Eingeschneit
Eingeschneit.
Es schneit! Es schneit! Freudig und fröhlich klang dieser Ruf von tausend Lippen, als die ersten Schneeflocken im December 1886 in der Luft wirbelten und langsam zur Erde niederfielen. Jung und Alt stimmte in diesen Ruf ein; denn es war gerade acht Tage vor Weihnachten, und, Alt oder Jung, um diese Zeit sind wir Alle von einem geheimnißvollen Zauber ergriffen, und unter tausend anderen Wünschen hegen wir auch den, daß sich die Natur zum Weihnachtsfest schmücke und das blendend weiße Schneekleid anlege. Und sie legte es wahrlich an; bald schimmerten auf den Bäumen weiße Kronen, auf Giebeln und Erkern hoben sich sanft geschwellt weiße Polster und Linien, und immer dichter wurde die Schneedecke des Erdbodens. Schon hemmte sie den Fuß des eilig Dahinschreitenden, und in den Straßen der Großstädte erschienen die dunklen Haufen der Schneeschipper; vergnügt lachten die bärtigen Gesichter und die Lippen murmelten zufrieden: „Das ist unser Wetter!“ – „Das ist unser Wetter!“ jubelte auch die Schar der lieben Schuljugend und warf die Schneebälle in heller Lust! Ja, freudig wurde jener Schneefall begrüßt!
Und weiter schneite es; immer dichter fielen die feinen Flocken; eisiger Wind pfiff von Zeit zu Zeit dazwischen; hin und her trieb er weiße Wolken, formte auf der ebenen Straße Mulden und Hügel und heulte und pfiff immer lauter und siegesbewußter, bis er die vollen Töne des Sturmes erreichte. Aber was focht das die Menschen an in der erwartungsfrohen Zeit vor Weihnachten!
Im Hochgebirge mag solch ein Schneesturm zu Besorgniß Anlaß geben. Jahraus jahrein gewinnt ja dort der Schnee die Oberhand, daß die Dörfer, von jedem Verkehr abgeschnitten, wie in langen Winterschlaf versinken und über Berge und Kämme kein Weg und Steg führt. Gefahrdrohend erscheint er wohl auch in der weiten, menschenleeren Steppe des Ostens, wo der verirrte Reisende auf den weißen endlosen Schneefeldern nach den klagenden Glockentönen naher Dorfkirchen horcht, die ihm den rettenden Weg weisen. Aber im Herzen Europas, im Herzen unserer stolzen Kultur, wer würde da die Gewalt eines Schneesturmes fürchten? Wir wissen ja: der Wintermonarch mit der Eiskrone vermag den heißen Herzschlag des schnaubenden Dampfes nicht zu ersticken; wie oft schon in den letzten Jahren hat er Wälle auf Wälle dem Blitzzuge in den Weg geworfen! Wohl hielt stellenweise das Dampfroß an, aber hundert fleißige Hände bahnten ihm durch Schneewehen den Weg, und donnernd und schnaubend erreichte es stets sein Ziel – einige Stunden Verspätung, sie sind leicht einzuholen in dem Zeitalter des Dampfes.
