Eine deutsche Künstlerin

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Titel: Eine deutsche Künstlerin
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aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 215–216
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1880
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[215] Eine deutsche Künstlerin. Aus Groß-Ullersdorf in Mähren brachte die dort erscheinende Zeitung „Ceres“ unter dem 5. Februar dieses Jahres die nachfolgende Mittheilung: „Am 3. dieses Monats wurde hierorts die in weitesten Kreisen bekannte kaiserlich russische Hofschauspielerin Frau Auguste Versing, geb. Lauber, siebenzig Jahre alt, beerdigt. Dieselbe verlebte hier neun Jahre und erfreute sich einer großen Sympathie. Die Theilnahme an der Leichenfeier war eine allgemeine und zahlreiche. – – Die hiesigen Armen verlieren an der Dahingeschiedenen eine theilnehmende, freigebige Gönnerin.“

Der Name der Frau, welche hier in der Abgeschiedenheit eines mährischen Dorfes ihr Leben beschlossen hat, ist freilich den „weitesten“ deutschen Kreisen nicht mehr so bekannt, wie der kurze Nachruf es voraussetzt. Sehr zusammengeschmolzen sind jedenfalls die Reihen Derjenigen, die sie in der Blüthe ihres Wirkens gesehen haben und aus eigener Anschauung zu bezeugen vermögen, daß sie einst eine glänzende Zierde des deutschen Theaters, eine mit Recht hochgefeierte Künstlerin ersten Ranges gewesen ist. Der Ausspruch, daß die Nachwelt dem Mimen keine Kränze flicht, kann im buchstäblichen Sinne heut allerdings nicht mehr als eine Wahrheit gelten. Es werden jetzt sogar schon die lebendigen Spuren verfolgt, welche die schöpferische Arbeit großer Schauspieler im Gange der Kunstentwickelung zurückgelassen hat. Dennoch waltet das Geschick in dieser Hinsicht nicht immer gerecht, und es sterben Manche, die weit über die Mittelmäßigkeit bloßer Localgrößen hinausragen, als Vergessene oder doch Halbverschollene, wenn sie der Tod nicht gerade mitten aus ihrem Berufe holt, sondern ihnen nach beschlossener Laufbahn noch einen längern Dienst des stillen Ausruhens vergönnt hatte. So auch erging es der Frau Versing. Wir erfüllen daher nur eine Pflicht, wenn wir hier ihres Lebenslaufes gedenken.

Als Tochter eines tüchtigen, allgemein geachteten Schauspielerpaares hatte Auguste Lauber ihre Kindheit und erste Jugend in den bescheidenen Verhältnissen und wechselnden Geschicken jener Wandertruppen besserer Art verlebt, von denen in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts eine ganze Reihe großer Schauspieler ausgegangen ist. Dem wohlunterrichteten Vater und der feingebildeten Mutter hatte das junge Mädchen eine sorgfältige Erziehung und gute Schulbildung zu danken. Frühzeitig betrat sie die Bühne und sah dadurch ihren Wunsch erfüllt, den Eltern und zahlreichen Geschwistern eine liebreiche Stütze zu sein. Ihre Erstlingsleistungen müssen wohl die Aufmerksamkeit der Bühnenleiter erregt haben; denn bald sehen wir sie aus ihrer süddeutschen Heimath unter Küstner's Direction nach Leipzig versetzt, wo ihr Emil Devrient und seine junge Gattin Vorbilder wurden. Von Leipzig wurde sie für das Fach der naiven Liebhaberinnen nach Nürnberg berufen, von da an das Hoftheater in Darmstadt, und in beiden Orten steigerte sich die ihr gewidmete Liebe und Anerkennung zu einem solchen Enthusiasmus, daß man auch auswärts diesen neuaufgehenden Stern kennen lernen wollte und ihr die Auszeichnung eines Gastspiels in Dresden zu Theil wurde. [216] Der Erfolg auf dieser großen Bühne erwies sich als ein wahrhaft bedeutender. Auch die meist von Ludwig Tieck inspirirte Kritik pries die außerordentliche Begabung, die Seelentiefe und vortreffliche Charakteristik, das begeisterungsvolle und doch in edelstem Maße sich bewegende Spiel der jungen Künstlerin. Ebenso sprach Tieck sich persönlich über sie aus; ihr Ruf war fortan begründet. Ein Engagement in Mannheim, wo sie sich mit dem vorzüglichen Bariton Versing vermählte, brachte dieselben Triumphe, bis sie einem Rufe Immermann’s nach Düsseldorf folgte, der dort soeben seine Musterbühne begründet hatte.

