene, in welcher sich plötzlich Angst und Geheimniß wunderlich mischten, die Augen fast unnatürlich groß auf.

„Wissen Sie etwas davon, Sir?“ erwiderte er leise, mit einem scheuen Blicke auf die nächsten Umgebungen. „Ich bin nun ein Jahr auf dem Boote, aber ich habe ihn jetzt das erste Mal gesehen und reden hören.“

„Und was hat er mit Colonel Webster gesprochen?“ fragte Behrend, dem es klar war, daß der Schwarze soeben etwas von den zwischen Beiden gefallenen Worten aufgefangen haben mußte, halblaut und mühsam seine Spannung verbergend.

„Nichts, Sir, nichts, was nur einen Sinn für mich gehabt hätte,“ gab der Schwarze hastig und sich von Neuem scheu umblickend zurück, „aber wenn Sie etwas wüßten, Sir, und wollten mir ein Wort sagen – Sie frugen schon gestern nach dem Wilson –“ Die ängstliche Scheu in dem Wesen des Negers prägte sich jetzt in einem so seltsamen Mienenspiele aus, daß Behrend nur um so gespannter auf den Grund derselben wurde, zugleich sich aber auch überzeugt hielt, daß Jener, was auch beabsichtigt werden mochte, nirgends betheiligt war.

„Wir werden uns verständigen, Bob,“ nickte der junge Mann, seine Stimme zum halben Flüstern dämpfend, „laßt nur zuerst hören, was keinen Sinn für Euch gehabt und Euch doch in Schrecken gesetzt hat –!“

„Es waren nur die Gesichter, Sir,“ erwiderte der Schwarze eifrig; „ich bekam zuerst den Mr. Wilson vor’s Auge – ich dachte nicht an’s Horchen, Sir, ich stak zwischen dem Passagiergepäck, wo sie sich gerade hinstellten – und ich meinte dem leibhaftigen Teufel, wenn er über eine verlorene Seele lacht, in’s Gesicht zu sehen. Er lachte ganz heimlich, Sir, aber es fuhr mir in alle Knochen, und als ich nachher den Cornel ansah, meinte ich ihn kaum wieder zu erkennen, er hatte beinahe dasselbe Gesicht wie der Andere, so roth und verzogen. Sie sprachen nur ein paar kurze Worte, so lange sie still standen; Wilson sollte etwas nicht thun, so lange Miß Peters auf dem Boote sei, er schien sich aber nicht gern hinein zu fügen, weil er sich nicht um des Cornels Zärtlichkeiten, sondern nur um die beste Gelegenheit kümmern dürfe; der Cornel sagte nun etwas, das klang wie „Mörder“, wozu aber Wilson sein heimliches Lachen wieder aufschlug; dann gingen sie miteinander weg, aber ich sah noch, wie Wilson seine Hand hinreichte, als verspreche er den Willen des Cornels zu thun –“

Ein kurzes, scharfes Läuten der Schiffsglocke brach die Rede des Schwarzen ab; ein langgezogenes Brüllen der Dampfpfeife folgte nach, und mit einem hastigen Blicke in’s Freie, wo sich soeben Alles, was die Reise nicht mitmachte, vom Boote hinausgetreten zu zeigen begann, wandte sich der Sprechende zum Gehen. „Erlauben Sie mir wohl, Sir, Sie noch einmal anzureden, sobald es sich ruhiger thun läßt?“ fragte er eilig und sprang, nachdem ihm Behrend mit einem bereitwilligen: „Nur los damit, Bob!“ zugenickt, in weiten Sätzen davon. Der junge Mann sah den Bankier bereits am Lande, sah, wie Webster zu ihm trat, ohne daß indessen der Beobachtende einen Blick in des Letzteren Gesicht hätte erhalten können, und in der Minute darauf begann sich das Boot aus der Reihe der übrigen Fahrzeuge in das freie Wasser hinaus zu schieben.




Zwei Tage lang war die „Lilly Dale“ in eintöniger Fahrt den Strom hinabgeschwommen, hatte nur zweimal angelegt, um sich des größten Theils ihrer Passagiere und einiger Frachtstücke zu entledigen, und trieb jetzt Memphis zu. Behrend saß in dem offenen Eingange zur Gallerie und schien seine Aufmerksamkeit zwischen [802] dem, was sich von den Vorgängen im Innern des Salons wahrnehmen ließ, und dem wunderlichen dicken Nebel zu theilen, welcher mit dem Niedergehen der Sonne aus dem breiten Strome aufstieg, anfänglich nur das Wasser und den unteren Theil des Fahrzeugs einhüllte, während die rothbestrahlten Ufer noch wie hinter einer Wolke hervorblickten, dann aber auch diese verbarg. Für den jungen Mann war die eintönige Fahrt indessen eine Zeit voll sich drängender Ereignisse gewesen.

Als das Boot St. Louis verlassen, hatte er mit dem Entschlusse den Salon betreten, seine unerwartete Reisegefährtin zu begrüßen und sich ihr für alle Nothfälle zur Verfügung zu stellen, dann aber jede weitere Berührung mit ihr zu vermeiden und so neuen zwecklosen Kämpfen mit sich selbst aus dem Wege zu gehen. Er hätte aber des letzteren Entschlusses kaum bedurft. Ellen Peters war ihm mit einer so kalten Gehaltenheit entgegengetreten, hatte ihm so formell für seine Erbietungen gedankt, daß von einer Annäherung seinerseits, selbst wenn er sie gewünscht, kaum die Rede hätte sein können, und umsonst hatte Behrend nach diesem Empfange sich selbst überreden wollen, daß die Weise desselben nur seinen Wünschen entsprochen. Jemehr er sich jedes Gedankens an das Mädchen zu entschlagen gestrebt, um so bestimmter hatte sich ihr Bild ihm aufgedrängt, und mehr als einmal ertappte er sich, daß er, in eine Ecke zurückgezogen, seine Augen unbewußt ihren graziösen Bewegungen folgen ließ oder sich im Anschauen ihrer Züge, in denen beim Gespräche mit ihrer heimkehrenden Freundin die ganze lebendige Anmuth von früher aufstrahlte, berauschte. Hätte sie eine ruhige Freundlichkeit gegen ihn beobachtet oder wenigstens seine Anwesenheit nicht so völlig ignorirt, so wäre ihm, wie er meinte, wohl mehr Kraft zur Bekämpfung einer Empfindung geworden, welche ihm unter den obwaltenden Verhältnissen selbst wie eine Lächerlichkeit erschien, als dieser Haltung gegenüber, die ihn durch ihre zurückweisende Kälte reizte, und ihm zugleich den Ton von Besorgniß in ihrer früheren Frage: „Aber wenn er nun wirklich nach New-Orleans ginge, Vater?“ diesen Ton, der noch immer aus seinem Herzen herauf klang, wie eine Sinnestäuschung erscheinen lassen wollte. Nur einmal meinte er bemerkt zu haben, daß sie sich mit ihm beschäftige. Es war kurz vor der Ohiomündung, an welcher sie mit der heimkehrenden Freundin das Boot verlassen sollte, als sie mitten im Gespräch mit der letzteren aufsah und wie unter einem bedrückenden Gedanken die Augen suchend über die wenigen in dem geräumigen Salon zerstreuten männlichen Gestalten laufen ließ, bis sie ihn in seiner Ecke entdeckt. Fast war es ihm, wie jetzt ihr Blick in dem seinen hängen blieb, als drücke sich eine Art ängstlicher Theilnahme darin aus, und in dem jungen Manne zuckte es, sich zu erheben und ihr, noch ehe das Boot anlegte und sie es verlassen mußte, ein herzliches Wort des Abschieds zu sagen; da aber senkte sie plötzlich, wie sich ihrer bewußt werdend, das Gesicht, und ihr nächster Ausblick zeigte ihm so kalte, steife Züge, als wolle sie damit ihr augenblickliches Sichgehenlassen ausgleichen. Behrend konnte einem Gefühle tiefinnerlicher Verletzung nicht wehren, er erhob sich rasch und wandte sich nach seiner „Cabin“, um dort sich auf sein Bett zu werfen, bis das Boot die Landungsstelle, welcher es zusteuerte, wieder verlassen haben würde. Sobald das Mädchen dort einmal das Ufer betreten, mußten alle diese quälenden Gefühlserregungen für ihn ein Ende nehmen.

Fast war ihm unter dieser ausschließlichen Beschäftigung mit sich selbst der Gedanke an jene seltsamen Unterredungen Webster’s mit einem Menschen, der kaum zu einer guten Vermuthung Anlaß geben konnte, aus der Seele gewichen; er sollte indessen auf eine überraschende Weise daran erinnert werden.

Das Boot hatte am Lande angelegt und begann wieder in sein Fahrwasser einzubiegen; nur die wenigen Passagiere, welche trotz der Jahreszeit weiter südwärts gingen, waren an Bord geblieben, und fast hatte das auffällig kurze Verbleiben an der Landung darauf schließen lassen, daß dem Capitain, der übrigens noch nirgends sichtbar geworden, kaum etwas an einem Ersatze der abgegangenen „lebendigen Fracht“ liege. Behrend war, sobald er das wiederbeginnende Arbeiten der Maschine gehört, aus seiner „Cabin“ in den jetzt völlig leeren Salon getreten und hatte sich einem der Seitenausgänge zugewandt, um dort einen letzten Blick auf die Landung und damit vielleicht auf Ellen, welche hier das Ende ihrer Reise gefunden und wohl auf Nimmerwiedersehen geschieden war, zu erlangen. Da trat ihm durch die offene Thür ein Gesicht entgegen und drehte sich, ohne ihn zu beachten, nach der im vordern Theile des Boots befindlichen Office, in welchem ihm sofort das treue Bild, welches Bob von Wilson’s Erscheinung entworfen, in die Augen sprang. Unwillkürlich wandte er sich, um dem Eingetretenen nachzublicken, und sah, wie der „Office-Clerk“, als habe er jenen bereits erwartet, hinter seinem Pulte hervor und dem Nahenden entgegentrat.

„Halloh, Butler, so eilig?“ rief der Letztere, ohne seiner Stimme einen Zwang anzulegen, „was kann’s denn jetzt noch geben?“ Und in diesem „jetzt noch“ meinte Behrend ganz den satanischen Hohn klingen zu hören, wie Bob ihn angedeutet.

„Es kann nicht nur geben, es giebt, Sir!“ war die hastige gedämpfte Antwort, mit welcher der „Office-Clerk“ dicht an den Andern herantrat, „sie hat weitere Passage bis Memphis genommen und nicht daran gedacht, das Boot zu verlassen – was nun?“

Behrend, welcher bei dem ersten gefallenen Worte sich wieder in die Deckung des Ausgangs zurückgezogen, meinte plötzlich einen Stich in der Herzgegend zu fühlen; Alles, was Bob ihm von dem letzten Gespräche zwischen Webster und diesem Wilson mitgetheilt, war mit der Schnelle des Blitzes vor ihn getreten; er verstand in keiner Weise, um was es sich handelte, aber er wußte, daß diese „sie“ doch nur Ellen Peters sein konnte.