So dachten wir alle, als die lange Winternacht mit schwarzen Fittigen die Erde umfing und die Stadt zur Ruhe ging, unbekümmert um das Toben des Sturmes. Als aber der Morgen graute, da hatte der Tückische sein Werk vollbracht. Der Schneefall hatte durch alle menschlichen Berechnungen einen einzigen großen Strich gezogen. Der Verkehr stand still; kein Pfeifen der Lokomotiven, kein Glockensignal ankommender und abgehender Züge auf den Bahnhöfen; nur in den Wartesälen lärmende Menschen; sitzengebliebene Reisende, die weder vor- noch rückwärts konnten; Reiselustige, die vergebens nach dem Bahnhofe gekommen waren. Hier trieb der Galgenhumor seine Blüthen; dort schaute tiefes Leid aus den blassen Gesichtern. Der Bräutigam, der zur Hochzeit wollte, kann nicht vorwärts und muß die Braut im festlichen Schmucke warten lassen; der Sohn kann nicht eintreffen zum Begräbniß des Vaters; der Geschäftsmann rechnet still die Verluste nach, welche ihm der unfreiwillige Aufenthalt zufügt. So wogt auf und ab die Menge in den Bahnhöfen der Großstadt, bis die Hoffnung auf Weiterkommen schwindet, bis sich die Säle leeren und die großen Hallen tagelang stumm und still dastehen, wie noch niemals, seitdem die Menschenhand sie aufgeführt. –
Ein anderes Bild bieten uns die Bahnhöfe kleiner Orte; auch hier wimmeln die Säle von Sitzengebliebenen. Verzweiflungsvoll depeschiren sie nach allen Himmelsrichtungen um Rettung und Erlösung. Vergeblich! Die Nacht vergeht und der Tag bricht an; im nahen Städtchen suchten die Einen Unterkommen, die Anderen übernachteten in den kalten Eisenbahnkoupés. Reich und Arm, Hoch und Niedrig brachte der Zufall zusammen, und man sieht, wie ein Hut durch die Gesellschaft wandert, wie gesammelt wird für die mittellosen Reisegenossen; und als die Thränen der Armen angesichts der gebotenen Hilfe trocknen, da erfaßt auch fröhlichere Lust die Gemüther der Geber. Die Sitzengebliebenen veranstalten Tanzkränzchen, und es wird sogar von Verlobungen, von verlorenen und gefundenen Herzen gemunkelt. Wundersamer Humor der Eingeschneiten!
Draußen aber auf dem blachen Felde hat der Sturmwind eine malerische Landschaft aufgebaut, Wälle und Dämme, Hügel und Berge aufgethürmt, Straßen verweht, Eisenbahnlinien unsichtbar gemacht. Zwischen den Baumreihen, die schwarz aus dem Schneefelde hervorragen und die Chausséerichtung andeuten, liegen ausgespannte Wagen und Lastfuhrwerke. Man ließ sie stehen, da ein Vorwärtskommen unmöglich war. Zwischen den schlanken Telegraphenpfählen schaut aus dem hohen Schneedamme eine Reihe dichtgedrängter Eisenbahnwagen hervor. Eingeschneit! Der Zug kann weder vorwärts noch rückwärts; kein Rauch steigt aus dem Schornstein der Lokomotive gegen den grauen Himmel; die Menschen spähen ungeduldig hinaus, ob die Hilfsmaschine nahe mit Feuerungsmaterial und Nahrungsmitteln und hoffentlich auch mit Arbeitern, welche die Bahn frei legen.
Hier sitzen noch die Passagiere streng nach Klassen gesondert. Die gelben Nummern auf der Wagenthür behalten noch ihre Geltung, und
[62] wer durch die Koupéfenster hineinschaut, der erblickt seltsame „lebende Bilder“. Hier die stumme Ergebung in das Unvermeidliche, von der Philosophie des Rauchens unterstützt, dort der übliche Zeitvertreib mit der Lektüre eines auf der letzten Station aufgegriffenen Blattes. Die Jugend hat Zeit, sich genauer zu betrachten; durchdringender und muthiger werden die anfangs scheuen Blicke, und obwohl es draußen winterlich schneit und der Sturm durch die Landschaft tobt: die Jugend setzt sich leichter über das Schicksal hinweg und in ihrem Herzen wird’s Frühling! Düsterer sitzen zusammengedrängt die weniger Bemittelten in den letzten Klassen. Zeit ist ihnen Geld im vollsten Sinne des Wortes; denn sie leben von der Hand in den Mund. Unmittelbar empfinden sie darum auch die Härte des sie treffenden Verlustes. Als aber die Hilfe naht, aus der Umgegend eine Schar von Arbeitern und eine Abtheilung Soldaten erscheint und kräftig mit Schaufeln und Spaten eingreift, da erhellen sich die Züge, und die Lustigsten denken an Zeitvertreib und spielen gar Skat und rufen in bitterer Laune: „Ein prächtiges Skatwetter!“ Draußen aber wetteifern der Nährstand und der Wehrstand um die Freilegung des Verkehrs.
