Eine emporgedrehte Stadt

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Autor: A. Douai
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Titel: Eine emporgedrehte Stadt
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 27, S. 428–431
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Höhenverschiebung massiver Gebäude in Chicago
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Eine emporgedrehte Stadt.
Von A. Douai.


Zu dem Wunderbarsten des an Wundern so reichen nordamerikanischen Freistaates gehört die allen Analogien in der alten Welt spottende riesenhafte Entwickelung vieler seiner Städte. Orte, die vor Jahrzehnten noch unbedeutende Dörfer, ja oft nur einsame Ansiedelungen waren, zählen jetzt ihre Einwohner bereits nach Zehn-, ja nach Hunderttausenden. Als das Wunder der Wunder aber muß unbedingt die Stadt Chicago im Staate Illinois bezeichnet werden: vor dreißig Jahren noch ein Dorf mit wenigen hunderten Bewohnern, ist sie jetzt ein Welthandelsplatz mit nahezu einer Viertelmillion Einwohnern, der mit Recht „die Königin des amerikanischen Westens“ genannt wird. Und Chicago verdankt dies selbst in Amerika beispielslose Wachsthum keiner Ausbeutung der Reichthümer ganzer Erdtheile, keinen aufgehäuften Capitalien, keiner Fernsicht großer Genies; nicht einmal seine Lage ist besonders günstig. Denn die Ufer des Michigan-Sees sind nirgends flacher und sumpfiger, als gerade da, wo der kleine, nur wenige Meilen aufwärts für mäßig große Flußkähne schiffbare Bach mündet, auf dessen beiden Seiten es sich ausbreitet, und die Einfahrt in die Mündung ist weniger leicht, als bei den Städten Milwaukee, Michigan City, Manitowoc und anderen Häfen des Michigan-Sees. Wenn also etwas aus der neuen Stadt werden sollte, so mußten die neuen Verkehrswege erst künstlich geschaffen werden, auf welchen derselben ihre Bedeutung zuwuchs, ein Canal, der den See mit dem Illinoisflusse da, wo er schiffbar wird, und Eisenbahnen, welche sie mit den Strömen Mississippi und Ohio, sowie mit dem fernen Osten verbänden. Somit ist die ungemein große Bedeutung Chicago’s fast lediglich das Geschöpf des Gemeinsinns und des Unternehmungsgeistes seiner Bürger, und wenn sich diese beiden Eigenschaften bei ihnen überaus glänzend belohnt haben, so war die Belohnung nirgends so wohlverdient und naturwüchsig. Es ist also nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, daß bei Chicago eine kleine Zahl freier Männer, welche ihren Mitbürgern ihren Geist einzuflößen verstanden, sich mächtiger erwiesen hat, als anderswo der Wille von Kaisern und Königen, die über die Gesammtmittel vieler Millionen Menschen geboten.

Es fehlte den Gründern der Größe Chicago’s sogar an den bescheidensten Geldmitteln, es hat daran gefehlt bis noch vor wenigen Jahren. Die zum Bau des Canals und der Eisenbahnen nöthigen Summen waren weit und breit im Staate und im ganzen Westen nicht vorhanden, denn als er begonnen werden sollte, war eben jene entsetzliche Geldkrisis von 1837 eingetreten, durch welche mehr als achthundert Banken der Vereinigten Staaten sich in ihr Nichts auflösten und der abzuschätzende Reichthum des Landes auf die Hälfte des früheren herabsank. Noch 1844, als Friedrich v. Raumer hier seinen Besuch abstattete, waren die Folgen der Geldkrise nicht vorüber. Selbst noch vor sechs Jahren mußten die Einwohner der Stadt Capitalien zu allen ihren Unternehmungen auswärts (besonders in Boston) zu dem ungeheuren Zinsfuße von fünfundzwanzig Procent borgen, obwohl schon damals der Glaube an die zukünftige Größe der Stadt im ganzen Lande feste Wurzel geschlagen hatte und die Sicherheit alles dort angelegten Capitales bewiesen war. Dennoch wurden Canal und Eisenbahnen gebaut, fast durchaus auf Credit gebaut, und mit ihnen baute sich die Stadt auf, eine Stadt von Palästen. Mit der Stadt wuchs der Anbau des Staates; die endlosen Prairien füllten sich auf beiden Seiten der nach ihr führenden Eisenbahnen mit der besten Classe von Ansiedlern, welche einen lohnenden Markt in Chicago fanden, und so trieben Stadt und Staat einander wechselseitig zu immer rascherem Gedeihen in die Höhe, welches sich auch den angrenzenden Staaten mittheilte.