Eine momentane Pause, wie unter der Macht einer unvorhergesehenen Nachricht, war eingetreten. „Sie geht noch mit uns?“ klang dann Wilson’s hörbar unterdrückte Stimme von einem leisen, heiseren Lachen begleitet, „und ganz allein?“

„Sie scheint sich der einzigen Lady, die Passage bis Memphis genommen hat, angeschlossen zu haben,“ war die halblaute Antwort, „die Andere, welche früher bei ihr war, ist hier an’s Land gegangen.“

„Nun, verdammt will ich sein, wenn ich mich nur eine Minute lang daran kehre!“ erwiderte Wilson, man wußte aber kaum, klang Lachen oder Aerger in seinem Tone, „ich habe bis hierher mein Wort gehalten, von Weiterem aber weiß ich nichts.“

„Noch einen Augenblick, Wilson!“ sagte der „Office-Clerk“ hastig, als habe sich Jener zum Gehen gewandt, und die ferneren Worte wurden in einem jetzt folgenden Flüstern unhörbar; Behrend aber hielt es für gerathen, auf die Gallerie hinaus zu treten, um jeden Schein, als habe er von der stattgefundenen Unterredung etwas vernommen, von sich zu halten. Es war ihm vor den eindrängenden Gedanken fast wirr im Kopfe – was konnte denn beabsichtigt werden, das mit ihr oder ihrer Anwesenheit auf dem Boote hätte in Verbindung stehen können – und was war es auf der andern Seite, das sie hier zurückgehalten, sie zum Verlassen ihrer Freundin und zur Weiterfahrt vermocht? Der Gedanke durchschoß ihn, zu ihr zu reden, ihr Alles, was er beobachtet und gehört, mitzutheilen und sich damit vielleicht selbst Klarheit zu schaffen; aber wenn sie seine Einmischung in ihre Angelegenheiten hätte dulden wollen, wäre sie dann nicht längst eine Andere gegen ihn gewesen? Er dachte an Bob, den er seit der Abfahrt von St. Louis nicht wieder gesehen, diesem mußte Gelegenheit zu weiterer Beobachtung geworden sein – und froh, wenigstens einen Gedanken zu haben, dem er nachzugehen vermochte, begann er langsam das Boot zu durchwandern, um des Schwarzen habhaft zu werden. Was noch von Reisenden an Bord war, mußte sich in die Cabins zurückgezogen haben, denn der Salon und die Gallerien waren leer; aber auch als er nach dem untern Deck, das zum großen Theile mit Frachtgütern besetzt war, hinabstieg, fiel ihm der Mangel aller Arbeiter auf, und er hatte sich erst scharf umzublicken, ehe er außer dem Wächter an der Maschine einen zweiten Menschen entdeckte. Auf seine Frage nach dem Gesuchten ward er kurz nach einem Verschlage gewiesen; als er aber dort die Thür öffnete, prallte er fast vor dem sich ihm entgegenhebenden Gesichte des Schwarzen zurück. Ueber die Nase desselben lief ein breites Pflaster, die wulstige Oberlippe war wie von einem Schlage halb durchrissen, und eins seiner Augen, welches hervorgequollen und blutig im Kopfe hing, schien der Verwundete soeben mit Wasser zu kühlen. Mit einer Grimasse, wunderlich aus Höflichkeit und Schmerz gemischt, begrüßte dieser den Eintretenden, dann aber schloß er hastig die Thür und wie den Gesichtsausdruck Behrend’s beantwortend sagte er halblaut: „Es ist wirklich der Bob, Sir, und so hat ihn der rothe Teufel zugerichtet. Der meinte, ich belauere seine Schritte, was er mir austreiben wolle; aber bei Jesus Christ, Sir, ich denke es ihm nicht schuldig zu bleiben – ich habe hier schon genug gesehen! – Nichts, Sir, nichts, was von sich schon sprechen ließe,“ [803] unterbrach er sich ängstlich, als Behrend zu einer Frage ansetzte; „aber seien Sie ganz ruhig, ich bin auf der Lauer, Tag und Nacht – die Deckarbeiter sind alle weggeschickt, daß er hier reine Bahn haben will, aber der Bob ist noch da, es soll nichts passiren, ohne daß Sie zu rechter Zeit Nachricht haben, Sir – und nun, bitte, gehen Sie, Sir, er hat seine Augen überall!“

Behrend fühlte selbst, daß ein längerer Aufenthalt in der schmutzigen Kammer des Schwarzen auffallen könne, und nahm diesem nur noch das Versprechen ab, ihn mit Dunkelwerden in seiner Cabin aufzusuchen – sich dann mit einem Gefühle entfernend, als solle jetzt erst eine bestimmte Unruhe über etwas Bevorstehendes, von welchem ihm doch jede Vorstellung fehlte, in ihm erwachen. Selbst als er, wieder auf die Gallerie gelangt, das Auge über die sonnenbeglänzte, oft von grünen Inseln unterbrochene Stromfläche und die beiden mit üppigem Gebüsch in den prächtigsten Schattirungen besetzten Ufer gleiten ließ, wollte das Bild ihm keinen freundlicheren Gedanken geben; es lag etwas in der großartigen Einsamkeit rings umher, zusammen mit der eigenthümlichen Menschenleere in dem Boote, das einmal aufgestiegene beängstigende Gedanken nur nähren konnte.

Das war am Spätmorgen gewesen. Behrend hatte, nachdem er sich Bilder der verschiedensten Gefahren vor Augen geführt, ohne daß er doch eins derselben mit den Verhältnissen um ihn in eine vernünftige Verbindung hätte bringen können, sich mit dem Bewußtsein seiner eigenen Kraft beruhigt; er war ein Schwimmer, der sich getraute, mit Leichtigkett das nächste Ufer zu erreichen – und mehr, als in’s Wasser geworfen zu werden, konnte ihm doch kaum geschehen und hatte dann seine Gedanken wieder dem Räthsel, das Ellen Peters ohne eine sichere Begleitung noch weiter dem Süden entgegenführte, zugewandt. Er dachte jetzt nicht daran es zu lösen, aber er sah ungeduldig dem Mittag entgegen, wo sie bei Tische sichtbar werden und er Gewißheit über ihre Anwesenheit erlangen mußte. Und das Mädchen war an der Seite einer ältlichen Frau erschienen, hatte mit einem halb scheuen, grüßenden Blicke auf den jungen Mann unter einem leichten, flüchtigen Erröthen eins der wenigen Couverts in Besitz genommen, dann aber das ernste Auge nicht von ihrem Teller aufgeschlagen und nach beendeter Mahlzeit wortlos den Tisch wieder verlassen.

Und jetzt, bei niedergehender Sonne, saß Behrend in dem offenen Eingange zur Gallerie, bald den Blick in den über dem Flusse aufsteigenden Nebel richtend, der nach Kurzem jeden Schritt Fernsicht nach außen verwehrte, bald das Auge nach dem Damensalon wendend, wo Ellen erst vor Kurzem wieder mit ihrer Begleiterin sichtbar geworden war. Es hätte ihm jetzt fast lächerlich erscheinen mögen, daß bei der eingetretenen Vereinsamung auf dem Boote sie Beide sich noch in dieser steifen Entfernung von einander hielten, wenn nur nicht ein Gefühl von Schmerz, daß eben die Verhältnisse zwischen ihnen nichts Anderes fordern ließen, die Oberhand in ihm gehabt hätte. Er war der arme Mensch, der, um sein Brod zu suchen, gezwungen war, nach New-Orleans zu gehen, und dessen „Trotz“: vom Mitleide keine Unterstützung anzunehmen, nicht einmal begriffen worden war; sie war die Bankiers-Tochter, die Verlobte des Dampfboot-Eigenthümers, die sich kaum mehr ihrer Kindheit in Deutschland entsann – was hatten sie beide mit einander zu schaffen? Er hatte mit seiner Jugenderinnerung eine unsinnige Leidenschaft in sich entstehen lassen; was wußte sie aber davon, oder wie hätte sie auch nur dadurch berührt werden können?

Draußen war mit der hereinbrechenden Dämmerung der Nebel immer undurchdringlicher geworden; es war ganz ein Wetter, um auch bei der besten Vorsicht ein Unglück zu erleben, und dieselbe Unruhe, welcher sich Behrend nach seinem Gespräche mit Bob nicht hatte erwehren können, überkam ihn bei seinem nächsten Blicke in’s Freie von Neuem – jetzt indessen weniger seinethalber, als um des Mädchens willen, das hier ohne jeden natürlichen Schutz stand. Trotz der Entfernung, in welcher sie sich von ihm gehalten, erschien es ihm plötzlich als unabweisliche Gewissenspflicht, ihr nochmals für alle möglichen Fälle seinen Beistand anzubieten, mochte sie nun dieses neue Herantreten aufnehmen, wie sie wollte – und als die angezündeten Lampen den bereits dunkelnden Salon erhellten, erhob er sich rasch, als wolle er damit jedes Schwanken in seinem Entschlusse abschneiden. Schon nach seinen ersten Schritten schien sie seine Näherung bemerkt zu haben, und ihr langsam aufgerichtetes Gesicht verfärbte sich leicht.

„Ich wage es nochmals, Miß Peters, mich Ihnen in jeder Beziehung zur Disposition zu stellen,“ begann er herantretend, ohne eine leise Bewegung in seiner Stimme verbergen zu können; „wir bekommen eine Nebelnacht, wie sie auf diesen Fahrten oft nicht ohne Unannehmlichkeiten abgeht, und mir ist es, als stände ich Ihnen, wenigstens unter der jetzigen zusammengeschmolzenen Reisegesellschaft, noch am nächsten.“

Sie hatte ihn, während die Frau an ihrer Seite den Divan verlassen, mit großem, ernstem Ange angesehen. „Das heißt also,“ erwiderte sie langsam, „Sie bieten mir Ihre Unterstützung an, nachdem Sie jeden Dienst unsererseits von sich gewiesen? Wollen Sie mir wohl sagen, wodurch Sie mir näher als Andere ständen, nachdem Sie uns so völlig als Fremde behandelt haben?“ Es klang ein eigenthümlicher Ton, wie aus verletzter Seele kommend, in ihren Worten, welcher alle niedergehaltenen Empfindungen des jungen Mannes erregte.

„Aber, Miß, Sie thun mir Unrecht mit einem solchen Vergleiche,“ rief er eifrig, „was habe ich denn weiter gethan, als mich eines Anspruchs enthalten, zu dem ich nirgends berechtigt war? Oder hätten Sie, wenn ich jemals Ihre Beachtung gefunden, wirklich lieber einen Menschen in mir gesehen, der ruhig sich durch das Wohlwollen Anderer erhalten läßt, bis er in aller Bequemlichkeit ein anderes Unterkommen erlangen kann? Und überdies: trat mir denn Mr. Peters nicht wirklich als Fremder entgegen?“

Sie schüttelte leise den Kopf. „Sie beurtheilen Menschen und Dinge zu scharf,“ erwiderte sie, „und danach könnte ich jetzt ebenfalls sagen: ich muß mich eines Anspruchs an Ihren Beistand, zu dem ich nicht berechtigt bin, enthalten, Sie sind nur ein Fremder gegen mich gewesen – aber,“ fuhr sie, sich leicht erhebend fort, während ein schwaches Roth ihre Wangen zu färben begann, „ich bin nicht ganz so empfindlich stolz als Sie; ich fühle mich aus diesem menschenleeren Boote unangenehm allein und will gern mich nöthigenfalls auf Ihren Beistand stützen, wenn Sie mir nur versprechen, daß Sie bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit auch meine helfende Hand nicht zurückweisen wollen!“ Ihr Gesicht hatte sich wundersam aufgehellt, um ihren Mund stand ein halbes Lächeln, und ihre Augen hielten mit einem so eigenthümlichen Forschen seinen Blick gefangen, daß er sich wie vor einem neuen verwirrenden Räthsel zu fühlen begann.

