Der Kranken-Engel

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Autor: Max Ring
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Titel: Der Kranken-Engel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 3–5, S. 33–36, 45–48, 57–59
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[33]
Der Kranken-Engel.
Novelle von Max Ring.


I.

Es war im Jahre 1811 am frühen Morgen, als der Verwalter Hartmuth auf einem oberschlesischen Vorwerke die zur Arbeit für die Gutsherrschaft verpflichteten Bauern musterte und jeden bei dem Namen aufrief, um sich von seiner Anwesenheit zu überzeugen. Die in Preußen damals bestehende Erbunterthänigkeit war noch nicht aufgehoben, obgleich eine dahin zielende Cabinetsordre bereits erlassen und der Termin für dieselbe festgestellt war. Die ländliche Bevölkerung hatte von diesem wohlwollenden Vorhaben der Regierung unbestimmte Kenntniß erlangt und in ihrer Weise die ausschweifendsten Hoffnungen daran geknüpft. In der Dorfschenke wurde diese Angelegenheit lebendig hin und her besprochen. Die Mehrzahl dieser polnischen Bauern hielt sich von allen Verpflichtungen gegen ihre bisherigen Herrn frei; sie glaubten, daß ihnen widerrechtlich die noch zu leistenden Dienste zugemuthet würden. Es bedurfte nur eines geringen Anlasses, um eine offene Empörung hervorzurufen. Der Verwalter Hartmuth war von Natur ein strenger und jähzorniger Mensch; der kleinste Widerspruch konnte ihn in Wuth versetzen.

„Anton Kaziel!“ rief er mit lauter Stimme zum zweiten Male, da er keine Antwort erhalten hatte.

Statt des Gerufenen trat eine blasse, abgezehrte Frau in der dürftigsten Kleidung und demüthigsten Stellung hervor. Nach slavischer Sitte beugte sie sich, um den Rockschooß des gnädigen Herrn Verwalters zu küssen.

„Verzeihung!“ bat sie mit schwacher Stimme, „aber mein Mann ist krank; er liegt am Fieber und kann nicht aufstehen.“

„Ich kenne das,“ entgegnete der Verwalter finster. „Eure Krankheit ist die Faulheit, aber ich werde Euch schon curiren. Diese Medicin ist die beste für solch’ Gesindel, wie Ihr Alle seid.“

Dabei schwang er den gewichtigen Ochsenziemer, den er in seiner Hand hielt. Ein dumpfes Murmeln in dem Kreise der anwesenden Bauern wurde hörbar und reizte den Wüthenden nur noch mehr, statt ihn einzuschüchtern.

„Wer wagt es,“ schrie er laut, während das aufsteigende Blut sein gewöhnlich rothes Gesicht ganz dunkel färbte, „hier ein Wort zu sprechen? Den Ersten, der sich muckt, lasse ich in’s Loch werfen und ihm fünfundzwanzig aus dem Pfeffer und Salz aufzählen. Ihr wißt, daß ich Wort halte.“

Die Drohung des großen und starken Mannes, so wie die angeborene Furcht verfehlten auch diesmal ihre Wirkung nicht. Die Roboter ließen ihre Köpfe hängen und beugten sich vor der gewohnten Autorität. Als der Verwalter seine Augen im Kreise herumschweifen ließ, begegnete er nur dem Ausdrucke der alten, stupiden Unterwürfigkeit. Nur im Innern seiner Untergebenen knirschte der Haß, welcher sich nicht offen zu zeigen wagte. Nachdem die Ruhe auf diese Weise wieder hergestellt war, wandte sich Hartmuth gegen die arme Frau.

„Gut,“ sagte er mit rauher Stimme, „wenn Dein Mann krank ist, so mußt Du an seiner Stelle hier bleiben und seine Arbeit thun. Die Herrschaft kann und darf nicht darunter leiden.“

„Lieber, gnädiger Herr!“ flehte die Frau. „Das werden Sie doch nicht im Ernst verlangen. Mein Mann kann sich nicht von der Stelle rühren. Wer soll ihn pflegen, ihm einen Trunk reichen, wenn ich nicht zugegen bin? Und die Kinder, meine armen Kinder; sie müssen hungern und verkommen, wenn ich mich nicht um sie kümmere.“

„Das geht mich nichts an. Zum Teufel! Wer heißt Euch so viele Kinder in die Welt setzen, die Ihr nicht einmal zu ernähren wißt! Marsch! in die Scheune mit den Dreschern und wenn Du nicht Deine Schuldigkeit thust, so sollst Du mich kennen lernen!“

„Um des Himmels willen, sein Sie barmherzig! Ich muß nach Hause. Mein Mann wird ja gern, wenn er erst wieder gesund ist, doppelt so viel arbeiten und das Versäumte reichlich einbringen.“