Was Auguste Versing (von 1834 ab) diesem denkwürdigen Theater gewesen, das läßt sich aus den Kritiken über dasselbe, aus den Broschüren und Memoiren eines Uechtritz, Grabbe und Immermann selber sehr deutlich ersehen. Aus ihrem reichen Repertoire werden namentlich Stella, Clärchen, Gretchen, Luise Miller, Isaura („Leben ein Traum“), Margaretha („Hagestolzen“), Walpurgis („Goldschmieds Töchterlein“) als geniale Meisterleistungen hervorgehoben.

Fragt man sich nun, warum eine so gewaltige Künstlerin nicht ihren Wirkungskreis dauernd bei den ersten Bühnen gefunden, so ist das leicht erklärt. Es hatten die Musen und Grazien an ihrer Wiege gestanden, aber sie besaß nicht jenen Glanz blendender Schönheit, welche die Blasirtheit der großen Welt an einer ersten Schauspielerin verlangt. Im Uebrigen war ihr keuscher und schlichter Sinn aller Reclame und allen Ruhmeszügen abhold; es genügte ihr, daß sie an den Orten ihres Wirkens eine so ungemeine Achtung und Theilnahme fand, die zugleich der Respectabilität ihres Wandels und dem stillen und vorwurfsfreien Leben galt, das sie, ihrer Kunst hingegeben, im Eltern- und Familienkreise führte.

Als Immermann die Direction niederlegte, ging sie mit dem Gatten an das kaiserliche Theater in Petersburg und wurde nun auch hier zehn Jahre lang durch die hinreißende Gewalt ihres Talents der bewunderte und verehrte Liebling des Publicums. Ueberhäuft mit Ehren und im Besitze der Pension, kehrte sie von der Newa in die deutsche Heimath zurück und ließ sich in Brünn nieder, um hier die talentvolle Tochter Anna, die später als Schauspielerin zu ehrenvollem Ruf gekommene Versing-Hauptmann, in die künstlerische Laufbahn zu führen. Einige Jahre hatte sie, diesen Mutterpflichten hingegeben, jedem eigenen Auftreten entsagt, dann aber zog es sie unwiderstehlich zu den Brettern zurück. Eine Gastspielreise über die bedeutendsten Bühnen Deutschlands zeigte ihre Genialität in ungetrübtem Glanze und erregte einen Wettstreit um ihren Besitz. Frankfurt hatte das Glück, sie auf die Dauer zu fesseln, als Ersatz für die berühmte Lindner, nunmehr im Fache der älteren Anstandsdamen und edlen Mütter. Dreizehn Jahre hindurch war sie die Zierde des Frankfurter Theaters, und unvergessen ist es dort, was sie auf dieser Bühne, namentlich im Feinkomischen wie im Derbhumoristischen, Großes geleistet und geschaffen hat. Als man ihr 1871 die erbetene Pensionirung nicht länger versagen konnte, wurden ihr beim Abschiede vom Publicum und von den Collegen die außerordentlichsten Ovationen bereitet.

Es war für die rastlose Arbeiterin die Zeit der Abendruhe gekommen. In Groß-Ullersdorf bei ihrer dort verheiratheten Tochter verbrachte sie die letzten Lebensjahre, bis sie am 1. Februar dieses Jahres das müde Auge schloß, noch in den letzten Stunden ihre Ergebenheit und Charakterfestigkeit, ihren unverwüstlichen Humor bewahrend. Gewiß, es waren wohlverdiente Lorbeerkränze, die von deutschen Städten aus auf das abgelegene Grab dieser großen deutschen Künstlerin gesendet wurden. Ihr Gatte war ihr schon zwei Jahre früher im Tode vorausgegangen. Die Pflege der Schauspielkunst aber lebt in ihrer Familie fort. Außer ihrer Tochter hat sie eine ebenbürtige Nachfolgerin auch in ihrer Nichte Franziska Ellmenreich gefunden, die jetzt in verwandtem Fache hochgefeiert an derselben Dresdener Bühne wirkt, wo ihre Tante vor bald fünfzig Jahren die erste Stufe hohen Ruhmes erstiegen hat.