Eine Sylvesterabendidee
[201] Eine Sylvesterabendidee. Es war Sylvesterabend. Wir saßen, unser Sechs, gemüthlich am Kneiptische – zum letzten Male; denn es galt den Abschied von den schönsten Lebensjahren, den Universitätsjahren. Zum letzten Male funkelte der goldene Wein im hellen Römer; tapfer wurde gezecht, und Scherz und Wein kreisten fröhlich am runden Tische des doppelten Kleeblattes, wie man den Kreis der Sechs oft scherzhaft genannt hatte.
Der lange Wilhelm – er war so lang und hager, daß er eigentlich auch noch als Stiel des doppelten Dreiblattes dienen konnte – gedachte wehmüthig der bevorstehenden Trennung, und – muß der Deutsche zu seinem Jubel die Zähre der Wehmuth als Beigabe haben, so wird sie ihm auch wieder das Motiv zu neuer Lust – darum ließ er uns anklingen auf das schöne Jetzt und hieß uns das ungebundene Leben genießen, so lange noch ein Tröpflein davon in unserem Dasein schimmerte. Lustig klangen die Gläser wieder und wieder zusammen.
Fleißiges Correspondiren sollte von nun ab, da uns unser Beruf in alle Welt zerstreute, das gegenseitige Andenken stets frisch erhalten und uns im lebhaftem Geistesverkehr fesseln. „Gewiß,“ tönte es voll allen Seiten, „gewiß, Jeder muß ein paar Mal im Jahre an Alle schreiben.“ Ja, wie oft ist dieses Versprechen nicht schon gegeben und wie selten gehalten worden! Frage sich Jeber selbst, wie im Laufe der Jahre solche Briefe immer seltener geworden, bis sie schließlich zu einer womöglich gedruckten Anzeige zusammenschrumpfen, wenn ganz besondere Familienereignisse das Andenken an den „besten“ Freund wachriefen.
Jahre sind seitdem verflossen; das doppelte Kleeblatt ist in alle Richtungen der Windrose auseinandergesprengt; wir haben uns seit Jahren nicht mehr zusammengefunden, aber – Jeder von uns erhält pünktlich alle sechs bis sieben Wochen einen Brief von seinen fünf Freunden. Es klingt fast wunderbar, und doch ist die Sache sehr einfach und ermöglicht sich durch eine Idee, die an jenem Silvesterabend die Weinkanne geschaffen, und die sich in der Praxis trefflich bewährt hat.
Es macht nämlich zwischen uns in festgesetzter Reihenfolge ein Correspondenzbuch die Runde. Ein zweifingerdicker, fester Band von Schreibpapier in Quartformat wandert als Postpaket von Einem zum Andern. Jeder behält das Buch acht Tage, liest die Briefe seiner Freunde und schreibt selbst einen neuen dazu, um das Buch dann weiter zu senden. Es ist mir nicht möglich, das Vergnügen zu schildern, mit dem ich jedes Mal die 6 Sgr. Porto bezahle, wenn mir der Briefträger das kleine, bekannte Paketchen in’s Haus bringt, mit welcher Genugthuung ich die fünf Briefe durchlese oder in den alten hie und da herumblättere und meinen Brief [202] dazu schreibe. Hier zeigt ein glücklicher Vater die Geburt eines kräftigen Jungen oder eines zarten Töchterleins an, und blättert man ein Jährchen zurück, so findet man das Glück seines jungen Ehestandes geschildert. Dort findet sich eingeklebt die Photographie eines in seliger Wonne schwimmenden Pärchens; ein alter Freund, der bis jetzt noch den Hagestolz gespielt, ist in den Netzen der Liebe gefangen; er weiht diesem fröhlichen Ereigniß eine mit der schönsten Fracturschrift ausgeführte Anzeige auf einer Extraseite und „stiftet“ des Brautpaares Conterfei dazu.
Die viele Freude, welche mir das Correspondenzbuch gemacht, veranlaßt mich, seine Entstehungsgeschichte am Sylvesterabend mitzutheilen; vielleicht findet die Idee Nachahmer, welche wie wir die Banden der Jugendfreundschaft nicht gern von der Zeit gelockert sehen möchten. Die Idee ist gut; die Praxis hat sie als trefflich bewährt; dem langen Wilhelm gebührt der Ruhm, sie in’s Leben gerufen zu haben, als seine wehmuthsvolle Sylvesterbetrachtung den Wunsch nach einem Ersatz für das langjährige Zusammenleben wachrief.
Berlin, im März 1873.