Die geängstigte Frau umschlang mit ihren schwachen Armen die Kniee des Verwalters, um ihn zurückzuhalten, da er sich zum Fortgehen anschickte. Hätte er nur ihr bleiches, bekümmertes Gesicht gesehen, so würde er vielleicht milder gewesen sein. Aber der Widerstand, den er von ihrer Seite zu finden glaubte, versetzte ihn auf’s Neue in Wuth. Er wollte sich losreißen und da sie ihn noch immer festzuhalten versuchte, so stieß er sie mit Heftigkeit von sich. Sie fiel und unglücklicher Weise mit dem Kopfe gegen einen großen Stein, der in der Nähe lag. Als sie so niederschlug, erhielt sie eine große Wunde und das Blut rieselte in warmen, rothen Strömen über ihr dunkles Haar und die bleiche Stirn. Regungslos lag sie auf dem Boden; die umstehenden Bauern waren stumm vor Entsetzen und auch der Verwalter selbst schien seine vorschnelle That zu bereuen. Einige anwesende Frauen beugten sich mitleidig zu der Ohnmächtigen herab und bemühten sich, sie in’s Leben zurückzurufen.

In diesem Augenblicke trat ein junger Mann von kräftiger Gestalt aus der benachbarten Schmiede, welche zu dem Hofe gehörte. In seiner schwieligen Faust trug er noch den gewichtigen Hammer, womit er so eben ein Pferd beschlagen hatte. Eine [34] sonst dem oberschlesischen Volke mangelnde Energie drückte sich in seinen kühnen Zügen und in seiner festen Haltung aus. Das Geschrei der Frauen, die Verstörung der Männer und der Anblick des ohnmächtigen Weibes hatten seine Neugierde erregt.

„Was gibt es denn, was ist hier vorgefallen?“ fragte er die Zunächststehenden.

„Dort liegt Deine Schwester!“ antwortete ihm einer der Roboter.

„Meine Schwester!“ rief er erschrocken, indem er den Trupp durchbrach, der schon zur Seite wich. „Sie ist todt, gemordet! O! wer hat dies gethan?“

Keiner der Umstehenden wagte, den Verwalter laut zu beschuldigen. Nur ihre stummen Blicke und Winke klagten ihn als Thäter an. Ehe Hartmuth noch ein Wort zu seiner Rechtfertigung vorbringen konnte, hatte ihn der Schmiedegesell am Halse gefaßt und holte mit seinem Hammer zu einem furchtbaren Streiche aus. Er hätte ihn sicher getödtet, wenn nicht der Verwalter durch eine schnelle und geschickte Biegung dem Schlage ausgewichen wäre. Mit der ganzen Stärke, die er besaß, suchte er jetzt seinem Gegner die gefährliche Waffe zu entreißen. Beide waren einander an Kräften gleich und es entspann sich daher ein erbitterter Kampf, dessen Ausgang höchst zweifelhaft schien. Der junge Mann hatte den Hammer fallen lassen und rang mit dem Verwalter, den er um den Leib gefaßt hatte. Bald lag der Eine, bald der Andre auf dem Boden und schaute mit vernichtenden Blicken in das von Wuth verzerrte Gesicht seines Feindes. Die Roboter hatten einen Kreis um die Kämpfer geschlossen, ohne sich zu betheiligen, obgleich sie in ihrem Innern entschieden die Partei des Schmiedegesellen nahmen und ihm den Sieg wünschten. So groß aber war noch immer die Macht der Gewohnheit und ihr sclavischer Sinn, daß sie nicht einmal ein Zeichen der Aufmunterung zu geben wagten. Nur über ihre stumpfen Gesichter zuckte zuweilen ein Blitzen, wenn der Verwalter auf einen Augenblick unterlag; sonst verhielten sie sich stumm.

Es herrschte das tiefste Stillschweigen, von Zeit zu Zeit durch das Schnauben und Aechzen der beiden Kämpfer unterbrochen.

Endlich hatte Pawel, so hieß der Schmied, seinen Gegner, dem er an jugendlicher Geschwindigkeit überlegen war, vollkommen überwältigt. Er kniete auf der Brust des Verwalters und während er ihn mit der einen Hand am Halse würgend festhielt, streckte er den andern Arm von Neuem nach dem Hammer aus, um, wie er beabsichtigte, den entscheidenden Schlag zu thun. Hartmuth bemerkte die drohende Gefahr und stieß einen lauten Schrei um Hülfe aus. Der ihm ergebene Schaffner des Vorwerkes und einige Knechte hörten ihn und eilten herbei, doch die drohende Haltung des Bauern schreckte sie zurück.