„Ich weiß nicht, welcher Sinn in Ihren Worten liegen mag,“ erwiderte er, kaum noch an ein Verbergen seiner innern Bewegung denkend, „aber ich möchte Ihnen Alles versprechen, Miß, nur um Ihnen zu beweisen, daß ich nicht ein Urtheil verdiene, wie Sie es wohl über mich gefällt haben –“

Ihr Auge hatte unverwandt in dem seinen geruht und schien jetzt wie unter einer ansteigenden Empfindung tiefer und dunkler zu werden. „Ich habe also Ihr Wort für unsern Contract,“ sagte sie, ihm die Hand langsam entgegenstreckend, „und werde nun sehen, ob Ihr Stolz auch vielleicht gegen Ihre Neigung Farbe hält!“ Sie hatte sich bei den letzten Worten mit einem Lächeln, das wie Sonnenschein über ihre Züge ging, zum Gehen gewandt und schritt jetzt dem Platze, welchen ihre Gesellschafterin eingenommen hatte, zu. Behrend stand noch einen Moment ohne Regung und wandte sich dann wie mechanisch dem vordern Salon zu. Als er aber seinen frühern Sitz wieder erreicht, drückte er die Hand vor die Augen. „Was will sie von mir?“ sagte er halblaut, „sie wäre im Stande, mich das, was jetzt die größte aller Thorheiten wäre, begehen zu lassen!“ – –

Das Abendessen war in einem Schweigen vorübergegangen, welches eine allgemeine Verstimmung und Unbehaglichkeit unter der kleinen Zahl der Reisenden anzudeuten geschienen; die Damen hatten sich schon, nachdem sie den Tisch verlassen, in ihre Cabin zurückgezogen, die Männer waren bald ihrem Beispiele gefolgt, und auch Behrend lag nach Kurzem, nur halb ausgekleidet, auf seinem Bette, die offenen Augen durch die Glasthüre, welche jede Cabin mit der Gallerie verbindet, in den vom Mondlichte silbern gefärbten Nebel hinaus gerichtet, bald in seinen Empfindungen für das Mädchen, dessen Thun und Wesen er nicht zu erklären vermochte, sich verlierend, bald den einzelnen Tritten, welche noch in dem Fahrzeug laut wurden, horchend und vergebens den Eintritt des Schwarzen, der ihm Aufklärung über seine heutigen Andeutungen geben sollte, erwartend. Unter dem gleichmäßigen Geräusch der Maschine begann indessen der Schlaf über ihn zu kommen, ohne daß er sich dessen nur bewußt geworden wäre, und als er nach [804] kurzer Zeit, wie er meinte, von einem leichten Ruck des Boots wieder zum halben Wachen gelangte, stand ihm nur ein köstliches Traumbild vor der Seele, in das er sich schnell, ehe es völlig verschwand, wieder zu versenken suchte. Er sah sich auf einer grünen Wiese mit malerisch eingestreuten Gebüschpartien, zwischen denen soeben die kleine Helene Peters verschwand, noch einmal die großen prächtigen Augen lächelnd nach ihm zurückwendend. Sie war dasselbe kleine Mädchen, wie er es in Deutschland gekannt, und doch konnte das auch wieder nicht sein, denn er wußte ja, daß er sie über alle Begriffe liebe, daß er glaubte sterben zu müssen, wenn er sie in diesem Gewirre von Buschwerk nicht wieder zu finden vermöge. Er war ihr nachgeeilt; bald meinte er sie hier durch das Gesträuch rascheln zu hören, bald dort ihr Kleid verschwinden zu sehen, aber immer war es eine Täuschung, die ihn geäfft. Er fühlte endlich vor innerer Angst den Schweiß auf seine Stirn treten, die ganze Luft schien ihm heiß und erstickend zu werden, aber immer trieb es ihn vorwärts aus einem Irrweg in den andern – da hörte er plötzlich wie aus weiter Ferne: „Joseph, Joseph! Joseph, um Gotteswillen!“ Das war ihr Ruf, aber wie in Todesangst ausgestoßen und in einem Gefühle, als solle ihm das Herz springen, suchte er sich gerade Bahn durch das Gesträuch zu brechen – da erfolgte ein Schlag, als solle die Erde bersten; hoch auf fuhr der Schlafende und sah die verriegelte Thür seiner Cabin in Stücken hereinbrechen. „Joseph, Joseph!“ klang es noch immer, und: „Hier ist er, Ma’am, nur hierher!“ antwortete eine athemlose Stimme.

Die erste Empfindung, welche dem Aufgeschreckten zum Bewußtsein kam, war die einer glühenden, fast den Athem versetzenden Hitze; der nächste Augenblick ließ ihn eine durch die gesprengte Thür hereindringende flackernde Helle erkennen – dann stand er auf seinen Füßen und mit dem plötzlich sein Gehirn durchschießenden Gedanken: das Boot brennt! der im Nu in allen seinen ungewissen Befürchtungen Klarheit schuf, war er auch im Salon. Er hatte indessen kaum die auf der andern Seite des Fahrzeugs aus dem untern Raume empor lohenden Flammen, von denen dort soeben die äußere Gallerie ergriffen wurde, bemerkt und das Knistern und Prasseln ringsumher in sein Ohr aufgenommen, als eine weiße Gestalt ihm entgegen stürzte und athemlos, die Züge starr vor Entsetzen, seinen Arm faßte. Ein einziger Blick hatte ihn Ellen im spitzenbesetzten bis zum Halse geschlossenen Nachtgewande erkennen lassen. „Hier hinaus, es ist nirgends mehr ein anderer Ausgang,“ rief sie, nach der nächsten diesseitigen Thür zur Gallerie deutend, während ein Strahl von kräftiger Energie durch die Angst in ihrem Auge brach, „aber um Gotteswillin rasch Matratzen her, sonst sind wir doch verloren!“

„Hier sind sie schon!“ klang die keuchende Stimme Bob’s, welcher mit Bettstücken beladen aus einer der Cabins stürzte; im gleichen Augenblicke aber wurde ein Brechen und Prasseln laut, das jedes andere Geräusch verschlang, und mit einem hastigen: „Hierher, Joseph, mir nur nach!“ ergriff Ellen eine der Matratzen und flog, sie umschlingend, nach der noch unversehrten Gallerie, an welcher indessen ebenfalls die Flammen schon herauf zu lecken begannen. Als Behrend – in diesem Momente fast mehr von der Sorge für das Mädchen als für sich selbst erfaßt – ihr nacheilte, hörte er hinter sich die Schreckensrufe der erst jetzt aus ihren Cabins stürzenden übrigen Passagiere; aber er durfte nicht darauf achten – vor ihm hatte Ellen sich soeben auf die Barriere der Gallerie geschwungen und sprang ohne einen Augenblick der Zögerung in den von den Flammen erleuchteten Strom hinab. In der nächsten Secunde hatte er den Sprung ihr nach gethan; das laue Wasser schlug über ihm zusammen, und als er wieder auftauchte, sah er sie, die schwimmende Matratze umklammert haltend, ein Stück von sich auf der Oberfläche treiben. In diesem Augenblicke fuhr ein dritter Körper in den Strom hernieder, und zugleich meinte Behrend das schwimmende Fahrzeug auf sich zukommen zu sehen. Mit zwei kräftigen Stößen war er bei dem Mädchen; neben ihm aber tauchte jetzt, wie der Kopf eines schwarzen Pudels, Bob’s wolliges Haupt empor. „Rasch zur Seite, oder das Boot faßt uns!“ rief der Deutsche, „treten Sie nur mit den Füßen aus, Miß Ellen, und es wird von selbst gehen!“ Sie schien ihn indessen nicht gehört zu haben und blieb regungslos in ihrer Lage; dagegen fuhr der halbe Leib Bob’s mit einem Umblick nach den Flammen aus dem Wasser. „Der Nebel trügt, Sir, die Mordbrenner haben schon dafür gesorgt, daß es nicht nach dem Ufer treibt – die Maschine gehemmt und das Steuer festgemacht,“ sagte der Schwarze mit heiserer Stimme, „o, ich weiß Alles – aber jetzt nur nach dem Lande, helfen kann man doch nichts mehr!“

„Hierher, Bob!“ rief Behrend, welchen bei der Sicherheit, welche der Neger im Wasser zeigte, eine Art Beruhigung überkommen hatte, „wir nehmen die Lady zwischen uns und bringen sie so leicht an’s Ufer.“

„O, Miß Peters – sicherlich, Sir!“ war die eifrige Erwiderung, und in der nächsten Minute hatten Beide ihre Plätze zur Seite des regungslosen Mädchens genommen und begannen im kräftigen Ausstreichen mit ihr die Nähe des Boots zu verlassen.

Wenige Minuten Entfernung nur mochten sie im ruhigen Vorwärtsarbeiten zurückgelegt haben, als schon von dem Brande des Schiffs nur noch ein heller unbestimmter Schein zu erblicken war. Der Nebel lag dick wie zum Greifen auf dem Flusse, daß auch das Mondlicht sich nur wie ein Dämmerschein darin geltend machte, und durch Behrend’s Kopf, in welchem sich jetzt nur die Gedanken für das Allernächste klar zu bilden vermochten, schoß plötzlich eine Sorge über die eingeschlagene Richtung. Das Wasser floß hier so träge, daß man, ohne besonders fühlbaren Unterschied, die Strömung ebenso hätte durchschneiden als mit ihr gehen können; jedes andere Merkmal aber hielt der Nebel dicht verschleiert, und nach einigen neu verstrichenen Minuten, in welchen der junge Mann sich vergebens zu orientiren versucht, fragte er: „Bob, seid Ihr sicher, daß wir auch dem Ufer entgegen arbeiten?“

„Ich denke doch, Sir,“ war die Antwort, während der Oberkörper des Schwarzen zu einem neuen Rundblick aus dem Wasser fuhr, „wir sind von der Seite des Boots, gerade dem Lande zu, losgegangen, und das Boot müßte eine Schwenkung gemacht haben, wenn wir falsch sein sollten. Aber es braucht gut eine Viertelstunde oder auch länger, Sir, um das Stück Wasser zu durchschwimmen – wir müssen noch über die Hälfte vor uns haben, und ich hatte nur Sorge, ob die Matratze der Lady lange genug das Wasser zurückhalten werde.“

„Vorwärts denn, und so rasch wir vermögen!“ erwiderte Behrend mit einem Blicke nach dem Mädchen, deren schweres dunkeles Haar aufgelöst in das Wasser niederhing und die Aussicht in ihr Gesicht verdeckte, und wieder ging es in regelmäßigem Arbeiten in der frühern Richtung vorwärts.

[817] Wie lange dieses Arbeiten im Wasser gewährt, meinte der Deutsche endlich in keiner Weise mehr beurtheilen zu können; in dieser für das Auge undurchdringlichen Nebelmasse, welche fortdauernd über ihnen lag, schien ihm das Maß für die Zeit wie für die Schnelle ihrer Vorwärtsbewegung völlig verloren gegangen zu sein; er fühlte nur, daß er zu ermatten begann und daß er die bisherige Anstrengung kaum lange mehr werde ertragen können. „Sollten wir nicht bald am Ufer sein, Bob?“ fragte er wieder.

„Einen Augenblick ruhig, Sir! Hören Sie nichts?“ war die Antwort, deren Ton gleichfalls die eintretende Ermüdung andeutete. Behrend bemühte sich, den Kopf zu heben, und in sein gespanntes Ohr fielen plötzlich schrille Geigenklänge, zeitweise mit einem angestrengten, aber hörbar vom Nebel gedämpften „Ho ho!“ untermischt, das sich in seinem Tonfalle der wilden Melodie anschloß; der junge Mann vermochte sich die wunderliche Musik nicht zu erklären, aber er fühlte plötzlich seine Ermattung weichen – Land und Menschen mußten in unmittelbarer Nähe sein! „Es ist bei Gott der Dutch[2]-Henry, der vermuthlich den Brand bemerkt hat, und so sind wir doch auf dem falschen Wege gewesen,“ rief der Schwarze aufathmend, „thut aber jetzt nichts, wenn wir nur trockenen Boden unter die Füße bekommen!“

„Nicht das Ufer?“ frug Behrend mit einem unbestimmten Gefühle von Enttäuschung.

