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Einige Stunden in der k. k. Irrenanstalt in Wien

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Textdaten
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Autor: Dr. A.
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Titel: Einige Stunden in der k. k. Irrenanstalt in Wien
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 37–39
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[37]
Einige Stunden in der k. k. Irrenanstalt in Wien.
Von Dr. A.

Die k. k. Irrenanstalt in Wien.

Irrsinnige haben, wenn für den Menschenfreund etwas Trauriges, für den Arzt und Menschenkenner stets auch etwas Interessantes, denn erforscht er an den Gesunden die Lichtseite, so bieten ihm die Geisteskranken die Gelegenheit dar, die Schatten- oder wohl gar die Nachtseite des menschlichen Denkens, Wollens und Fühlens zu erspähen. Durch sie lernt er einsehen, wie sie ihre Gefühle oft seltsam verkörpern und personificiren, die Romane ihres Gehirns darstellen, Vorstellungen buntscheckig und ohne irgend ein Gesetz der Association aneinander reihen und überhaupt ein Seelenleben zeigen, das sonst weder erdacht, noch irgendwo anders gefunden werden kann. Darum sind die Psychiatriker (Seelenärzte) mit den meisten Novellen und Theaterstücken, in denen Irrsinnige Rollen spielen, unzufrieden, weil die auch noch so reich begabte Phantasie des Dichters die Wirklichkeit und Wahrheit eines wahnsinnigen Lebens nicht zu treffen im Stande ist. Der einzige Shakespeare macht hier eine Ausnahme, und seine Ophelia in Hamlet ist das Größte, was hier in diesem Fache existirt. Ein berühmter Psychiatriker, der zugleich mit mir die Aufführung im k. k. Hofburgtheater in Wien sah, machte denn auch die Bemerkung: Shakespeare hat seine Ophelia nach der Natur, d. i. an einer Irrsinnigen studirt, sonst hätte er diesen Charakter, obgleich ein so großes Genie, doch nicht so wahr und natürlich zeichnen können. Auf die Einwendung, daß ein Genie ja gerade das Eigenthümliche habe, sich ganz und gar in die Situation zu versetzen, entgegnete er:

„Nun und nimmer mehr, eben weil es ein gesundes und kein krankes Genie ist.“

Eben dieser große Psychiatriker wies die Schauspielerin, welche, anerkannt von allen Recensionen, die Rolle der Ophelia gegenwärtig am besten spielt, und die sich an ihn wendete, um sie ihr noch verbessern zu helfen, von sich und sagte ihr:

„Die Recensenten und Psychiatriker sind mit Ihnen zufrieden und so wird es das Publicum auch sein.“

Auf meiner Reise durch Wien suchte ich die k. k. Irrenheil- und Pflegeanstalt auf und fand bei dem Medicinalrath und Director derselben, Dr. Riedl, freundliche Aufnahme. Es ist ein zweistöckiges großes Gebäude, auf dem sogenannten Brunlfelde nächst der Hernalserlinie noch innerhalb der Stadtmauer gelegen, mitten in einem großen Parke auf einer Area von 60,000 Quadratklaftern und sieht mehr einem Lustschlosse, als einer Irrenanstalt gleich. Die Aussicht, die man auf dieser Anhöhe genießt, ist wirklich reizend; südwestlich die schönen Gebirge von Klosterneuburg, Grinzing, Dornbach; nordöstlich das ungeheuere Häusermeer der Residenzstadt, von der man einen großen Theil der Vorstädte überschaut. Sie liegt auf einem der schönsten Punkte, die Wien hat.