Schon hob Pawel die furchtbare Waffe empor, um sie zerschmetternd auf das Haupt des Gegners niederfallen zu lassen, als ein schwacher Schrei in seiner Nähe ihn aufhielt. Es war die Stimme seiner armen Schwester, welche aus ihrer Ohnmacht erwacht war und die Augen aufschlug. Ihr erster Blick fiel auf den Bruder und ihren Peiniger, der dem Todesstreiche mit höchster Angst in dem verzerrten Antlitz entgegensah. Er war ganz braunroth im Gesicht; seine mit Blut unterlaufenen Augen und der schlaff herabhängende Unterkiefer verriethen die Furcht einer gemeinen Seele.

„Halt ein, morde ihn nicht!“ rief die Schwester, welche sich wieder erholt hatte und Alles sogleich begriff.

Sie war aufgesprungen und faßte nach dem Arme des Schmiedegesellen noch zur rechten Zeit, um die schreckliche That zu verhindern. Dabei sah sie ihn mit ihren sanften Augen so bittend an, daß er nicht zu widerstehen vermochte. Der Hammer entsank seiner Faust und, indem er seine Hand von dem Halse des Verwalters entfernte, benutzte dieser die unerwartete Gelegenheit, um sich vollends zu befreien. Sobald er sich der drohenden Gefahr entrückt glaubte, kehrte auch seine frühere Heftigkeit zurück. Pawel stand noch immer, seine wiedererstandene Schwester mit freudigem Erstaunen anblickend. Eben so schnell wie sein Zorn aufloderte, war auch derselbe wieder erloschen, als er die Todtgeglaubte noch am Leben fand. Nicht so Hartmuth, der kein anderes Gefühl als die Rache über den ihm angethanen Schimpf kannte.

„Greift den Mörder, bindet den Bösewicht!“ rief er dem Schaffner und den Knechten des Hofes zu.

Diese zögerten anfänglich, seinen Befehl auszuführen, da sie den Muth des kräftigen Schmiedegesellen und die Uebermacht der Bauern fürchteten, welche diesen zu beschützen Miene machten. Aber die Drohungen des gefürchteten Verwalters und seine wiederholten Mahnungen brachten sie bald zu dem alten Gehorsam zurück. Zwei Männer näherten sich Pawel, um ihn fest zu nehmen.

„Flieh, flieh!“ rieth ihm die besorgte Schwester. Einen Augenblick schien er unentschlossen, aber die Roboter wiederholten denselben Rath. Er hatte von ihnen erwartet, daß sie sich für ihn erheben würden, doch der oberschlesische Bauer kennt nur den passiven Widerstand; er ist durch langjährige Knechtschaft feig und muthlos geworden. Nur von Zeit zu Zeit bricht sein verhaltener Groll plötzlich und unvermuthet, wie die zerstörende Windsbraut, hervor. Noch war dieser Augenblick nicht gekommen und Pawel fand sich in der Noth von seinen Freunden verlassen. Der Instinct der Selbsterhaltung trieb ihn zur Flucht. Sobald seine Verfolger sich ihm näherten, sprang er auf wie ein gehetztes Wild und eilte davon.

„Schließt die Thore, laßt die Hunde los!“ schrie der Verwalter seinen Leuten zu.

Dieser Befehl wurde augenblicklich befolgt. Krachend fielen die schweren Thorflügel zusammen und sperrten ihm den Ausweg, während die von ihren Ketten befreiten Hofhunde, von Hartmuth gehetzt, heulend und zähnefletschend hinter dem Verfolgten herjagten. Der geräumige Hof war von einer hohen, unübersteiglichen Mauer umgeben, an die sich die verschiedenen Wirthschaftsgebäude anlehnten. Außer dem Thorwege gab es nur noch eine kleine Pforte, die in’s Freie und auf die angrenzenden Felder führte. Diesen Ausgang suchte Pawel zu gewinnen. Mit der höchsten Anstrengung seiner Kräfte lief er nach diesem Ziele. Trotz des vorangegangenen Kampfes war er noch keineswegs ermüdet, und die Angst vor der drohenden Gefahr verlieh seinen Gliedern neue Spannkraft. Nur noch wenige Schritte und er war wenigstens für den Augenblick gerettet. Mit banger Erwartung sahen die Bauern dieser seltsamen Jagd zu, während die Schwester mit gefalteten Händen der Gottesmutter von Czenstochau, der allgemein in Oberschlesien verehrten Heiligen, eine Wallfahrt gelobte, wenn diese den armen Pawel beschützte.