„Eine Insel, Sir, wir sind richtig mit der Strömung gegangen; aber es ist besser, als wenn wir im Sumpfe, in einem Rohrdickicht ohne Weg und Steg gelandet hätten. Nur vorwärts, jetzt weiß ich Bescheid!“

Nach kaum einer halben Minute neubelebten Ausstreichens der Schwimmenden wurden die Töne, die aus der Luft zu kommen schienen, in voller Deutlichkeit hörbar, und bald faßte Bob einen in das Wasser niederhängenden Zweig, während ein dunkler Schein in dem Nebel dicht emporgeschossenes Gebüsch andeutete. „Noch zehn Schritte weiter, so müssen wir an der Plattform sein!“ ließ sich Bob wieder hören – „so, jetzt vorsichtig, Sir, daß Sie sich nicht stoßen – so, jetzt gehen Sie vorweg, Sir, und helfen Sie der Lady hinauf!“

Behrend hatte abschüssigen Grund gefunden und sich zu einem schmalen Vorbau, welcher ein bequemes Landen ermöglichte, hinaufgearbeitet, während über ihm aus dem Nebel noch immer die schrille, seltsame Musik herabklang. Jetzt bog er sich nieder, um dem Mädchen, welches noch immer regungslos ihre Matratze umfaßt hielt, die nöthige Unterstützung zum Erreichen der Plattform zu geben; er hatte aber kaum, mit einem eindringlichen: „Ueberlassen Sie sich mir, Miß, und richten Sie sich auf!“ die Hände unter ihre Arme geschoben, als sie mit einer zuckenden krampfhaften Bewegung nur um so fester sich an ihren bisherigen Halt klammerte. „Miß Ellen, hören Sie mich nicht? wir sind am Lande!“ sprach Behrend noch eindringlicher, aber keine Antwort erfolgte, und eine plötzliche, peinliche Sorge über den Zustand des Mädchens schoß in der Seele des jungen Mannes auf. „Sie scheint nicht ganz bei sich zu sein, Bob, und wir werden versuchen müssen, sie mit der Matratze herauf zu schaffen,“ wandte er sich nach dem Schwarzen, welcher sich bequem in die über das Wasser ragenden Zweige des Gebüsches gehangen hatte; „könnt Ihr Halt genug bekommen, um zu helfen?“

„Wird kaum eine Mühe machen, Sir,“ war die Antwort, „ich werde heben, und dann fassen Sie nur richtig an!“ und mit der linken Hand einen festen Halt am Ufer ergreifend, brachte er die Schulter und den rechten Arm unter die Matratze. Behrend hatte, auf den Knieen liegend, von Neuem die Bewußtlose gefaßt, und mit einem lauten „lift up!“ des Negers hob sich das Lager auf die Plattform. Kaum hatte dieses aber, mit der unvermeidlichen Erschütterung, den festen Boden berührt, als das Mädchen auffuhr, ohne indessen ihren Halt zu lassen, und wild um sich blickte. „Helene, Helene!“ rief der junge Mann in einer Erregung, die ihn für einen Moment Gegenwart und Vergangenheit, Traum und Wahrheit wunderlich vermischen ließ, „wir haben ja nichts mehr zu fürchten, ich bin ja hier bei Ihnen!“ und kaum hatte ihr Auge sein Gesicht getroffen, als sich ein gepreßter unarticulirter Schrei ihrer Brust entriß, ihre Hände sich lösten und sie halb aufschnellend diese plötzlich mit einem: „Joseph, Joseph, halte mich!“ um seinen Hals warf. Dann aber schien mit einem Male alle Spannkraft aus ihrem Körper zu weichen, ihre Augen schlossen sich, ihr Kopf sank auf die Brust, und nur Behrend’s sie umschließende Arme hielten sie vom Niedergleiten zurück. – Von oben aus dem Nebel klang noch immer die tolle Musik herunter.

„Um Gotteswillen, Bob, ist denn hier irgend ein Unterkommen zur Hand?“ rief der junge Mann dem so eben auf’s Trockene springenden Neger zu, „es muß für die Lady hier gesorgt werden, sie ist bewußtlos!“

„Müssen nachsehen, Sir, ich weiß nur, daß hier der Dutch-Henry Holz schlägt und es an die vorbeifahrenden Dampfschiffe verkauft; dort vorn sitzt er jetzt mit der Fiedel auf seinem Vorrathshaufen, ich werde ihn aber geschwind heruntergeholt haben!“

[818] Ohne Aufenthalt verschwand der Schwarze landeinwärts im Nebel, und Behrend harrte, auf den Knieen liegend und den Kopf des ohnmächtigen Mädchens an seine Brust gebettet, unter einem Drange von Empfindungen, die einander ablösten und überflutheten, ehe sie einzeln ihm nur klar zum Bewußtsein gekommen, seiner Rückkehr. Die Luft war drückend warm, und kaum fühlte der Wartende eine Unannehmlichkeit von seiner nassen Bedeckung. Nach Kurzem vernahm er, wie die Geigenklänge abbrachen, und bald darauf machten sich in seiner Nähe Worte hörbar, in deren Accent er sofort den deutschen Sprecher erkannte.

„Schlechte Unterkunft für eine kranke Lady hier,“ klang es, „aber ein Schuft giebt mehr, als er hat, und wir wollen nur Gott danken, daß mir das Fiedeln noch zu rechter Zeit in die Gedanken gekommen ist; hättet sonst mit der Strömung glatt vorbei gehen können!“

„Und Ihnen selbst soll auch der Dank nicht ausbleiben, Landsmann!“ rief Behrend dem Nahenden deutsch entgegen.

„Bei Jingo! das ist wirklich ein Deutscher, so schlecht die auch hier im Baumwollenlande gedeihen!“ klang es gutgelaunt zurück, während, dem Schwarzen vorweg, eine kräftige, noch jugendliche Gestalt in grober Arbeitstracht, Geige und Bogen in der linken Hand tragend, aus dem Nebel heraustrat, bei Erblicken der Gruppe aber seinen Schritt anhielt und sich mit der Rechten unter den Hut fuhr. „Ja, da nehmen Sie nur das junge Frauenzimmer und kommen Sie,“ fuhr er nach kurzem Betrachten fort, „schlecht genug werden Sie es freilich für sie finden.“

„Nur Eins noch, Landsmann,“ fragte Behrend, den bei der einfachen Aufforderung plötzlich ein Gefühl überkam, als solle er eine Rücksichtslosigkeit gegen seine Schutzbefohlene begehen, „haben Sie nicht eine Frau hier, die Sie herbeirufen könnten?“

„Habe noch keine gefunden, die mit hierher gegangen wäre!“ erwiderte Dutch-Henry, ohne ein halbes Lachen zu unterdrücken, „wenn es aber im jetzigen Falle nöthig ist, werde ich eine vom Lande drüben beischaffen; bringen Sie nur die Lady so lange auf mein Bett, bei der Wärme schadet ihr das Bischen nasse Zeug nichts.“

Behrend hatte der Nothwendigkeit nachzugeben, aber er meinte, jeden Nerv einzeln in sich beben zu fühlen, als er sich jetzt niederbog und der Bewußtlosen Kopf auf seiner Schulter ruhen ließ, dann ihre weichen Glieder umschloß und nun, den schmiegsamen Körper bequem in seinen Armen, sich von den Knieen erhob. Vorsichtig folgte er dem voranschreitenden Landsmanne auf einem gebüschfreien Wege, bis ein kleines, niedriges Blockhaus vor ihnen stand und der Führer die Thür öffnete. Eine düster brennende Lampe erleuchtete den völlig rohen inneren Raum, der nur die allernöthigste, sichtlich von dem Eigenthümer selbst gezimmerte Ausstattung zeigte. Ueber den auf zwei verbundenen Holzkreuzen ruhenden Strohsack aber war ein preußischer Militär-Mantel als Decke gebreitet. Behrend dachte im Augenblicke nicht an eine Bemerkung der Verwunderung über die Anwesenheit des letzteren Gegenstandes; er schob diesen ruhig zurück, legte das Mädchen behutsam, rücksichtsvoll auf das Lager und hüllte sie zuletzt dicht in den über sie gebreiteten Mantel. Dann bog er das Ohr nach ihrem Munde; lange lauschte er angestrengt, aber endlich wußte er, daß er sich nicht getäuscht – er hatte ein leises, leises Athmen wahrgenommen und beruhigt richtete er sich jetzt auf, um sich nach seinem Wirthe umzusehen. Dieser schien aber, der offenen Thür nach, gar nicht mit eingetreten zu sein, und erst nach einer Weile hörte Behrend die derbe Stimme desselben in einiger Entfernung vom Hause dem Schwarzen zurufend, der sich jetzt plötzlich von Weitem in einzelnen leidenschaftlichen Ausrufungen vernehmen ließ. Verwundert horchte der junge Mann auf, hatte aber nur kurze Zeit auf eine Erklärung zu warten. Mit einem Lachen im Gesichte, das nur der Anblick des bleichen, ruhenden Mädchens nicht zum Ausbruch kommen zu lassen schien, trat Dutch-Henry ein und sagte, seine Stimme rücksichtsvoll dämpfend: „Das ist ein toller Nigger, und Sie müssen es verzeihen, Landsmann, daß ich Ihnen hier nicht behülflich war – schreit das schwarze Thier mit einem Male auf, und als ich mich umdrehe, sehe ich, wie er kopfüber wieder in den Fluß hinein setzt. So viel zu erkennen war, wollte er ein paar Gegenstände, die vom Dampfboote herunter kommen mochten, herausfischen, und wie es scheint, ist es ihm gelungen!“

Der Sprechende hatte noch kaum geendet, als sich das zerrissene Gesicht Bob’s schon zur Thür herein steckte. „Entschuldigen Sie,“ sagte der Letztere, behutsam, aber in sichtlicher Erregung eintretend, „Sie werden mir bezeugen, daß ich hier die beiden leeren Fässer aus dem Flusse geholt habe – der Nigger hat immer nur halben Glauben vor Gericht –“ er hielt mit einer halben Grimasse inne, als habe er mehr gesprochen, als er beabsichtigt.

„Zwei leere Fässer?“ fragte Behrend verwundert.

Yes, Sir!“ nickte Bob ernsthaft, „und Sie werden es noch erfahren, was sie zu bedeuten haben. – Sie wollten nach einer Frau für die junge Lady hier sehen, Master Henry,“ wandte er sich an den Genannten, „und wenn Sie mir ein Plätzchen in Ihrem Boote geben wollen, so gehe ich mit Ihnen!“

All right, da es einmal sein muß,“ erwiderte der Angeredete, seine Geige jetzt erst sorgfältig bei Seite legend, „der Landsmann wird sich ja wohl eine Stunde oder so etwas allein behelfen können!“

„Ich bin zu rechter Zeit wieder zurück, Sir, und werde daneben für Sie besorgt haben, was jetzt zum Nothwendigsten gehört,“ fiel der Schwarze ein, und Behrend, dem plötzlich erst der Gedanke an den Verlust seiner gesammten Habseligkeiten kam, griff mechanisch nach der Tasche seiner Beinkleider, wo immer sein Portemonnaie ruhte – das war indessen noch vorhanden.

„Nichts nothwendig, Sir, bis ich wieder zurück bin!“ rief der Schwarze, der seine Bewegung mißverstanden, und wandte sich mit einem mahnenden Blicke gegen Dutch-Henry nach der Thür.