So bildet der eingeschneite Zug eine Welt für sich; ein kleines Abbild der großen menschlichen Gesellschaft, die so verschiedenartig das Schicksal zu tragen weiß und ihm bald lachend, bald weinend begegnet.
An dem bleigrauen Himmel ballt sich aber von Neuem das düstere Gewölk. In Scharen fliegen die weißen Flocken zur Erde; in erneutem Angriff stürmt der Schnee, und, unterstützt vom Winde verschüttet, er wiederum das rettende Werk tausend fleißiger Hände.
Auch das Antlitz der Großstadt verändert seine sonst so gleichmäßigen Züge. Schneedämme wachsen mitten auf dem Straßenpflaster auf; Schneelawinen stürzen von den Dächern. Auch in der Stadt stockt der Verkehr; die Pferdebahnen stehen still, nur vereinzelt erscheinen die Droschken in den Straßen; dafür erblickt man in langen Reihen schwere Wagen, welche langsam den Schnee zum Stadtthore hinausfahren. Der Wochenmarkt ist leer, die Stadt wie belagert, die Zufuhr von Lebensmitteln abgeschnitten, und selbst in der warmen, traulichen Kinderstube spürt man die Rückwirkungen des Schneeunwetters. Draußen vor dem Stadtthore ist der Milchkarren im Schnee stecken geblieben. Selbst vom nächsten Dorfe kann Niemand herein. Vergeblich schreit das kleine Gretchen nach Milch; sie ist selbst für das theuere Geld nicht zu beschaffen. „Gewöhne dich, kleines Herz, an Entsagung; nimm mit Suppe und Nestle’schem Kindermehl vorlieb!“ „Ihr habt gut reden,“ meint verzweifelt die Mutter.
Durch die verschneiten Straßen bahnt sich der Briefträger den Weg. Zur gewohnten Stunde tritt er seinen Gang an, ein Sinnbild der Regelmäßigkeit; aber seine Brieftasche ist leer. Die Post von auswärts ist ausgeblieben: keine Nachrichten, keine Briefe, keine Zeitungen!
Und Weihnachten naht. An den Postschaltern stehen lange Züge von Menschen, alle mit Weihnachtssendungen beladen. Die Weihnachtspost wächst an; schon liegen Tausende von Packeten da; andere Tausende kommen hinzu. Sie alle müssen unbefördert bleiben; denn die Eisenbahnzüge gehen nicht. Und es ereignet sich das Unerwartete, kaum noch Dagewesene: die Post verweigert die Annahme neuer Sendungen; denn sie hat keine Lagerräume, um alles Das aufnehmen zu können, was den Menschen das Christkind bescheren will.
Da liegen sie in buntem Wirrwarr, groß und klein, all die Päckchen und Ballen, als ob ein launiger Kobold sie zusammengeworfen hätte: schlichte Gaben der Liebe neben Geschenken, welche der Scherz stiftete. Und der Kobold lacht boshaft aus der Ecke; denn nicht nur Täuschungen hat er den Menschen bereitet; die Geschäftswelt weiß leider von Verlusten zu berichten, deren Summen fast unglaublich klingen.
Die zweite Nacht vergeht; der dritte Tag bricht an, und der tolle Flockentanz in der Luft will nicht enden. Der Himmel läßt uns seine Uebermacht fühlen. Aber wie erdrückend auch die Lage ist, der Kampf wird nicht aufgegeben. Neue Bataillone rücken aus den Garnisonen gegen den feindlichen Schnee nach den bedrohten Punkten der Eisenbahn; die belagerten Städte stellen ihr letztes Aufgebot ins Feld. Dort rücken sie aus, von einem Straßenmeister geführt, die neuen Schneeschipperkolonnen: einst hatten die Leute bessere Tage gehabt; das sieht man ihnen wohl an. Es sind stellenlose Familienväter darunter, die sonst am Kaufmannspult mit der Feder gearbeitet. Endlich haben sie Arbeit gefunden, eine harte Arbeit in Wind und Wetter; aber der Lohn ist ehrlich verdient, und einen kurzen Sonnenschein wird er in die trüben Wohnungen in der Dachkammer bringen, einen Abglanz des frohen Kerzenscheines der heiligen, Wunder wirkenden Nacht.
