Eine edle Frau
[148] Eine edle Frau. Oskar von Redwitz hat in seinem neuen Roman „Hymen“ (Berlin, Wilhelm Hertz) uns in Irene von Goos das Bild einer edlen Dulderin gezeichnet, welches zu den besten Charakterbildern des Dichters gehört. Dabei ist nichts von der engelhaften Färbung der „Amaranth“, nichts Süßes und Verschwommenes, wie zum Theil in dem Schauspiel „Philippine Welser“, sondern es ist alles in dieser Zeichnung schlicht und lebenswahr. Die schöne Irene, des Gesanges kundig und mächtig, ist die Tochter eines wackeren Landedelmannes; nicht gering ist die Zahl der Freier, die sich um sie bewerben; doch sie schenkt ihr Herz dem jungen Werner von Goos, dem reichsten Erben der Gegend, der, von einem längeren Aufenthalt in Paris zurückkehrend, in Irenens Vaterschloß Besuch macht, von der anmuthigen Tochter gefesselt wird und, ihrer Gegenliebe gewiß, um ihre Hand anhält. Sein interessantes Aeußere, seine hohe, von dunklem Haar umschattete Stirn, die großen tiefblickenden etwas müden Augen hatten es ihr angethan. Sein Ruf war indeß nicht der beste; Irene’s Vater und Bruder protestirten gegen diese Verbindung; doch der erstere ließ sich durch die Mutter überreden und das Ehebündniß wurde geschlossen.
Anfangs ließ sich die Ehe gut an; kleine Verstimmungen auf der Reise, besonders in der Weltstadt Paris, wo die Erinnerung an frühere Abenteuer des Gatten einmal aufdringlich sich geltend machte, glichen sich wieder aus: doch nach der Rückkehr fühlte Werner sich nicht wohl in der ländlichen Einsamkeit: er richtete Gesellschaftsabende ein, bei denen seine Frau noch durch ihren Gesang glänzte; dies schmeichelte seiner Eitelkeit. Er selbst war indeß unlustig zur Arbeit und gab sich bald dieser, bald jener Passion hin. Die Geburt des ersten Sohnes erhöhte seine Zärtlichkeit für die Gattin; doch die durch die ersten Kinderkrankheiten hervorgerufenen Störungen trieben ihn wieder aus dem Haufe. Oft verweilte er in Berlin, wo er sich allen Verirrungen der Großstadt hingab; als sein zweites Kind, eine Tochter, geboren wurde, war er nicht zu Hause. Die Lage Irene’s wurde immer trostloser, das Mißbehagen des Gatten in der engen Häuslichkeit immer fühlbarer. Noch wußte Irene nichts von den Ausschreitungen des Gatten in Berlin; ihr eigner Bruder unterrichtete sie davon. Werner selbst beichtete ihr indeß in einer Gemüthsaufwallung und sie verzieh.
Die Kinder wuchsen indeß heran, die einzige Freude der Mutter. Der älteste Sohn, Wolf, studirte in Heidelberg und widmete sich der Landwirthschaft, indem er die Güter des Vaters pachtete. Die Tüchtigkeit des Sohnes war für diesen beschämend und steigerte sein Mißvergnügen. Wolf verlobte sich mit einem reizenden Mädchen, Elisabeth, der Tochter einer Gutsnachbarin, da brach für den Vater das Verhängniß herein. Ein anderes Schloß in der Nähe hatte die Gräfin Kottberg angekauft, eine Ungarin, früher eine geistreiche, raffinirte Lebedame, jetzt von heuchlerischer Religiosität; sie hatte eine schöne, interessante Tochter Ellinor, und ihr ganzes Streben war darauf gerichtet, diese mit Werner von Goos zu verheirathen. Das pikante Abenteuer erfüllte ihn mit neuem Lebensmuthe: er erglühte für Ellinor in Leidenschaft und beschloß, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Auch diesen Kelch leerte die edle Dulderin mit Resignation; ja Sie nahm die Schuld der Trennung durch den Schein böswilliger Verlassung auf sich. Werner aber gerieth immer mehr in leidenschaftliche Aufregung, gab sich dem Trunk hin und zuletzt kam der Wahnsinn über ihn, Größenwahn mit jener Körperlähmung, die ihn oft begleitet. Seine Braut stürzt sich in die Fluth; die Mutter, die sie retten will, kommt mit ihr um. Werner wird ins Irrenhaus gebracht, wo er als unheilbarer, besinnungsloser Kranker dem Tod entgegensiecht. Doch eine Pflegerin weicht nicht von seiner Seite: es ist Irene, die zu ihm zurückgekehrt ist, Wohnung genommen hat in der Anstalt und dort verweilt, bis der Tod den Gatten erlöst hat.
Gewiß … ein rührendes Frauenbild! Alle Stimmungen und Vorgänge des Romans, in dessen Mitte diese makellose, opfermuthige Irene steht, sind lebendig dargestellt und wir möchten diesen Roman für die reifste Schöpfung des Dichters halten.