„So lassen Sie sich die Zeit nicht lang werden!“ nickte dieser und folgte nach einem letzten Blicke auf die bleiche Mädchengestalt dem bereits vorausgetretenen Schwarzen.

Behrend ging langsam nach dem Tische, wo die Lampe stand, schnuppte die Flamme und schob den Docht weiter heraus; dann zog er einen Schemel an Ellen’s Lager, strich ihr leise und behutsam das feuchte aufgelöste Haar aus dem Gesicht und begann sich nun in ein Anschauen der hellbeleuchteten Züge, deren Reinheit und Schöne in ihrer jetzigen Unbeweglichkeit und Marmorblässe nur um so bestimmter hervortraten, zu versenken. Die gesammten Ereignisse der letzten zwei Stunden, von dem Momente, wo er ihr erstes „Joseph, Joseph!“ gehört, zogen noch einmal an ihm vorüber, aber sie erschienen ihm kaum anders als lebendige Traumbilder, und er wußte, daß mit dem Augenblicke, wo sie Beide ihren natürlichen Boden wieder betraten und die nüchterne Wirklichkeit sie umgab, auch die heutige Nacht wie ein Traum zwischen ihnen versinken mußte. Der alte Peters würde jedenfalls das Mögliche thun, um ihm seine Erkenntlichkeit zu beweisen, dennoch aber, schon des künftigen Schwiegersohns halber, die ganze Sache für sehr unangenehm halten – nur einen Augenblick schoß dem Sinnenden dabei der Gedanke an eine absichtliche Zerstörung des Dampfboots und Webster’s Antheil daran durch den Kopf; aber die Annahme war so kraß, so gewagt, und selbst die Auffindung eines möglichen Grundes dafür hätte er so wenig zu unternehmen vermocht, daß er die Idee ebenso schnell unterdrückte, als sie ihm gekommen war. Und als er jetzt in dieses stille Gesicht vor sich blickte, begann es ihn so schmerzlich zu drängen, einen ungestörten Abschied von dem schönsten Traume seines Lebens zu nehmen, so lange ihm dieses noch möglich sei, ehe sie die Augen aufschlüge und die kalten Verhältnisse der Welt wieder zwischen sie träten, daß er fast unwillkürlich sich erhob, sich über sie beugte, als wolle er den kleinsten ihrer Züge tief in sich aufnehmen, und dann, seinem vollen Herzen nicht mehr gebietend, mit seinen Lippen leise die ihrigen berührte. Aber fast mit der Bewegung eines halben Erschreckens richtete er sich wieder auf; er hatte einen warmen, weichen Mund, hatte merkbare Athemzüge gefühlt und soeben meinte er ihre Brust sich leicht heben zu sehen. In einer Art von Furcht, daß sie jetzt die Augen aufschlagen möge, faßte er seinen Schemel und zog sich damit behutsam ein Stück in das Zimmer zurück; als aber nach längerer Beobachtung sich nur ein beginnendes ruhiges Athmen als Veränderung an ihr zeigte, wandte er das Licht, daß der Schatten der Lampe auf sie fiel, ließ sich dann auf einem Schemel neben dem Tische nieder und drückte das Gesicht in seine beiden Hände, sich zuerst völlig seinen erregten Empfindungen und dann der über ihn kommenden Ermattung hingebend.

Erst als durch die offene Thür Stimmen hereindrangen, fuhr er wieder auf, ohne indessen sogleich zu wissen, ob er längere Zeit geschlafen oder nur im halbwachen Träumen dagesessen. Die Lampe war am Erlöschen, durch die Thür und das kleine Fenster ihr gegenüber aber drang der matte Schein des anbrechenden [819] Morgens. Er beeilte sich, das Licht wieder aufzustören; ehe er sich indessen noch über den Zustand seiner Schutzbefohlenen unterrichtet, trat, dem Dutch-Henry voran, eine ältliche Frau mit sicherem Schritte in’s Zimmer, legte, ohne den Anwesenden zu beachten, eine Partie Kleidungsstücke, welche sie über dem Arme getragen, auf den Tisch und breitete daneben vorsichtig eine halbe Hausapotheke von Fläschchen und Papierhüllen aus. Dann wandte sie sich nach dem Lager, schien sich eine kurze Weile von dem Zustande des Mädchens zu unterrichten und drehte sich hierauf erst mit einem Blicke voll unverhüllter Neugierde nach dem Deutschen, welcher sich schon bei ihrem Eintritte von seinem Sitze erhoben.

„Haben nichts für sie zu fürchten, junger Mann,“ sagte sie, „gehen Sie nur jetzt mit dem Henry, damit ich das Nöthige für sie besorgen kann!“

„Dank Ihnen, Ma’m,“ erwiderte Behrend, dem die Beziehung, welche der Ton der Sprechenden ausdrückte, auf das Herz fiel, „ich möchte Ihnen indessen der jungen Lady halber andeuten, daß ich diese zwar genau kenne, aber in keinem andern Verhältnisse als dem eines Reisegefährten zu ihr stehe!“

Er wollte sich mit einer höflichen Verbeugung nach der Thür wenden, aber Dutch-Henry trat ihm mit einem leichten Kopfwinken entgegen. „Ihr Zeug mag zwar wieder trocken sein,“ sagte er, „aber besser, Sie ziehen etwas über, es bläst jetzt kühl draußen!“ Damit hatte er aus der nächsten Ecke einen leichten Rock vom Pflocke in der Wand genommen und half diesen seinem Gaste ohne weiteres Fragen auf den Leib. „Ein Weniges vollkommen,“ lachte er, „aber das schadet niemals!“

Als Behrend beim Hinaustreten in den frischen Morgen, der keine Spur von Nebel mehr zeigte, noch einmal die Augen zurückwandte, meinte er eine bestimmte Bewegung Ellen’s wahrzunehmen; die zufallende Thür aber verhinderte einen zweiten Blick, und mit dem Gefühle, daß mit ihrem Erwachen die frühere trennende Schranke wieder zwischen ihm und ihr niedergefallen sei, folgte er seinem voranschreitenden Wirthe.

„Sie leben hier ziemlich einsam!“ begann er, nur um etwas zu reden.

„O, es ist nicht so schlimm, als es aussieht,“ war die lebendige Antwort, „ich habe Verbindung mit dem Tennessee Ufer, und übrigens möchte ich wissen, ob ein Deutscher unter Amerikanern, und wäre deren auch ein ganzer Haufen, nicht einsam dastände. Es ist mir erst wieder wohl geworden, seit ich mit meiner Arbeit und meiner Fiedel hier allein für mich geblieben bin. Ich holze die Insel ab und wenn ich einmal werde damit fertig sein, werbe ich auch genug haben, um etwas anzufangen, wo andere Deutsche sind. Ich kam von Deutschland mit einem Schiffe, das in New-Orleans landete, wollte eigentlich nach St. Louis, aber blieb oberhalb Memphis wegen Mangel an Fahrgeld sitzen. Ich gedachte erst, in dem freien Strome Fischfang zu versuchen, wofür ich eine alte Leidenschaft habe, aber die Dampfboote vertreiben Alles, was etwa im Wasser Lebendiges sein möchte; bei der Gelegenheit kam ich indessen hierher und fand da eine bessere Speculation.“

„Sie sind preußischer Soldat gewesen?“ fragte Behrend, welcher kaum auf die Worte des Andern gehorcht.

„Preußischer Soldat? Gott soll mich bewahren!“ klang die lachende Erwiderung. „O, Sie schließen das von dem Militärmantel,“ unterbrach sich der Redende, „das ist aber nur ein Andenken aus der badischen Revolution, wegen der ich flüchten mußte, als die Preußen eingerückt waren. Könnte Ihnen davon eine ganze Geschichte erzählen, aber Sie werden hier zu Lande wohl schon genug mit dergleichen gefüttert worden sein!“

Sie waren zu einem hohen, wohl aufgeschichteten Haufen von Scheitholz gelangt, und Behrend hielt seinen Schritt an. „Dort oben haben Sie jedenfalls vergangene Nacht gesessen,“ sagte er, „daher konnte ich mir auch kaum diese Geigentöne, die hoch über uns wie aus der Luft herunterklangen, erklären!“

„So ist es,“ nickte Dutch-Henry, langsam mit der Hand unter seinen Hut fahrend, „es ist aber nichts Wunderliches dabei. Ich hatte ein Geschäft mit einem anderen Boote gehabt, das erst spät hier passirte, und gerade als ich eine Weile darauf nach meinem Hause gehen wollte, sah ich trotz des Nebels den Brand dort den Fluß hinauf aufgehen. Es schoß mir durch den Kopf, daß Mancher, der sich zu retten versuche, mit der Strömung herabgetrieben werden könne, ohne das Land hier zu finden, und so fing ich denn an zu rufen und zu fiedeln, weil die Geigentöne noch weiter dringen sollen, als der menschliche Ruf. Möchte aber wohl wissen, wie viel Capital hier wieder zu Grunde gegangen ist, und es sollte mich nicht wundern, wenn eine oder die andere Versicherungscompagnie einen Riß davon bekäme – von den verunglückten Passagieren will ich gar nicht reden, denn Menschenleben sind das Wohlfeilste in Amerika!“ Er hatte während des Redens sich nach der hinteren Seite des Holzstoßes gewandt, wo durch einzelne hervorstehende Scheite eine Art Treppe nach der Höhe desselben gebildet worden war, und hatte diese jetzt mit einigen Schritten erklommen. „Dort oben liegt das Boot und scheint fest zu sitzen,“ sagte er nach einer kleinen Weile, in welcher er scharf den von den rothen Lichtern des Morgens erglänzenden Strom hinaufgeblickt; „niedergebrannt bis zum Wasserspiegel; muß eine Masse Brennstoff am Bord gehabt haben, sonst müßte wenigstens von dem Eisenwerke noch Einzelnes zu sehen sein.“

„Speck, Spirituosen, so viel ich gehört,“ erwiderte Behrend halb mechanisch.

„Das nun wohl am wenigsten,“ ließ sich der Andere hören.

„Wer einmal viel Speck hat brennen sehen, der kann die Zeichen auch durch den dicksten Nebel unterscheiden, und die brennenden Spirituosen hätten Ihnen selbst den Weg in den Fluß versperrt – jedenfalls wäre ein Theil davon auf dem Wasser bis hier herunter gekommen!“

Behrend’s Seele war im Verlaufe des ganzen Gesprächs nur bei Ellen gewesen, die, sobald sie im Stande war ihn zu empfangen, sicher nach ihm senden würde; demohngeachtet regte die einfache Wahrheit der letzten Bemerkung seine Gedanken über die Entstehungsweise dieses Brandes, über das völlige Preisgeben der Passagiere seitens der Boot-Beamten, von welchen außer dem Neger nicht ein Mann zu erblicken gewesen, wieder an; er hatte ja mit seinen eigenen Ohren vernommen, daß Speck und Whisky einen bedeutenden Theil der Ladung ausmachen sollte – und er nahm sich vor, nach der Rückkehr Bob’s dessen gefallenen Andeutungen bestimmt auf den Grund zu gehen. Jetzt indessen lag noch das Gefühl von Uebernächtigkeit und Ermattung zu fühlbar über ihm, um mehr als das Nächste in’s Auge zu fassen, und als Dutch-Henry die Flußbeobachtungen von seinem hohen Standpunkte ans noch länger fortsetzen zu wollen schien, wandte sich Behrend nach der Landung, wo noch die Matratze, die Ellen getragen, lag, ließ sich dort auf den Stumpf eines gefällten Baumes nieder und blickte, sich widerstandslos seinen treibenden Gedanken überlassend, auf das vom Morgenlicht überfluthete jenseitige Ufer.