Der Kampf wird nicht aufgegeben! Die Post wahrt den Ruf ihrer Findigkeit. Vom Dampfe im Stiche gelassen, weiß sie andere Mittel und Wege zu finden. Der lustige Postillon, der wird schon dem Schneesturm trotzen; und vierspännig, auf Schlittenkufen, fährt die alte Postkutsche zum Stadtthor hinaus, und herausfordernd schmettert wieder das Posthorn. Hoiho! Alte Post wieder in Ehren! Sie fährt ja wieder zwischen Dresden und Leipzig, zwischen Leipzig und Halle, zwischen Chemnitz und Leipzig und so weiter zwischen Stadt und Stadt. Langsam kommt sie zwar vorwärts; im Schritt nur geht es, eine wahre Schneckenpost! Aber sie ist heute doch schneller als der Dampf; triumphirend überholt sie den eingeschneiten Zug; was nützen ihm die vielen Dampfmaschinen! Das Posthorn klingt siegreich durch die leeren Straßen: wir bringen wenigstens Briefe und Zeitungen!
Aber welche Fahrt! Hier überschaut das Auge die Größe der Zerstörung. Die Wälder stöhnen unter der schweren Last, und dumpf krachen die Bäume im Schneebruch zusammen. Das Wild bricht ermattet zu Boden. Nur Raben und Krähen durchschweifen das weite Gefilde. Hier ist der Tod durch die Landschaft geschritten, und in entlegenen Dörfern und Weilern kreist die Trauerbotschaft von verlorenen Menschenleben.
Endlich, endlich hat das Wetter ausgetobt. Blendend huscht von Zeit zu Zeit der Sonnenstrahl durch die weißen Strecken, als ob er frohe Zukunft verkünden wollte. Milde Hoffnung weckt er in den Herzen und scheint leise zu flüstern: bald wird kommen die Zeit, wo ich die Schneedecke schmelze und grüne Kräuter und blühende Pflanzen zu neuem Leben wecke, und auch ihr werdet den Schneesturm vergessen und in rüstiger Arbeit euch des Lebens freuen! Und schneller, als man glauben sollte, geht die Hoffnung in Erfüllung; denn wahrlich, schon rollen die Eisenbahnzüge von Stadt zu Stadt, von Land zu Land; allmählich tritt die gewohnte Ordnung der Dinge in ihr Recht.
In seinem Arbeitszimmer sitzt der Gelehrte; er hat die Richtung des Windes, die Stärke des Schneefalls gemessen, die Zahlen zusammengezogen und gelangt zu einem seltsamen Schlusse. Die Masse des Wassers, die in gefrorenem Zustande in den letzten Tagen niedergefallen war, so gewaltige Störungen verursacht und so viele Menschenopfer gefordert hatte, ist recht unbedeutend. Ein einziges Gewitter, welches am schwülen Sommertage mit Blitz und Donner auf die Erde herniederfährt, vermag in wenig Stunden dieselbe Wassermenge zu liefern. Der Gelehrte trägt seine Beobachtungen einfach in das große Buch der Wetterberichte ein. Im Laufe der Jahrhunderte war es nicht der erste Schneefall von solcher Ausdehnung und Gewalt, und er wird auch nicht der letzte sein.
Sinnend schaut er auf die Staubatome, die, wie draußen die Schneeflocken, jetzt in seinem Zimmer in den Strahlen der Sonne schwingen und tanzen. Eine Welt ruht in ihnen, unsichtbar, aber voll Werdens und Vergehens wie die große majestätische Natur, welche die Menschheit schreckt und entzückt. Er lächelt aber leise, denn er weiß, daß ein höheres Gesetz über dem Wandel der Erscheinung steht: Wolkenbrüche, Ueberschwemmungen, Schneestürme und Erdbeben, sie schrecken die Menschheit nur im Augenblicke, aber sie vermögen ihre Entwickelung nicht zu hemmen; denn größer noch als im Zerstören ist die Natur im Heilen der Wunden, welche sie geschlagen.