Aber die Hunde folgten ihm auf den Fersen und in demselben Moment, wo er bei der Thür anlangte, stürmten auch sie von allen Seiten auf ihn ein. Die wüthende Meute sprang auf ihn, packte ihn, riß ihn nieder und faßte ihn mit den scharfen Zähnen. Vergebens versuchte er, sie von sich abzuwehren, sie klammerte sich fest an ihn an und ließ ihn nicht mehr los, bis der Verwalter mit den Knechten herankam und ihm mit schnell herbeigeholten Stricken die Hände auf den Rücken zusammenschnürte. Widerstandslos mußte sich Pawel die empörendsten Mißhandlungen gefallen lassen. Hartmuth schlug mit seinen Fäusten ihm in’s Gesicht und überhäufte den Unglücklichen mit den gröbsten Schmähungen.

„Ich will Dich lehren,“ schrie er laut, „gegen Deine Vorgesetzten, gegen Deine Obrigkeit Dich aufzulehnen. Und Ihr Uebrigen sollt Euch ein Beispiel daran nehmen. Wehe demjenigen, der nur einen Laut von sich gibt! Ihr sollt mich noch kennen lernen. O! ich weiß, was in Euren Köpfen spukt; aber ich werde Euch den Freiheitsschwindel schon austreiben. Darauf könnt Ihr Euch verlassen.“

Mit gesenkten Häuptern hörten die Roboter seine Worte an. Keiner wagte Etwas zu erwidern oder dem Gefangenen nur durch einen Blick seine Theilnahme erkennen zu lassen; obgleich sie in ihren Herzen den Verwalter verwünschten. Nur die Schwester näherte sich dem armen Pawel weinend.

„Und das Alles,“ sagte sie schluchzend, „mußt Du um meinetwillen dulden.“

„Weine nicht, Jadwiga!“ tröstete er sie. „Grüße Deinen Mann und Deine Kinder. Mir wird Gott helfen, denn die Menschen sind Alle schwach und schlecht.“

Dabei warf er einen halb verächtlichen, halb schmerzlichen Blick auf die Bauern, welche regungslos daneben standen.

Mit boshaftem Lächeln weidete sich Hartmuth an den Leiden des Schmiedegesellen, darauf befahl er, ihn vorläufig in einen Keller zu sperren, um später erst seine Rache an ihm vollends zu befriedigen.

[35]
II.

Trotz der scheinbaren Apathie, womit die Bauern die Behandlung Pawel’s mit ansahen, verfehlte doch das Ereigniß nicht, eine mächtige Aufregung in dem ganzen Dorfe hervorzurufen. Der Schmiedegesell hatte eine zahlreiche Verwandtschaft und war durch seine persönlichen Eigenschaften bei aller Welt beliebt. Mit einem gewinnenden Aeußern verband er eine große Gutmüthigkeit. Nie hatte er seine bekannte Körperkraft mißbraucht; er war im Gegensatz zu den andern Burschen des Dorfes so friedlicher Natur, daß er stets die Uebrigen von Händeln zurückhielt. Dabei übte er eine gewisse geistige Ueberlegenheit aus; er besaß jenen scharfen Verstand und die schnelle Fassungsgabe, welche weit öfter bei den oberschlesischen Bauern angetroffen wird, als man gewöhnlich glaubt. Freilich wird ihnen nur selten die Gelegenheit geboten, diese Gaben der Natur weiter auszubilden, und unter den drückenden Verhältnissen muß jeder bessere Keim zu Grunde gehen, wenn ihn nicht schon die angeborene Indolenz und Trägheit im Aufkommen hindert. Nur in einzelnen, begabten Naturen bricht das Licht der Seele aus den verhüllenden Wolken hervor.

Von Jugend auf zeigte Pawel einen Drang nach Erkenntniß, ein Streben, das er mit einer unter solchen Umständen bewunderungswürdigen Beharrlichkeit verfolgte. Er konnte nicht nur polnisch lesen, sondern auch schreiben und verstand sich in der deutschen Sprache ziemlich geläufig auszudrücken. Diese Wissenschaft verdankte er nicht dem noch heutzutage höchst mangelhaften Schulunterrichte, sondern weit mehr dem Zufall, den er zu benutzen verstand. Als Knabe fiel er durch seine körperlichen Vorzüge und eine gewisse Anstelligkeit dem katholischen Geistlichen des Dorfes auf, der ihn unter die Zahl der sogenannten Administranten aufnahm, welche während des Gottesdienstes kleine Verrichtungen verschen, das Weihrauchfaß schwingen und mit den Glöckchen zur Messe läuten. Diese kirchliche Stellung brachte ihn vielfach mit den Caplänen und dem Pfarrer in Berührung, deren Theilnahme vortheilhaft auf seine Bildung und Moralität einwirkte. – Sein Wohlthäter hatte sogar die Absicht, ihn studiren zu lassen und zum Theologen zu bestimmen. Leider starb derselbe, ehe er diesen Plan ausführen konnte, und Pawel, der unterdeß herangewachsen war, mußte sich entschließen, die Kanzel und den Beichtstuhl mit dem Ambos und dem Hammer zu vertauschen.