Wohl fast eine Stunde lang mochte er so, ungestört und allein mit sich selbst, gesessen haben, während die Sonne voll heraufgekommen war und schon mit ihrem Erscheinen ihre Macht fühlbar zu machen begann, als er seine Schulter berührt fühlte und zugleich Dutch-Henry’s Stimme an seinem Ohr vernahm. „Die Lady ist wieder auf dem Zeuge, Landsmann, und erwartet Sie,“ hörte er; „wenn Sie miteinander gesprochen haben, soll’s einen guten Kaffee geben; einstweilen aber, denke ich, nehmen wir einen vernünftigen Brandy, den die Frau mit herübergebracht!“ Behrend sah beim Umdrehen sich eine Flasche entgegengehalten, welche er nach den Strapazen der Nacht am wenigsten zurückweisen mochte, und schon der erste halbe Schluck schien ihm frisches Leben in alle seine Glieder zu gießen. Zwei Minuten später stand er vor der Thür des Blockhauses, in dessen Nähe die Amerikanerin dürres Holz zusammensuchte, und nicht ohne erst ein leichtes Gefühl von Befangenheit unterdrücken zu müssen, öffnete er.

Das Mädchen saß, den Kopf leicht in die Hand gestützt, am Tische, das Auge durch das Fenster dem Freien zugewandt, und der erste Blick auf sie zeigte dem jungen Manne, daß er wieder der vollen Lady in Haltung und Aeußerem gegenüberstand. Ihr reiches dunkles Haar saß glatt und in der leichten Ungezwungenheit geordnet, wie er es in den beiden vergangenen Tagen gekannt; das Kleid, welches sie trug, mochte vom billigsten Stoffe, mochte selbst nicht ganz modern sein, aber was sie trug, schien an ihrer Erscheinung kaum etwas verderben zu können. Als die Thür knarrte, drehte sie dieser rasch das Gesicht zu und erhob sich bei dem Erblicken des Eintretenden wie von einem Strahle des Morgenroths übergössen.

„Sie verlangten mich zu sprechen, Miß Peters, und ich bin völlig zu Ihren Befehlen!“ begann er, meinte aber im nächsten Augenblicke, er habe wohl kaum etwas Alberneres für ihre beiderseitige augenblickliche Lage sagen können – und doch fühlte er [820] auch, daß ihm das Anschlagen eines andern Tones völlig unmöglich geworden wäre. Sie indessen schien erst durch seine Worte ihre volle Sicherheit wieder zu erhalten. Mit dem hellen Lächeln, das ihren Zügen einen so sonnigen Ausdruck verlieh, streckte sie ihm die Hand entgegen. „Ich denke, Mr. Behrend,“ sagte sie, „wir sollten durch die Ereignisse von gestern auf heute über die strenge Form gegenseitig hinaus sein. – Ich habe zwar nur eine Erinnerung an das Geschehene, wie an einen wilden, unheimlichen Traum,“ fuhr sie fort, während ihre Wangen sich höher färbten, „möchte auch jetzt um keinen Preis mein Gedächtniß aufgefrischt sehen; indessen haben mir doch einige Worte der Frau, welche durch Ihre Sorge für mich herbeigeschafft worden, genug gesagt, um mich meine ganze Verpflichtung gegen Sie erkennen zu lassen!“ Ihr Ton hatte bei den letzten Worten eine Weiche angenommen, welche dem jungen Manne das Herz beben machte; ihr Auge ruhte so klar und doch so warm in dem seinigen, daß er die kleine Hand zwischen seinen Fingern fast gegen seinen Willen fest umschloß.

„Ich habe doch nichts als das Selbstverständliche geleistet, Miß; wollte Gott, ich hätte Gelegenheit gefunden, mehr zu thun!“ erwiderte er mit einer Wärme, die ihn selbst erschreckte; sie aber lachte wie in plötzlicher heiterer Laune auf und entzog ihm leise ihre Hand.

„Sie hätten uns doch um’s Himmelswillen nicht noch Schlimmeres wünschen mögen?“ erwiderte sie; „indessen,“ setzte sie wieder ernst werdend hinzu, „ist jetzt nicht die Zeit zum Lachen. Ich höre, daß wir die einzigen Passagiere sind, die sich nach dieser Seite hin gerettet haben, und Gott gebe nur, daß es den übrigen nicht unglücklicher ergangen ist – für uns aber bleibt nur übrig, daß wir so schnell als möglich Maßregeln treffen, um aus unserer jetzigen Lage zu gelangen.“ Sie hatte währenddem langsam ihren Sitz wieder eingenommen, und Behrend ließ sich halb mechanisch auf dem zweiten Schemel ihr gegenüber nieder. „Es sind nach Angabe der Frau nur etwa zehn Meilen vom Ufer nach Troy an der Ohio-Eisenbahn,“ fuhr sie fort, „dort ist eine Telegraphenstation, und wir könnten also schon bis Nachmittag die nöthigen Geldmittel von St. Louis angewiesen erhalten. Dann aber bringt uns die Eisenbahn noch vor Abend nach der Ohio-Mündung, wo niemals Mangel an einer Dampfboot-Gelegenheit nach St. Louis ist –“ sie blickte ihn, wie seine Aeußerung erwartend, in einer sichtlichen Spannung an. Behrend aber war bei ihren letzten Worten bleich geworden; er fühlte, daß er jetzt die letzte Hand an die Bestätigung seiner ferneren, farblosen Zukunft zu legen habe. Wie es auch in ihm selbst lockte, sich blind seinem Gefühle zu ergeben, die wohlbegründete Gelegenheit zu benutzen und an ihrer Seite umzukehren auf seinem ungewissen Wege, so stand es doch auch eben so klar vor ihm, daß er damit nur einer noch bitterern Selbstqual entgegengehen mußte, als je. „Ich werde gern sofort nach dem Nöthigen sehen, Miß,“ erwiderte er, ohne sich indessen von einem innern Druck, der plötzlich auf seiner Stimme lastete, befreien zu können; „ist die Eisenbahnstation nicht weiter entfernt, so werden Sie allerdings bald genug sich auf dem Heimwege befinden können; mein Weg aber wird dann auf eine oder die andere Weise wieder flußabwärts gehen, wie Sie wissen.“

Ihr Gesicht hatte wieder seine Farbe verloren, aber ihr Auge war größer und dunkler geworden. „Sie wollen jetzt noch immer an Ihrem frühern Plane festhalten?“ fragte sie langsam, „Sie glauben die Genugthuung, welche Ihnen uns gegenüber geworden, noch immer nicht groß genug?“

„Ellen! Miß Peters! wovon reden Sie denn?“ rief er, seiner Erregung nachgebend und sich halb von seinem Sitze erhebend, „wer hat denn Ihnen gegenüber jemals an eine Genugthuung gedacht –?“

„Halt,“ sagte sie, noch bleicher als zuvor, gleichfalls ihren Platz verlassend, „ich verstehe dann Sie und Ihr Verfahren nicht. Aber wir sind hier nicht in der Lage, um Convenienz-Rücksichten gelten zu lassen, und so will ich Ihnen ein offenes Wort sagen, nach welchem Sie dann Ihre Entschlüsse fassen mögen. Als Sie nach Ihrer ersten Vorstellung uns verließen,“ fuhr sie bestimmt und ohne Zögern fort, „und seit langen Jahren die erste freundliche Erinnerung an Deutschland wieder in mir geweckt hatten, da fühlte ich schon, daß Sie durch den gewordenen Empfang beleidigt waren, wenn auch mein Vater meinte, daß es nur möglich werde, für einen jungen, kaum von Deutschland angelangten Kaufmann zu sorgen, wenn mit dem ersten Worte sogleich seine Eigenliebe niedergedrückt und seine Hoffnungen gedämpft würden; jeder habe von unten auf erst das amerikanische Geschäft zu erlernen und meine doch stets der ersten Stelle gewachsen zu sein. Ich hoffte, Sie würden meiner Einladung zum Mittagessen folgen, damit Sie dann einen freundlicheren Eindruck von uns mit hinwegnehmen möchten, aber Sie kamen nicht; Vater hatte während der Zeit erfahren, daß Sie von New-York aus auf das Wärmste empfohlen, daß Sie dem amerikanischen Geschäfte längst gewachsen waren, und als nun die Erinnerungen an Sie und Ihr früheres Wesen immer klarer und deutlicher in mir wurden, da wußte ich auch, daß nur eine ganz bestimmte Genugthuung Sie in unserer Nähe würde halten können. Ich hatte meinen eigenen Plan dafür,“ fuhr sie langsamer fort, und ihr Gesicht erhielt zum ersten Male wieder einen Anflug von Röthe, „und baute dabei etwas auf das treue Andenken, welches Sie dem kleinen Mädchen bewahrt hatten; ich wartete nur darauf, daß Sie das erste nothwendige Gespräch mit dem Vater gehabt haben würden – er aber erklärte mir, daß mit Ihnen durchaus nichts anzufangen sei und daß Sie nach New-Orleans gingen.“ Sie stockte zwei Secunden lang, als wisse sie nicht sogleich, wie fortzufahren, während in ihren Wangen die Farbe kam und ging; Behrend aber stand ihr gegenüber, als wolle er noch einmal alles Glück und alle Qual, die für ihn in dem Anhören ihrer Worte lagen, über sich ergehen lassen; er wußte ja doch, daß Alles, was sie ihm sagen würde, nichts in seinem Schicksale ändern konnte. „Ich gestehe Ihnen, daß Ihr Verfahren mich ärgerte und verletzte,“ sprach sie weiter; „demohngeachtet hätte ich es nicht vermocht, Sie so unaufgehalten in Ihr voraussichtliches Unglück stürzen zu lassen; Sie waren eben wieder der Joseph aus meiner Kinderzeit für mich geworden, für welchen ich schon etwas thun durfte. Ich benutzte zur Verwunderung meines Vaters die Heimkehr einer Freundin, um mit ihr ein Stück den Mississippi zu befahren; ich dachte dabei Gelegenheit zu finden, Ihnen noch einmal in’s Gewissen zu sprechen. Als Sie aber so steif und formell an uns herantraten, hätte ich es auch nicht über mich vermocht, ein herzliches Wort zu Ihnen zu reden; und erst als wir die Ohiomündung erreichten, wo ich das Boot hätte verlassen sollen, erkannte ich meine Versäumnisse; beschloß aber dort auch, noch mit bis Memphis, wo ich Schulfreundinnen habe, zu gehen. Hätten Sie dort eine Stellung gefunden, so war Alles gut, und ich wäre nur mit einem freundlichen „Good bye“ von Ihnen geschieden; hätten Sie aber mit dem Boote weiter nach New-Orleans gehen wollen, so – war es mir, als hätte ich schon Kraft genug in mir finden müssen, um Sie zurück zu halten und zum Umkehren zu bewegen; Sie aber gaben mir noch gestern Abend ein Versprechen, das mir mein Vorhaben leicht gemacht haben würde. – Es ist anders gekommen, Joseph,“ sagte sie, wie in einer plötzlichen Bewegung ihm die Hand von Neuem entgegenstreckend, „aber jetzt – jetzt wo ich Ihnen Alles gesagt, jetzt wo wir nach dieser letzten Nacht unter Ihrer Entfernung zu leiden haben würden, jetzt werden Sie mit mir zurück gehen – oder,“ setzte sie mit eigenthümlich bestimmtem Tone, in welchem dennoch ihre Erregung deutlich hörbar war, hinzu, „oder mir wenigstens sagen, was Sie von St. Louis wegtreibt.“

Behrend fühlte ihre weiche Hand von Neuem in der seinen, fühlte sich durch ihre letzten Worte aus allen Barrieren seiner Zurückhaltung gedrängt; aber es schien ihm fast eine Wollust, sich jetzt auszusprechen, sich gründlich das Herz frei zu machen und dann von ihr zu scheiden, ohne Mißverständniß und gewürdigt, wie er es zu verdienen glaubte.