Da entdeckte man – mitten in diesem lustigen Gedeihen – einen Krebsschaden, an welchem die Stadt kränkelte und unterzugehen drohte. Sie war auf einem so sumpfigen Boden erbaut worden, daß eine Ueberschwemmung durch den See sie höchlich gefährdete. [430] Die riesigen Ziegelsteinmassen, aus denen ihre Handelspaläste aufgethürmt waren, drückten sich immer tiefer in den Morast hinein. Der kaufmännische Credit der Stadt, ihr Lebensnerv, hing von ihrer glänzenden Außenseite mindestens ebensosehr ab, wie von ihrer pünktlichen Zinsenzahlung. In Kellern voll Wasser konnte man keine Magazine halten, wie ein solcher Welthandelsplatz sie braucht; auf sumpfigen Straßen konnte kein lebhafter Verkehr stattfinden; eine ungesunde Lage mußte auf das Kommen neuer Ansiedler abschreckend einwirken. Zu solcher verzweifelten Lage wären die Bewohner jeder europäischen Großstadt vielleicht rathlos gewesen und geblieben und hätten bei Regierung und Vorsehung petitionirt, bis ihr Untergang unvermeidlich geworden wäre. Nicht so bei einer Bevölkerung freier amerikanischer Bürger, welche wohl oder übel sich nur auf sich selbst verlassen dürfen und mögen. Der Stadtrath beschließt – Dank dem damaligen Bürgermeister John Wentworth – die ganze Stadt zehn Fuß hoch zu heben.

Meine europäischen Leser und Leserinnen werden sich bei dieser Stelle meines Berichtes wohl die Augen reiben, ob sie auch recht gelesen haben. Wie, eine ganze Stadt von Steinpalästen zehn Fuß hoch in die Luft zu heben? Und wenn sie da hängt, was dann? Nun, dann soll Rost unter den Häusern geschlagen und dann sollen die Häuser auf den Rost (die eingerammten Balken) aufgesetzt und somit Häuser, Straßen und Alles zehn Fuß höher, als bisher, gelegt werden. Und wie macht man das? fragt, wer noch nie davon gehört hat, daß man in Amerika das Emporheben von Häusern schon lange vorher und häufig prakticirt hatte, ja, daß man sogar mitunter große und kleine Gebäude auf Walzen setzt und bergauf, bergab, wenn es nur die Kosten deckt, an andere Stellen befördert. Man legt mächtige Balken längsweise unter die vier Grundmauern, hebt dieselben durch Schrauben in die Höhe, welche gleichzeitig um ein Viertel- oder Achtelgewinde emporgedreht werden, so daß das ganze Gebäude überall gleich sehr gehoben wird, und wenn es hoch genug gehoben ist, unterführt man es mit neuen Grundmauern. In Chicago freilich hob man ganze Häuservierecke, zwei- bis vierhundert Fuß lang und halb so breit, auf einmal; in so großem Maßstäbe hatte man dieses Balancir-Kunststück vorher noch nie versucht. Und bei diesem halsbrechenden Verfahren bricht kein Haus zusammen? Davon ist noch kein Beispiel bei den sprüchwörtlich leichtsinnigen Yankees vorgekommen. Man ist vielmehr seiner Sache so gewiß, daß man ruhig in dem Hause wohnen bleibt und darin Geschäfte macht, während es gehoben wird. In Chicago benutzte man während des Hebens viele der riesigsten Handelspaläste nach wie vor. Es gab Häuservierecke von sechstausend Tonnen Last und darüber, welche auf einmal viertelzollweise gen Himmel spedirt wurden, während man darin Geschäften oblag, bei welchen es sich um halbe und ganze Millionen Eigenthums handelte. Zuletzt wandte man, um größerer Zeitersparniß willen, die hydraulische Presse an. Eine einzige Pumpe, von wenig Menschenhänden in Bewegung gesetzt, hob diese Tausende von Tonnen Last so leicht und gefahrlos empor, wie es eine hydraulische Presse, diese wundervolle Erfindung, deren Einrichtung in jedem Handbuche der Naturlehre studirt werden kann, eben nur im Stande ist.