Auch in seiner neuen Lage bewahrte er jene Sehnsucht nach Erkenntniß, die er freilich jetzt nur wenig oder gar nicht befriedigen konnte. Jeder Unterricht hatte für ihn aufgehört; aber die Schmiede des Dorfes ist nächst dem Wirthshause der einzige Ort, wo ein lebhafter Verkehr stattfindet und ein gewisses Leben herrscht. – Hier kommen die Bauern zusammen und während der Meister und seine Gesellen den schadhaften Pflug oder den Wagen ausbessern, unterhalten sie sich über ihre Verhältnisse. Der Kutscher und die Bedienten des gnädigen Herrn bringen ein Pferd, um es beschlagen zu lassen, und theilen Neuigkeiten vom Schlosse mit. Zuweilen verirrt sich ein Reisender hierher, ein Hausirer mit seinem Gespann; der erzählt, wie es in der weiten Welt aussieht. –

So fehlte es Pawel auch hier nicht an Anregung und seinem lebhaften Geiste nicht an Nahrung. Er wurde wenigstens vor der Verdummung geschützt, welcher die meisten Landleute in ihrer Abgeschlossenheit und Beschränkung erliegen. – Mit gespannter Aufmerksamkeit horchte er auf all’ die Berichte, während er das Feuer schürte oder das glühende Eisen mit gewaltigen Streichen auf dem Ambos bearbeitete. Oft schaute er sinnend in die zuckenden Flammen, während der Blasebalg sauste, und träumte von einem andern Leben, von einem Schicksale.

Ein unbestimmter Thatendrang schlummerte in dieser halberwachten Seele; sie sehnte sich heraus aus dem engen Kreise, um ihre verborgenen Kräfte zu entfalten. Es gab Tage und Stunden, wo der einfache Schmiedegesell von einer Ahnung jener dem Menschen angeborenen Freiheit ergriffen wurde, welche gewaltsam an ihren Ketten rüttelt. Gedanken kamen und zogen an ihm vorüber, für die er keine Worte, keinen Ausdruck fand. – Vielleicht hätten die Zeit und der lähmende Einfluß seiner Umgebung auch diesen entzündeten Funken seines Geistes ausgelöscht, vielleicht wäre er auch der allgemeinen Stumpfheit seines Dorfes verfallen, wenn nicht die Ereignisse fast wider seinen Willen ihn fortgerissen hätten. Ein natürliches Rechtsgefühl und die Liebe zu seiner mißhandelten Schwester hatten ihn fast zum Mörder gemacht. Eine schwere Strafe erwartete ihn für seine unbedachte That. – Er lag jetzt in dem feuchten, dunklen Keller, der ihm vorläufig zum Gefängnisse angewiesen war. Anfänglich fühlte er nur die Erschöpfung, welche auf die höchste Anstrengung folgte, und den physischen Schmerz, den ihm seine Wunden verursachten. Die Hunde hatten ihn zerfleischt und die Stricke, mit denen er gebunden war, schnitten in die Muskeln seiner Arme. Zu diesen körperlichen Schmerzen gesellte sich das Gefühl der Demüthigung über die schimpfliche Behandlung, welche er erlitten. Er knirschte mit den Zähnen, wenn er daran dachte, und alle seine Gedanken athmeten Rache für den angethanen Schimpf.

Während Pawel solche Qualen duldete, sann seine Schwester, welche sich als die alleinige Ursache seines Unglücks betrachtete, auf Mittel und Wege, um den Bruder zu befreien. Nachdem sie in der Scheune schwer gearbeitet hatte, ging sie nach Hause, um nach ihrem kranken Manne zu sehen, und den Kindern das dürftige Abendbrod zu bereiten. Mit ihren Thränen benetzte sie das schwarze Brod, das sie für die Kleinen schnitt. Sobald der vom Fieber erschöpfte Kaziel und die Kinder schliefen, eilte sie trotz der späten Abendstunde auf das Schloß. Sie hoffte die Begnadigung ihres Bruders zu erlangen, da sie einige Zeit als Magd im Dienste des Gutsherrn gestanden hatte und daher ihm und seiner Familie persönlich bekannt war. Ihr größtes Vertrauen setzte sie auf das gnädige Fräulein, das Veronika hieß, und dessen Herzensgüte im ganzen Dorfe gepriesen wurde.