„Können Sie sich wohl eine Vorstellung davon machen, Miß,“ begann er nach einer kurzen Pause, in welcher sein Auge sich tief in das ihrige gesenkt, „daß ein armer Mensch einen Schatz, der seine Lebensseligkeit ausmachen würde, in den Händen eines Reichen sieht, während ihm selbst jeder Weg, danach zu ringen, abgeschnitten ist? daß er dann lieber gehen und versuchen will zu vergessen, sei es auch in den schlimmsten Verhältnissen, als täglich in vergebener, vielleicht lächerlicher Sehnsucht sich zu verzehren? Ich weiß, Helene, daß Sie sich das wenigstens denken können,“ fuhr er fort, mühsam das Zittern in seiner Stimme unterdrückend und fast unbewußt ihre Hand in der seinen pressend, „und so fragen Sie mich auch nicht weiter, sondern lassen Sie mich gehen, sobald die Zeit da ist, in der sich unsere Wege wieder von einander trennen –!“

„Warten Sie, Joseph, warten Sie,“ unterbrach sie ihn, während sich ihr Gesicht wie in einem aufleuchtendem Verständniß [821] zu verklären begann, und ihre Finger seinen Druck erwiderten, „ich sage Ihnen, daß ich von alle Dem nichts verstehe, daß ich aber niemals die Hand missen möchte, die mich zum zweiten Male gerettet, daß, wie sie mich gehalten und dem Verderben entzogen, ich mich ihr auch völlig ergeben würde –“

„Helene – Miß Ellen, um Gotteswillen – denken Sie an Colonel Webster!“

Ein Ausdruck, so hell wie der glänzende Sonnenschein draußen strahlte in ihrem Gesichte auf. „Das also war es,“ erwiderte sie langsam; „Webster – pshaw!“ setzte sie hinzu, während einen Moment lang ihre Mundwinkel sich verächtlich zusammenzogen. „Sie haben mir schon einmal den Namen mit einer bestimmten Beziehung genannt, ohne daß ich es der Mühe werth fand, etwas darauf zu erwidern; wer hat Ihnen denn etwas von diesem unsinnigen Gerüchte gesagt –?“

In diesem Augenblicke knarrte die Thür, und die Hände der Sprechenden lösten sich von einander, während das voll ausgeprägte Gesicht eines „Hinterwald-Mannes“, den struppigen Cylinder auf dem Hinterkopfe, sich hereinschob. „Der deutsche Gentleman, welcher sich von dem verbrannten Dampfboot gerettet?“ klang die Frage an Behrend, mit welcher eine breite Gestalt in dem jetzt völlig geöffneten Eingänge erschien, der auch zugleich die zerrissenen Züge von Bob hinter dem Voraugetretenen zeigte. „Und dies ist jedenfalls die junge Lady?“

„Wir sind Beide von dem verunglückten Dampfboot – ist es ein besonderes Geschäft, das Sie zu uns führt, Sir?“ fragte der junge Mann, sich rasch sammelnd, ohne doch ganz seinen Unmuth über die ungelegene Störung verbergen zu können.

„Ich habe um Entschuldigung zu bitten,“ erwiderte der Mann sich gegen die junge Dame verbeugend und dann seinen Hut langsam von dem kahlen Kopfe nehmend, „die Sache ist aber von solcher Bedeutung, daß ich mit dem schwarzen Burschen gleich selbst herüber gekommen bin – ich bin Friedensrichter im County Obion, hier am Tennessee-Ufer – und als solcher,“ wandte er sich an Behrend, „möchte ich Sie um die gesprächsweise Mittheilung einiger Thatsachen bitten, auf welche sich der Neger bezieht, um daraus zu entnehmen, wie weit sich auf die Angaben desselben fußen läßt – die Lady wird uns entschuldigen, oder, um der Wichtigkeit der [822] Sache halber, vielleicht selbst zur Angabe einzelner Umstände bereit sein.“

„Ich stehe jedenfalls zu Diensten,“ erwiderte Behrend, „wenn Sie mich nur aufklären wollen, was der Gegenstand Ihrer Nachfrage ist –“

„Ah, ich vergaß, Sir, daß der Wollkopf geschwiegen hat, um sich allein die mögliche Belohnung zu sichern,“ lachte der Friedensrichter, seinen Hut schwenkend, „nun, es handelt sich, kurz gefaßt, um die Speculation eines Handelshauses in St. Louis, welches den Dampfer „Lilly Dale“ voll befrachtet, diese Fracht, allem Anscheine nach, als werthvolle Güter hat versichern lassen, während der angegebene Whiskey nur aus Mississippi-Wasser, das Schweinefleisch, der Speck und was sonst noch weiter aus anderem werthlosen Material, welches indessen mit leicht brennbaren Stoffen gesättigt worden, bestanden hat; es handelt sich ferner darum, daß der gestrige Nebel, welcher jede Beobachtung vom Ufer unmöglich machte, benutzt worden ist, um Seitens zweier Agenten des erwähnten Handelshauses das Boot in Brand zu stecken und so ohne Rücksicht auf das Leben der Passagiere die Versicherungssumme der gesammten Ladung als Gewinn herauszuschlagen. Die Speculation, obwohl etwas gefährlich,“ fuhr der Sprechende mit einem sardonischen Lächeln fort, „sieht sehr möglich aus und ist auch wohl schon dagewesen; nur handelt es sich darum, daß eines Niggers Zeugniß hier zu Lande kein Zeugniß ist und daß ihm von anderer Seite wenigstens die nöthigen Unterlagen geschaffen werden müssen – deshalb wollte ich mich hier sogleich unterrichten, was von einer Begründung der gemachten Angaben etwa vorhanden sein würde.“

„Und Bob’s – des Schwarzen Aussagen haben Sie zu der eben ausgesprochenen Ueberzeugung gebracht?“ fragte Behrend, welcher plötzlich in Allem, was er früher gehört und belauscht, so klar zu sehen meinte, daß er nicht begriff, wie er nicht längst selbst die Wahrheit habe erkennen müssen.

„Nicht ganz, Sir,“ erwiderte der Friedensrichter, „Sie sollen sogleich die Einzelnheiten hören, und wenn Sie dann im Stande sind, mir die nöthigen Ergänzungen zu geben, so wird es vielleicht noch möglich werden, die Hauptschuldigen hier in der Nähe zu fassen. Sie können nur am Tennessee Ufer gelandet sein, denn drüben im Rohrfelde ist meilenweit kein Unterkommen.“ Er winkte dem Schwarzen, welcher bisher unter einem seltsamen Mienenspiele dem Gespräche gefolgt, ihm den dritten Schemel neben der Thür herbeizuholen, und als er dann mit einer höflichen Verbeugung gegen das mit ernsten, großen Augen der Verhandlung folgende Mädchen dieses zum Niedersitzen eingeladen, wandte er sich mit einem: „Warte draußen, bis Du gerufen wirst!“ nach dem Neger und nahm dann selbst Platz.

„Die Sache ist die,“ fuhr er fort, während Behrend gespannt sich ebenfalls niederließ, „daß der Neger, welcher bereits ein Jahr alle Fahrten des Boots mitgemacht hat, bei der Abreise von St. Louis plötzlich einen neuen Frachtmeister am Bord erblickt, der zugleich, sonst ganz ungewöhnlich, den Dienst des Maschinenmeisters mit versieht; daß er aus einem belauschten geheimen Gespräche des Boot-Eigenthümers mit diesem Manne auf irgend ein verstecktes Vorhaben schließt und mit der Neugierde seiner Race ihn auf Tritt und Schritt während der Reise belauscht. Da nimmt er denn wahr, daß dieser Wilson, wie er ihn nennt, in jeder Nacht den Dienst an der Maschine und den Oefen selbst übernimmt und die Arbeiter zum Schlafen schickt, nimmt wahr, daß der Genannte die hart am Bord des Bootes aufgeschichteten Whiskeyfässer nach und nach leer laufen läßt, sobald er sich allein glaubt, und entdeckt bei einer gelegentlich passenden Untersuchung der ausgelaufenen Flüssigkeit, daß diese nichts als Flußwasser ist – die spätern Folgen seiner Beobachtungen trägt er noch heute im Gesichte, wie er Ihnen erzählt haben will. Er sieht ferner, daß die Deckarbeiter nur bis zu einzelnen Stationen angenommen sind und dort das Boot verlassen, da in Memphis, wie es heißt, die frühere Mannschaft wartet, um die Reise nach New-Orleans mitzumachen, sieht gestern das untere Deck bis auf diesen Wilson, welcher zu Zeiten in heimlichem Gespräche mit dem herunter gestiegenen Office Clerk steht, völlig entblößt und findet sich endlich bei beginnender Nacht in seiner Kammer eingeschlossen. Aus Furcht vor neuen Mißhandlungen wagt er nicht, sich zu befreien, bis plötzlich eine blendende Helle und ein lautes Prasseln ihn aus einem kurzen Halbschlummer aufschreckt. Er sprengt die Thür und sieht die gesammte aufgestapelte Fracht in eine emporflammende Feuermasse gehüllt, während nirgends sich ein lebendes Wesen erblicken läßt. Sein erster Gedanke ist, den äußeren Bord zu gewinnen und nach dem Steuerruder zu eilen, um zu versuchen, dem Boote die Richtung nach dem Ufer zu geben; dort findet er aber jede Mühe vergebens, das Ruder steht unbeweglich, und zugleich entsinnt er sich, daß auch die Maschine stillgestanden, als er seine Kammer verlassen. Jetzt stürzt er nach dem Salon hinauf, um die Passagiere wach zu rufen, und findet bereits eine junge Lady, wie sie in Hast die Cabin verlassen, nach ihrem Begleiter rufend –“ ein Blick nach Ellen, während der Sprecher seine Worte unterbrach, schien diese zur Bestätigung aufzufordern.

Ein hohes Roth stieg in das Gesicht des Mädchens und verschwand wieder. „Ich war allerdings schon im Salon, als der Schwarze hereinstürzte,“ sagte sie nach einer sekundenlangen Pause, „ohne daß ich mir indessen klar bewußt bin, was mich von meinem Lager aufgetrieben hat. Mir ist es, als hätte ich die Stimme Mr. Butler’s, des „Office-Clerks“, gehört: „Retten Sie sich, Miß Peters, das Boot brennt!“ ebensowohl kann das indessen auch eine Sinnestäuschung gewesen sein!“

„Aber Sie haben, so lange Sie wach waren, Niemand von den Beamten des Boots wahrgenommen?“ fragte der Friedensrichter und nickte auf ihre Verneinung dann nachdenklich. „Und nun, Sir,“ fuhr er, mit hellem Aufblick sich an Behrend wendend, fort, „was hätten Sie mir wohl zu sagen? Ich möchte nur noch bemerken, daß ich zwei der leeren Whiskeyfässer, welche der Neger aus dem Flusse gefischt, betrachtet und damit allerdings einen Theil der mir gewordenen Erzählung bestätigt gefunden habe. Jedes volle Whiskeyfaß hätte in diesem Brande explodiren müssen.“

Der junge Mann erhob sich erregt und machte einen raschen Gang durch das Zimmer; er wußte jetzt, daß an seiner Aussage Webster’s ganzes Schicksal hing, wußte auch, daß es in seiner Hand lag, die Versicherungsbank, welcher Peters vorstand, vor einem gewaltigen Schlage zu bewahren oder ihn auf sie fallen zu lasten – er hatte ja selbst gehört, daß dort die gesammte Ladung versichert war. An sich selbst dachte er in diesem Augenblicke gar nicht, es war nur die Wucht, die jedes Wort seines Zeugnisses ausüben mußte, welche ihn einen Moment lang zum Bedenken seiner Aussage gebracht. Dann aber hatte er auch erkannt, daß er, auf jede Folge hin, der einfachen und ganzen Wahrheit die Ehre geben mußte.