Um den Bürgern, von denen manchen bei den ungemeinen Kosten des Hebens ihrer Gebäude wohl der Kopf schwindeln mochte, Muth dazu zu machen, übernahm der Stadtrath die Kosten auf städtische Rechnung und ließ die Eigenthümer blos die mäßigen Zinsen für das dazu erforderliche Capital bezahlen. Und so ist denn die ganze Stadt Chicago jetzt gehoben, zehn Fuß über ihre frühere Höhe, und ist aus der schmutzigsten eine der reinlichsten, gesündesten und stattlichsten der neuen Welt geworden. Freilich, während der Hebungsarbeit war es ein unangenehmes Gehen und Fahren durch die Straßen. Während ein Haus oder eine Reihe Gebäude schon hoch oben befestigt waren, standen die benachbarten noch in der alten Tiefe und auf einige hundert Fuß Straße hatte man oft ein halbes Dutzend kurze, steile Berge oder Treppen und ebensoviele Thäler zu überwinden. Aber in sechs bis sieben Jahren ist das Wunder geschehen, und daß es ausgeführt worden ist, hat dem Unternehmungsgeist und Gemeinsinn der Bürger Chicago’s in den Augen des ganzen Landes zu seiner jetzigen Höhe verholfen.

Damit nicht zufrieden, machten sich die Behörden der Stadt sofort an ein nicht minder wunderbares Unternehmen. Eine so große und so riesig wachsende Stadt braucht viel Trinkwasser und Wasser der besten Güte überhaupt. Bis dahin hatte man sich, da der Boden wenig gute Brunnen gestattete, meist mit dem Wasser des Flusses, mit Cisternen und zuletzt mit einer Röhrenleitung aus dem Michigan-See versorgt. Allein der Schmutz, welchen eine so große Stadt in ihre Abzugscanäle entsendet und der hier durch den Fluß in den See mündet, begann das Wasser desselben weit hinaus zu vergiften. Wie bei vielen anderen amerikanischen Großstädten war es unmöglich, eine Wasserleitung dadurch herzustellen, daß man einen Fluß abdämmte und in Röhren auffing. Denn theils lagen die nächsten Flüsse zu fern, theils waren sie zu wasserarm und ihr Niveau zu tief. Man mußte eine Wasserleitung schaffen, die für eine Bevölkerung von vielen Millionen genügte, denn auf eine solche rechnen die ehemaligen Dörfler von Chicago. Woher das Wasser nehmen, als aus dem prächtigen Becken des Michigan-Sees? Aber dann mußte man es weit draußen abzapfen, wohin der hinausgespülte Unrath der großen Stadt nicht dringt. Ueber eine englische Meile weit mußte man hinausgehen an die reine Quelle, wo der See schon über fünfzig Fuß tief ist. Es blieb also nichts übrig, wollte man ein Werk für alle Zeiten schaffen, als einen Tunnel unter den Seegrund hinaus zu treiben, bis dahin, wohin die Verunreinigung des Wassers des Sees nicht mehr reicht – und diese Riesenarbeit ist ebenfalls nahezu vollendet. Der Tunnel selbst ist fertig; es bleibt blos noch der Schacht, in welchen von oben herab das filtrirte Wasser eindringen soll, und in wenigen Monaten wird auch dieser fertig sein. Dieser Tunnel hat mehr als Manneshöhe; es wird also die Stadt über einen Wasserreichthum gebieten, wie keine andere Stadt der Welt, und er wird ihr durch keinen Belagerer, durch keinen erdenklichen Zufall abgeschnitten werden können. Was ist – fragt man endlich mit Recht – solchen Männern unmöglich, wie diejenigen sind welche Chicago zu Chicago gemacht haben?