Der Baron von Koslowsky war der echte Typus eines oberschlesischen Edelmanns. Lebenslustig, gastfrei und von Herzen eher gutmüthig, als bös, besaß er eine überaus hohe Meinung von sich und seiner Stellung. Den größten Theil seines Lebens brachte er auf dem Lande zu; nur von Zeit zu Zeit fuhr er nach der benachbarten Kreisstadt, wo ihn seine Geschäfte hinriefen. Dort verkehrte er mit einigen jüdischen Kaufleuten, an die er sein Korn und seine Wolle verhandelte. Für die kleinen Vortheile, die er ihnen zuwendete, bezeigten sie ihm die tiefste orientalische Unterwürfigkeit. Ueber seine Bauern herrschte er unumschränkt, wie ein König; auf seinem Gute betrachtete er sich als die höchste und einzige Autorität. Sein Umgang bestand aus einigen gleichgesinnten Edelleuten, dem Pfarrer des Dorfes und dem Justitiarius, der in seinem Dienste stand, und daher nur selten oder nie dem Baron zu widersprechen wagte. Kein Wunder daher, daß er in seinen Vorurtheilen bestärkt wurde und kein anderes Gesetz kannte, als seinen Willen.

Das Schloß, welches er bewohnte, lag auf einer kleinen Anhöhe, und war ein großes stattliches Gebäude im Style des vorigen Jahrhunderts. Im Verhältniß zu den erbärmlichen Hütten der Bauern konnte es sogar imposant genannt werden. Diesem Eindrucke schadete nur eine gewisse Unsauberkeit und Vernachlässigung, welche man mit dem Namen der „polnischen Wirtschaft“ zu bezeichnen pflegt. So war die Mauer hier und da schadhaft, der Kalkbewurf abgefallen, ohne daß daran gedacht wurde, nur die geringste Ausbesserung vorzunehmen. Auf dem weiten Gehöfte trieb sich das Vieh ohne jede Aufsicht herum. Die Mitte desselben wurde von einem großen Tümpel eingenommen, auf dessen schmutzigschillerndem Wasser eine Entenheerde laut schnatternd schwamm, während in dem Morast des Ufers sich mehrere fette Schweine mit Behaglichkeit herumwälzten. Hohe Misthaufen lagen zu Bergen aufgethürmt und verbreiteten jene eigenthümlich ländliche Atmosphäre, welche den Städter zum schnellen Vorübergehen zwingt. Ein bei schlechtem Wetter fast bodenloser Weg führte zu dem herrschaftlichen Wohnhause. Nur der eine Flügel des weitläufigen Gebäudes war bewohnt, der andere dafür dem gänzlichen Verfalle überlassen, der sich durch eine Unzahl zerbrochener Fensterscheiben schon von außen ankündigte. Der Hausflur, mit Steinen gepflastert, befand sich jedoch in einem höchst gefährlichen Zustande; da man unterlassen hatte, die ausgefallenen Fließe durch neue zu ersetzen, so waren allerlei Löcher und Abgründe gebildet, welche bei dem mangelhaften schwankenden Lichte einer kleinen Oellampe in der Dunkelheit schon manchen arglosen Fuß zum Fallen gebracht.

In der ersten Etage lagen die Staats- und Empfangszimmer des Barons und seiner Familie, die aus seiner Tochter und einer bejahrten Schwester bestand, welche seit dem Tode seiner Frau die Oberaufsicht führte. Tante Kascha, die polnische Abkürzung für Katharina, war eine resolute Dame mit fast männlichen Zügen, zu denen noch ein schwarzer Schnurrbart kam, um den sie ein [36] Fähnrich sicher beneiden durfte. Sie hatte mit ihrem Bruder die größte Ähnlichkeit. Dasselbe apoplektische, roth gedunsene Gesicht, dasselbe Doppelkinn, dieselbe starkknochige Figur. Sie brauchte nur ihr schreiend bunt carrirtes Kleid mit seinem grünen, mit Schnüren besetzten Rocke zu vertauschen, um ihm vollends zu gleichen. Im Hause trug sie heruntergetretene Pantoffeln von einem merkwürdigen Umfange; wenn sie bei schlechtem Wetter über den Hof ging, pflegte sie die Wasserstiefel des Barons anzuziehen, die ihr bis über die Schenkel reichten. Knechte und Mägde zitterten vor ihrer barschen Stimme und noch mehr vor ihrer gewichtigen Hand.