Er ließ sich langsam wieder nieder und begann dem Friedensrichter ausführlich die beiden von ihm belauschten Unterredungen mitzutheilen und daran die Bemerkungen Dutch-Henry’s über die Eigenthümlichkeit des Brandes zu knüpfen.

„Greift wie ein regelrechtes Mühlwerk ineinander!“ nickte der Hörer, als Behrend geschlossen; „unter diesen Umständen aber, lieber Herr, werden sofortige weitere Schritte nöthig, von denen der erste sein wird, Sie als einen der Hauptzeugen festzuhalten, bis Sie mir die nöthige Bürgschaft geleistet haben, daß Sie bei den kommenden Criminalverhandlungen sich auf die erste Aufforderung des Gerichts stellen und Ihre Aussage machen werden. Den Neger will ich, wenn er mir auch, schon seiner Belohnung von der Versicherungs-Compagnie halber, nicht davon laufen würde, dennoch in bequemen Verwahr nehmen, und für den Dutch-Henry muß auch ein Bürge gefunden werden –“ er wandte sich mit einem leichten Lächeln nach dem Mädchen, welches indessen den Sinn desselben sofort zu verstehen schien.

„Sie sollen noch heute Bürgschaft haben für uns Alle, die wir nach St. Louis zurück gehen werden, Sir!“ sagte sie, „gestatten Sie uns nur, daß wir von Troy aus die nöthige telegraphische Depesche nach Hause senden!“

Der Richter verbeugte sich zustimmend und erhob sich. „Ich werde der Angelegenheit sofort die erforderliche schriftliche Fassung geben und Sie der Kürze halber sodann selbst nach Troy begleiten!“ sagte er. „Im Uebrigen bitte ich, mein Eindringen mit der Wichtigkeit der Sache zu entschuldigen.“

Er verließ das Zimmer, und Ellen wandte sich mit einem großen, bedeutungsvollen Blicke nach dem jungen Manne. „Das ist Webster!“ sagte sie, sich langsam von ihrem Sitz erhebend. „Jetzt aber, ehe ich die Hand zu der geforderten Bürgschaft biete,“ setzte sie mit einem aufglänzenden, wunderbar aus Glück und Schelmerei gemischten Ausdruck ihrer Züge hinzu, „sagen Sie mir, ob Sie noch immer stromabwärts gehen wollen?“

[823] „Helene – Miß Ellen!“ rief er aufspringend, „spielen Sie nicht mit mir, wenn ich Ihnen auch nur das Kleinste werth bin!“

Sie senkte das dunkele, strahlende Auge in das seine. „Meinen Sie, Joseph,“ sagte sie mit ruhiger Innigkeit, „daß es Spiel gewesen sei, als ich das Boot nicht eher verlassen wollte, bis Sie dem Feuer entrissen waren, als ich ruhig in den Abgrund von Wasser hinabsprang und ohne Angst meine Besinnung schwinden fühlte, weil ich wußte, daß Sie hinter mir waren? – Warte, Joseph,“ fuhr sie mit leuchtendem Blicke fort, als in dem Gesichtsausdruck ihres Gefährten sich der Ausbruch aller seiner unterdrückten Empfindungen verkündete, und faßte mit festem Drucke seine beiden Hände, „laß uns der Zeit ihr Recht geben, und es wird Alles kommen, wie es kommen mußte!“

Sie hatte sich rasch nach der Thür gewandt und war dahinter verschwunden, ehe er nur zu einem neuen, klaren Gedanken gelangt war.



Den Mississippi herauf arbeitete sich ein mächtiges Dampfboot und begrüßte die vor ihm liegende Häusermasse von St. Louis mit einem kaum enden wollenden Brüllen der Dampfpfeife. Kaum daß es angelegt hatte, sprang allen übrigen Reisenden voran ein riesiger Neger mit bepflastertem Gesichte an’s Land und winkte eine der wartenden Lohnkutschen herbei. Ihm folgte unter dem sich jetzt nach der Stadt ergießenden Menschenstrome ein junges Paar – die Dame, wie von innerer Unruhe getrieben, voran dem Wagen zueilend, beim Einsteigen aber mit einem hellen Aufblicke zu ihrem Gefährten sich voll auf dessen Arm stützend.

„Es muß schon etwas los sein, Sir!“ sagte jetzt der Schwarze, nach Webster’s Verladung-Office deutend, die sich fest geschlossen und ihre Umgebung von Frachtgütern und Arbeitern völlig entblößt zeigte, „Alles wie gefegt dort!“

Der farbige Kutscher hatte gleichfalls die Augen dem Fingerzeige folgen lassen und drehte sich jetzt zurück. „Wenn von Cornel Webster die Rede ist, Sir,“ sagte er, während der junge Mann den Platz neben seiner Begleiterin einnahm, „so ist er wegen der „Lilly Dale“-Geschichte, die Sie heute in allen Morgenblättern lesen können, schon seit zwei Tagen verschwunden. Es heißt, daß ihm von irgend einer Gerichtsperson noch zu rechter Zeit ein Wink gegeben werden ist, denn als er hat sollen verhaftet werden, ist er nicht aufzufinden gewesen und wird sich freiwillig wohl auch nicht wieder zeigen. Zwei andere Betheiligte aber, meldet der Telegraph von heute Morgen, sind in Tennessee eingefangen worden.“

Der junge Mann hatte mit der neben ihm Sitzenden nur einen langen Blick gewechselt und winkte sodann dem Neger.

„Steigt auf den Bock neben den Kutscher, Bob, wenn Ihr jetzt auch wenig Staat macht,“ rief er, „und dann rasch nach der Bank der Versicherungs Compagnie – Gepäck haben wir ja nicht!“

Fünf Minuten darauf hatten die Drei vor dem Bankgebäude den Wagen verlassen, und während Bob sich am Innern des Eingangs einen Platz zum Warten erwählte, durchschritt die junge Dame, von ihrem Gefährten gefolgt, rasch den vordern Raum, ohne auf die sichtliche Ueberraschung der von ihren Pulten auffahrenden Clerks zu achten, öffnete dann fast unhörbar die Thür zu des Bankiers Arbeitszimmer und trat ein. „Da sind wir, Vater!“ sagte sie, als Peters, in die Papiere auf seinem Schreibtische vertieft, ihren Eintritt nicht wahrgenommen, und der Angesprochene fuhr, wie von einem Schlage getroffen, in die Höhe, wurde bleich und faßte nach seinem Tische; im nächsten Augenblicke aber lag auch Ellen schon an seiner Brust. Behrend wollte sich bescheiden zurückziehen, aber noch ehe er es vermochte, hatte sie sich schon nach ihm umgewandt. „Da ist er wieder, Vater, und nun halte ihn fest – wäre es nicht der Bürgschaft halber geschehen, die Du für ihn gestellt hast, so wäre er selbst jetzt noch kaum mitgekommen!“

„Well, Sir,“ sagte Peters, wie sich nur langsam sammelnd, und streckte dem jungen Manne die Hand entgegen, „Sie treten in einer Weise wieder in mein Haus, die mich für meinen Irrthum in dem Verfahren gegen Sie recht gründlich bestraft –“

„Mr. Peters!“ unterbrach ihn Behrend im Tone abwehrender Bitte, zugleich aber kräftig die ihm gebotene Hand ergreifend.

„Lassen Sie mich zwei Worte reden, Sir,“ fuhr der Erstere fort, „ich bin völlig unterrichtet und zwar habe ich Ellen’s Brief, der mir das Räthselhafte der Fortsetzung ihrer Fahrt löste, erst gestern Abend erhalten – Sie aber werden einzelne Umstände des Geschehenen wohl noch kaum in ihrer Tragweite erfaßt haben.

Zuerst, Sir, habe ich nur dies eine Kind, ich möchte sagen nur die einzige Freude, das Wesen, für welches ich allein gespart und gearbeitet habe – und das haben Sie mir erhalten. Zum Zweiten sind durch Ihre Aussagen der Bank Summen gerettet worden, deren Bedeutung Sie bald selbst beurtheilen sollen –“

„Mr. Peters, warum sagen Sie mir Alles das?“ unterbrach Behrend den Sprechenden von Neuem; „draußen steht ein Neger, der fast mehr Antheil als ich an dem gesammten Verdienst hat, das Sie mir zuschreiben –“

„Auch gut, Sir, ich konnte mir schon etwas Aehnliches denken,“ rief Peters rasch den Kopf hebend, aber die Hand des jungen Mannes fest umschließend, „da man indessen ebenso in Andern den Stolz achten muß, als man Achtung gegen den eigenen verlangt, so werden Sie mir erlauben, daß ich vorläufig einmal Ihre Zukunft in meine Hand nehme und mir nicht umsonst von Ihnen Glück und Vermögen schenken lasse. Schreiben Sie Ihrem Vater, daß ich versuchen wollte, an Ihnen auszugleichen, was er einmal für mich gethan – und wenn ich davon erst jetzt rede, so nehmen Sie einen Theil der Schuld auf Ihre Empfindlichkeit, die früher meinem guten Willen gleich von vorn herein jeden Weg verlegte. So, und jetzt nach Hause; der Neger geht ebenfalls mit, damit man in Ruhe sehen kann, was am besten für ihn zu thun ist. Im Uebrigen werde ich allerdings erst noch Manches aus der innern Geschichte dieser letzten Tage zu verstehen haben –!“ setzte er mit einem forschenden halben Seitenblick auf seine Tochter hinzu; sie aber hob klar das glänzende Auge zu dem seinen. „Und nicht wahr, Vater,“ fragte sie, „ein eigentliches Mißverstehen hat es zwischen uns noch gar nicht gegeben?“



Der hier erzählte Fall von verbrecherischer Speculation machte seiner seltenen Rücksichtlosigkeit gegen die auf dem Boote befindlich gewesenen Menschenleben halber ungewöhnliche Sensation in den Vereinigten Staaten; von Webster, welcher den vorhandenen Spuren nach unter fremdem Namen seine Richtung nach Texas genommen hatte, ist indessen nie wieder etwas gehört worden – die Untersuchung seiner Vermögensverhältnisse ergab einen an der Grenze des Bankerotts hängenden Geschäftszustand.

Behrens machte im Juli 1861 unter Begleitung seiner jungen schönen Frau und zweier Kinder seine erste Besuchsreise nach Deutschland; er war damals bereits gegen fünf Jahr verheirathet und seit dieser Zeit auch der Mitleiter des Bankgeschäfts; von den Versicherungs-Unternehmungen aber hatte sich der alte Peters seit dem „Lilly-Dale“-Falle gänzlich losgesagt. – Von Bob hörte der Verfasser nur, daß er das Dampfbootfahren aufgegeben, eine farbige Wäscherin geheirathet und mit dieser in einem für ihn eigenthümlich erworbenen Häuschen eine größere Waschanstalt etablirt habe.

Die Mississippi-Insel ist nicht völlig abgeholzt worden. Dutch-Henry fand das ihm gewordene Geschenk hinreichend, um seine bisherige Beschäftigung aufgeben zu können. Mit seinem preußischen Militär-Mantel und seiner Fiedel ist er den Mississippi hinauf gegangen nur soll sich in dem jungen Minnesota angesiedelt haben.



  1. Corrumpirt von: Colonel, Oberst.
  2. Vulgäre Bezeichnung für: deutsch