Nach Besichtigung der Anstaltscapelle, die mit kaiserlicher Pracht ausgestattet ist, nahmen wir das Innere der Anstalt in Augenschein. Die Gänge sind weit und groß, die Zimmer und Säle hoch und luftig. Zu ebener Erde sind die Handwerksstätten und Conversationssäle, im ersten Stock die Schlafstätten, in einem [38] Saale zehn bis funfzehn Betten. Im zweiten Stock sind Wohnungen für die vornehmen Patienten. Ein Patient erster Classe hat ein Zimmer für sich und ein Vorzimmer für den Bedienten, der zweiter Classe wohnt mit noch zwei oder drei Anderen zusammen. Alle diese Wohnungen sind sehr nobel eingerichtet, mit Sopha, polirten Kästen u. s. w. In den Conversationssälen sind Billards, Fortepiano’s, Zeitungen, Bücher u. s. w. zur Unterhaltung der Patienten.

In dieser Anstalt herrscht die Einrichtung, daß Jeder arbeiten muß, der arbeitsfähig ist, daher man ein müßiges, geschäftsloses Leben durchaus nicht trifft; der Bauer arbeitet auf den Feldern und in den vielen Gärten der Anstalt, der Maler und Bildhauer in seinem Atelier, der Compositeur componirt in einem Saale, in dem die nöthigen musikalischen Instrumente sich vorfinden, der Schriftsteller studirt und schreibt[1], kurz Jeder beschäftigt sich mit dem, was er vor seiner Krankheit gewohnt war und was daher auch tauglich ist, ihn in sein vorhergewohntes Leben wieder einzuführen. Dieses Alles geschieht in solcher Ordnung und so geräuschlos, daß man vergißt, in einer Irrenanstalt zu sein und sich eher in eine große geschäftige Haushaltung versetzt glaubt. Von Zwangsjacken sah ich auch nicht eine Spur an den vielen Patienten, die frei auf- und abgingen, und ich konnte nicht begreifen, wie denn eine solche Menge von Kranken (in der Heilanstalt befinden sich gegen 500 mit 80 Wärtern und Wärterinnen, in der Pflegeanstalt über 300 mit 30 Bediensteten) in solcher Ruhe und Ordnung erhalten werden konnten. Ich sah unter ihnen nur selten Anzeichen von Irrsinn, die Meisten redeten[WS 1] und betrugen sich ganz vernünftig. Auch war ihre Kleidung dem jeweiligen Stande angemessen; die ehemalige Anstaltsuniformirung ist hier längst verbannt. Je länger ich darin herumwandelte, desto mehr stieg meine Verwunderung über das schöne Betragen der Kranken. Auf meine Verwunderung hierüber entgegnete mir der Director:

„Hier sehen Sie nur die Reconvalescenten, die so vernünftig sprechen und sich benehmen, wie jeder Verstandsgesunde, im Falle man ihre schwache Seite nicht berührt und sie zu beherrschen versteht; die schweren und gefährlichen Kranken sind von ihnen abgesondert und befinden sich in Corridors, wohin ich Fremde nicht gern zulasse.“

Das war freilich ein Wink, diesen Ort unbesichtigt zu lassen, aber so ist schon der Mensch: nitimur in vetitum … meine Neugierde nach den Corridors wurde dadurch nur noch gesteigert. Ich wollte eben die Gefährlichen, die Tobsüchtigen, die Könige, Millionäre u. s. w. in ihrem Wesen sehen, ihre Gespräche hören und ihr ganzes Benehmen betrachten. Nach meiner motivirten Bitte, daß nicht Neugierde, sondern Wißbegierde mich dazu bestimme, diesen Ort zu besuchen, versprach mir endlich der Director, mich in die Corridors zu führen. Nachdem wir auf dem Wege dahin die verschiedenen Werkstätten, die sich von den gewöhnlichen in der Welt draußen in gar nichts unterscheiden und daher nicht weiter zu besprechen sind, besucht hatten, gelangten wir an eine verschlossene Thür. Der Director öffnete sie mit seinem Schlüssel, den er stets bei sich trägt, und wir traten ein. Ein oblonger Saal mit zwölf Seitencabineten faßte ungefähr dreißig Patienten, unter denen wieder kaum vier oder fünf die Jacke hatten, die Uebrigen gingen frei herum. Sie kamen alle auf uns zu, grüßten uns höflich und ich konnte ihre Anhänglichkeit an den Director nicht genug bewundern; sie umgaben ihn so vertraulich, wie Kinder einen Vater und redeten so ziemlich vernünftig mit ihm. Nur drei machten eine Ausnahme, die ich zur Unterhaltung des Lesers etwas näher bezeichnen werde. Der Erste war ein kleiner dicker Mann, ungefähr vierzig Jahre alt, von außerordentlich wildem Aussehen, im Gesichte mit Bart und Haaren ganz verwachsen und von trotzigem Aussehen. Er saß an einem langen Tische, der in der Mitte des Saales stand, und sah trotzig vor sich hin. Der Mann interessirte mich ungemein und während der Director mit seinen Patienten sich unterredete – jeder hatte ihm ein Anliegen mitzutheilen – ging ich auf ihn zu und fragte:

„Wie geht’s, mein Herr?“

Er sah mich seltsam an und antwortete:

„Wie’s geht? Gar nicht, ich sitze. Müßiges Leben in dieser Hundshütte, keine Jagd.“

Ungeachtet des menschlichen Elendes, das hier herrschte, mußte ich doch herzlich lachen, so komisch kam mir seine Antwort und die Art und Weise vor, mit der er diese räthselhaften Worte sprach. Sie sollten sich aber bald enträthseln. Auf mein Lachen entgegnete er:

„Sie haben gut lachen, Sie sind ein Mensch, aber ich bin durch den Zauberer“ – der Name ist mir entfallen – „in einen Hund verwandelt worden.“

Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, stand auch schon der Director an seiner Seite und sprach:

„Was schwatzen Sie da wieder für albernes Zeug, Herr N.N.?“ Er sprach diesen seinen Vor- und Zunamen mit Betonung aus. „Wie oft schon habe ich Ihnen das verboten!“ fuhr er fort. „Wie heißen Sie? Wer sind Sie? Wie alt?“ u. s. w.

Er fragte ihn sein ganzes Nationale aus, welches der Patient auch getreu angab. Den Zweck der Fragen erräth nach diesen Antworten Jeder, nämlich das menschliche Bewußtsein des Patienten wachzurufen und zu befestigen. Nachdem dies geschehen war, wurde denn auch der Patient, der sich hierauf ganz verständig benahm, ermahnt, sich ja nicht mehr beifallen zu lassen, seinen Wahnideen nachzuhängen, sondern er möge sich Gewalt anthun, vernünftig zu denken und zu reden und sich zu benehmen, so werde man ihn auch als einen Vernünftigen behandeln.

Wie kam der Patient auf den Wahn, ein Hund zu sein? Eine körperliche Krankheit überzog seine Haut mit Schuppen, und behaart war er ohnehin sehr stark.

Der zweite Kranke war ein baumstarker, hoher Mensch von höchst imponirender Gestalt, etwa 30 Jahre alt. Er lehnte in einer Ecke des Corridors und gesticulirte vor sich hin, indem er stets von Geld und hohen Summen phantasirte. Als wir zu ihm traten, sprach er eben: „Vier Millionen Bankactien 1/4, nein 1/8, also doch endlich gestiegen? Verdammt, nein, gefallen“ u. s. w.

Unglückliche Börsenspeculation machte ihn zum Bettler, und der Wahnsinn war die Folge davon. Bald bildete er sich ein, vier Millionen und ungeheure andere Reichthümer zu besitzen, bald wieder an den Bettelstab gekommen zu sein. Im letzten Falle verweigert er zu essen, indem er bei den Aufmunterungen dazu stets sagt: „ich kann’s ja nicht bezahlen, und schuldig will ich nichts bleiben.“ – Um ihn zum Essen zu zwingen, muß die hierzu neuerfundene elektro-magnetische Maschine angesetzt werden, die, an einen Muskel des Schlundes gebracht, ihm den Mund öffnet. Nebenher gesagt, sind die Maschinen und Apparate in dieser Anstalt bewundernswürdig, sie aber hier zu beschreiben, würde zu weit führen.