Neben dieser männlich starken Tante bildete die weiblich zarte Nichte den größten Gegensatz, welchen man sich denken kann. Veronika trug die sanften Züge ihrer verstorbenen Mutter, einer trefflichen Frau, die mit hingebender Geduld die Rohheit des Barons erduldete. Die Tochter hatte ihr blaues, frommes Auge, ihre milden Züge und ein Herz voll aufopfernder Liebe geerbt. Der Baron, der sich einen Sohn gewünscht, konnte es daher seiner Gattin nie verzeihen, daß sie seine Hoffnungen getäuscht. Jahre vergingen, ehe er sich mit der Geburt der Tochter ausgesöhnt hatte. Sie war erst seit einigen Monaten in das elterliche Haus zurückgekehrt aus dem Kloster der Ursulinerinnen in Breslau, denen sie zur Erziehung übergeben war. Die frommen Schwestern, welche sich mit dem Unterricht des weiblichen Geschlechts beschäftigen, hatten nur die angeborenen Tugenden des Mädchens entwickelt, und ihrem Geiste eine zwar einseitige, aber durchaus weibliche Richtung gegeben. Herzensgüte und Sanftmuth waren die hervorstechenden Eigenschaften ihres Wesens, das sich in ihren freundlichen Mienen und Blicken kund gab.

Auch an diesem Abend leistete wie gewöhnlich der Pfarrer, ein wohlbeleibter Herr mit salbungsreichen Gebehrden, und der Justitiar, ein kleiner, pfiffig darein blickender Mann, dem Baron bei Tische Gesellschaft. Auf der reich besetzten Tafel standen mehrere Flaschen mit schwerem, feurigen Ungarwein, dem, nach den gerötheten Gesichtern zu urtheilen, fleißig zugesprochen wurde. Das Gespräch drehete sich um die Aufhebung der Erbunterthänigkeit, Trotzdem der Baron den königlichen Erlaß bereits in dem Amtsblatte, der einzigen von ihm gelesenen Druckschrift, gesehen hatte, konnte er sich doch nicht entschließen, die Möglichkeit einer solchen Maßregel zu glauben. So sehr war er in seinen Vorurtheilen befangen, daß er die Nachricht für eine unverschämte Lüge hielt, und den schüchternen Einwand des Justitiars nicht beachtete.

„Wird sich viel gedruckt,“ sagte er in seinem gebrochenen Deutsch, „was nicht wahr ist. Kann Regierung, kann König nehmen, was mein ist? Bauer ist mein Eigenthum, Hab ich von meinem Vater, und kann machen damit, was ich will.“

„Aber die Cabinetsordre mit der königlichen Unterschrift –“ warf der Justitiar dazwischen ein; hielt jedoch wieder inne, als der Baron mit der geballten Faust auf den Tisch schlug, daß die Gläser klirrten und der Wein überfloß.

„Hol der Teufel Cabinetsordre. Ganze Geschichte ist nur von dem verfluchten Schreibervolk gemacht. Die wollen sehen, was wir Edelleute uns gefallen lassen. Aber haben Rechnung ohne Wirth gemacht. Ist nicht wahr, lieber Pfarrer?“

Dieser nickte beistimmend, indem er behaglich aus seinem Glase den Wein schlürfte.

„Die Bauern,“ fügte er nachdenklich hinzu, „werden nun leider durch derartige verfrühte Mittheilungen schwierig gemacht. Der Respect vor der von Gott eingesetzten Obrigkeit geht verloren.“

„Richtig!“ schrie der Baron. „Mein Verwalter hat heute Geschichte erlebt, wie noch nicht vorgekommen. Hat ein gewisser Pawel ihn mit Hammer todt schlagen wollen. Justitiarius! Der Kerl muß exemplarisch gestraft werden.“

„Versteht sich,“ pflichtete dieser bei. „Die ganze Strenge des Gesetzes soll in Anwendung kommen. Verlassen Sie sich auf mich, Herr Baron!“

In diesem Augenblick erschien Veronika in dem Zimmer.

„Was gibt’s?“ fragte der Baron seine Tochter.

„Draußen,“ antwortete sie verlegen erröthend, „steht eine arme Frau, die Dich sprechen will.“

„Wer ist sie und was will sie?“

„Unsere frühere Magd, die gute Jadwiga. Sie kommt wegen ihres gefangenen Bruders.“

„Was untersteht sich die Hexe? Sie soll mich ungeschoren lassen! Warum hast Du sie vorgelassen?“ brummte der Baron.

Veronika hob ihre frommen Augen bittend zu dem Vater empor, der trotz seiner Rohheit ihrem sanften Flehen nicht zu widerstehen vermochte.

„So laß sie in drei Teufelsnamen eintreten!“ rief er ärgerlich.

An allen Gliedern zitternd nahete die Bäuerin, sich in der Thüre angstvoll haltend.