Kommen wir jetzt auf die Geschichte dieser Stadt während des Sonderbundkrieges. Es ist ein heikles Ding, einzelne Städte und Staaten auszeichnen zu wollen, wo alle weit über ihre Schuldigkeit gethan haben, wo innerhalb der sechszehn Millionen loyaler Bevölkerung des Landes jeder Einzelne sich im Patriotismus selbst übertroffen hat. Allein man wird wohl Chicago die Palme zugestehen müssen. Keine Stadt, kein Bezirk des Nordens hat mehr Truppen aufgebracht im Verhältniß zur Bevölkerung, wie denn überhaupt der ganze Staat Illinois weit über seinen gesetzlichen Antheil hinaus zur Rettung des Vaterlandes beigetragen hat. Es wird Europäern, welche daran gewöhnt sind, ein, zwei, höchstens drei Procent der Bevölkerung für kriegstüchtig zu betrachten, beinahe unglaublich erscheinen, wenn wir sagen, Chicago und Illinois überhaupt haben zum Unionskriege über zehn Procent der Ihrigen gestellt, alle freiwillig, und von diesen ist ein volles Viertel aus dem Kampfe nicht zurückgekehrt! Der Geist aber, mit welchem so große Opfer gebracht wurden, bleibt doch dabei die Hauptsache. Die Illinoistruppen waren an Qualität immer vorzüglich; sie wurden vom Staate wohl ausgerüstet entlassen; sie haben an dem Verdienste der Rettung Missouri’s, Kentucky’s und Tennessee’s einen Hauptantheil, und ihr Blut ist auf fast allen Schlachtfeldern der Union geflossen.

Für einen Deutschen ist es ein überaus wohlthuendes Gefühl, zu wissen, daß ein volles Drittel der Bewohnerschaft von Chicago und Illinois aus seinen Landsleuten besteht. Die Deutschen gehörten zu den frühesten Ansiedlern beider. Vielleicht die älteste reindeutsche Ansiedlung des Staates ist die von St. Clair County, worin Belleville, ein fast rein deutsches Oertchen, schon 1834 begründet wurde. Von dort und von Chicago aus, welches von Anbeginn eine verhältnißmäßig starke deutsche Bevölkerung enthielt, verbreitete sich der Strom der nachachtundvierziger Einwanderung den Eisenbahnen und dem Canal entlang, rationellen Ackerbau, Gewerbe, Handel, Kunst und Wissenschaft mit sich bringend. Wenn irgendwo, so hat in Illinois diese deutsche Bevölkerung verstanden, von den Angloamerikanern zu lernen und sie zu lehren. Dort hat die National-Eifersüchtelei zwischen beiden aufgehört, anders als vortheilhaft zu wirken. Im Staate Illinois besteht deshalb auch die Einrichtung, daß an den öffentlichen (Frei-) Schulen die deutsche Sprache überall, wo eine stärkere deutsche Bevölkerung sich befindet, durch besondere Lehrer und Lehrstunden vertreten ist. Dort wenigstens sind die Deutschen durchweg geachtet und vollauf gleichberechtigt. Sie werden ohne Unterschied als Beamte gewählt und in politischen Fragen um ihre Meinung mitbefragt; sie haben ihren rechtmäßigen Einfluß und machen ihn geltend.

[431] Es ist jetzt im Werke, den Illinoiscanal dergestalt zu erweitern und zu vertiefen, daß er für Seeschiffe zureichend Wasser enthält. Die Kosten sind auf fünfzig Millionen Dollars veranschlagt. Sollten die Vereinigten Staaten, welchen man dies angesonnen hat, eine solche Kostenlast nicht übernehmen wollen – nun, die Stadt Chicago allein wird sie aufbringen. Und da der Welland-Canal, welcher den Erie- mit dem Ontario-See verbindet, schon jetzt das Auslaufen von in Chicago befrachteten Seeschiffen nach allen Häfen der Welt gestattet, so wird alsdann diese Stadt ebenso, wie mit dem atlantischen Meere, mit dem Golf von Mexico verbunden sein und ihre Flagge auf allen Meeren präsentiren. Von der Handelsbewegung, welche Chicago an sich gezogen, beziehentlich in’s Leben gerufen hat, bekommt man einen schwachen Begriff, wenn man weiß, daß dort an zwanzig Millionen Bushel (Scheffel) Getreide jährlich ostwärts verladen werden, daß für etwa zehn Millionen Dollars jährlich Bauholz von dort westwärts passirt und daß der gesammte Capital-Umschlag des Platzes jährlich nahe an einhundert Millionen Dollars beträgt. Durch beinahe jede Straße der Stadt streckt sich eine Pferde-Eisenbahn; der Dampfbahnen, welche an ihren Grenzen münden, sind fünf, ungerechnet die Zweigbahnen, und den See durchfurchen viele prächtige Dampfboote, welche den Verkehr mit den Häfen des Michigan- und der anderen großen Binnenseen vermitteln. Allem Anscheine nach wird Chicago um 1900 die drittgrößte Stadt Amerikas und eine der größten der Welt sein. Und das Alles in Folge des Freiwilligkeits- und Selbstregierungsprincips!