Die Manipulation des Directors mit diesem Millionär-Bettler war ganz eigenthümlich, und in kürzester Zeit brachte er ihn zum Bewußtsein seines wahren und eigentlichen Charakters. Fragen und Antworten, also die sokratische Methode, wurden stets und zwar in eminentester Weise gehandhabt, worüber ich mich nicht genug verwundern konnte. Der Director aber entgegnete mir lächelnd: „Die Wirkung dieser Moralisation ist von keiner besonderen Bedeutung und nützt nicht viel, so lange der Patient noch körperlich krank ist, die somatische Heilung durch Bäder, körperliche Bewegungen u. s. w. ist die Hauptsache. So lange der Irre seine krankhafte Empfindung und sein abnormes Gemeingefühl behält, nützt alles Zureden wenig und in den meisten Fällen gar nichts.“

Der Dritte war ein Wahnsinniger und aus unglücklicher Liebe redete meist in Versen (er litt auch an Reimwuth, Metromanie) von seiner Geliebten.

Mit jedem Patienten benahm sich der Director anders, und war ein wahres Chamäleon. Noch nie sah ich einen Menschen, und ich sah die größten Schauspieler, der seinen Charakter so schnell, hier nach der Individualität des Kranken, verändern könnte, als der Director dieser Anstalt; wahrlich, dieser Mann verdient seinen großen Ruf, den er unter den Psychiatrikern genießt, schon hierin!

Hierauf führte er mich in eines der zwölf Cabinete. Ein Tischchen, ein Stuhl daneben, ein Bett und ein Nachtstuhl, jedes dieser Stücke mit eisernen Spangen an den Boden befestigt, machten die ganze Einrichtung aus. Das große Fenster, durch welches [39] das Licht einfiel, konnte durch eine Maschinerie in wenig Secunden geschlossen werden, und nach Verschluß der Eingangsthüre in diese Zelle kann auch nicht ein Lichtstrahl eindringen, so daß die größte Finsterniß herrscht, eine stockfinstere, künstliche Nacht zur Mitigation exaltirter Patienten. Ich gestehe offen, daß mir selbst bange wurde, da ich mich in dieser Finsterniß befand.

Die Frauenseite, streng von der der Männer getrennt, ist von dieser nur insofern verschieden, als statt der Handwerkstätten Locale für Näherinnen, Strickerinnen, Strohhutflechterinnen und zum Waschen eingerichtet sind. Auch hier herrschte große Ordnung, und ein nach der Tagesordnung von 6 Uhr früh bis 7 Uhr Abends geschäftiges Leben. Die Irren speisen gemeinschaftlich in großen Sälen und, was mir höchlich auffiel, mit Messer und Gabel, ohne daß je ein Unfall vorkam; in den Corridors ist dies aber nicht der Fall, und von Schneideinstrumenten kann da keine Rede sein.

Ich verließ diese Anstalt mit dem freudigen Bewußtsein, daß Oesterreich im Irrenfache seit einem Decennium große Fortschritte gemacht und endlich einmal eingesehen hat, daß es hierin dem Auslande nicht nachstehen darf, was leider vorher nicht der Fall war; denn wer, der Wien besuchte, erinnert sich nicht des zum Sprüchwort gewordenen runden Thurmes, welcher die einzige Heil- und Pflegeanstalt für die Irren durch so viele Jahre war?




  1. In den von Bruno Schön herausgegebenen „Humoristischen Pillen“ (Wien) ist z. B. eine Novelle: der Pique Neuner abgedruckt, die von einem Wahnsinnigen herrührt. Bruno Schön lebte einige Jahre unter Wahnsinnigen, und theilt u. A. auch Gespräche der Irrsinnigen unter einander, Selbstbiographien Wahnsinniger etc. mit.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: rdeten