„Tritt näher!“ herrschte der Baron.

Sie gehorchte und küßte, ehe sie ihr Anliegen vorbrachte, den anwesenden Herren nach der Reihe die Hände; die größte Ehrfurcht jedoch erwies sie dem Pfarrer, in dem sie ihren geistlichen Seelsorger, den Stellvertreter Gottes auf Erden sah.

„Rede getrost, meine Tochter!“ sagte dieser in salbungsvollem Tone.

Seine Worte gaben ihr den nöthigen Muth, um den Vorfall treu und wahr zu berichten. Ihre Erzählung wurde häufig von heißen Thränen und lautem Schluchzen unterbrochen. Voll Theilnahme hörte Veronika zu, während der Baron seine Ungeduld und Entrüstung deutlich dadurch zu erkennen gab, daß er bald mit dem einen, bald mit dem andern Fuß auf den Boden stampfte.

„Dein Bruder ist Bösewicht, der eigentlich hängen muß,“ polterte er. „Nicht wahr, lieber Justitiar?“

„Allerdings!“ erwiderte dieser beistimmend. „Das Gesetz für einen derartigen Fall ist noch immer nicht streng genug.“

„Und die heilige Schrift,“ setzte der Pfarrrer hinzu, „sagt: du sollst unterthan sein deiner Obrigkeit.“

Die arme Jadwiga ließ sich indeß nicht abschrecken, und bat immer von Neuem um Gnade für den Schuldigen.

„Ich kann Dir nicht helfen,“ sagte der Baron, indem er ihr den Rücken zukehrte.

„O mein Gott!“ seufzte sie. „Er hat mich für todt gehalten, und darum übermannte ihn der Zorn. Verzeihen Sie ihm nur dieses einzige Mal noch, und ich will, so lang ich lebe, für Sie beten.“

„Zum Teufel, halte mich nicht länger auf, sonst laß ich Dich von meinen Leuten hinauswerfen. Ich habe weder Zeit noch Lust, Dein Geheule länger anzuhören.“

Erst von dieser Drohung eingeschüchtert, schwankte das unglückliche Weib zur Thüre hinaus, worauf der Baron die Karten bringen ließ, um seine gewöhnliche Solopartie mit den Herren zu spielen.

„Man muß ein Exempel statuiren,“ bemerkte er gleichsam zu seiner eigenen Beschwichtigung. „Jadwiga thut mir leid, aber der Bursche verdient seine Strafe, damit anderes Volk nicht Respect verliert.“

Draußen in der Halle brach die Elende unter der Last ihres Kummers zusammen. Die Füße wollten sie nicht mehr tragen; sie mußte sich an die Wand stützen. So wurde sie von Veronika gefunden, welche ihr nachgeeilt war, um die Härte ihres Vaters durch ein freundliches Wort wieder gut zu machen.

„Da, nimm!“ sagte das gute Mädchen, indem sie ihr verstohlen ein Geldstück in die Hand drückte.

„Gott lohne es, mein gnädiges Fräulein! Ich wollte nicht Geld, sondern die Loslassung meines Bruders.“

„Behalte nur die Kleinigkeit, und kaufe für Deinen kranken Mann eine Stärkung. Ich selber will mich für Pawel verwenden, wenn der Vater allein ist.“

„Sie kennen ihn ja, Paninka![1] Er ist ein guter Junge, der keinem Kinde etwas zu Leide thut; aber als er mich blutend liegen sah, da wußte er nicht, was er machte.“

„Sei ruhig! Es soll ihm nichts geschehen. Ich stehe Dir dafür.“

„Tausend Segen über Ihr gutes Herz.“

[45] Erleichtert trat Jadwiga ihren Rückweg an, während das Fräulein zu den Herren zurückkehrte, mit dem festen Entschlusse, den Baron um die Begnadigung des Gefangenen zu bitten. Pawel war ihr nicht unbekannt; sie hatte ihn als Knaben öfters gesehen, wenn er seine Schwester, die damals noch als Magd auf dem Schlosse diente, besuchte. Er war immer so freundlich und aufmerksam gegen sie gewesen. Für sie war er einmal auf den alten Birnbaum geklettert, um die von ihr gewünschten Früchte herabzuholen. Ein Ast brach und er fiel herab, wobei er sich den Arm verrenkte. Damals verbiß er muthig seine Schmerzen, als er sie weinen sah. Seit jener Zeit bestand eine gewisse Freundschaft zwischen dem armen Bauernburschen und der Tochter des Barons. Ihre lange Abwesenheit und der Unterschied der Lebensstellung hatten allerdings jene Jugenderinnerung fast verwischt; jetzt aber trat das Bild des treuen Pawel wieder lebendig vor ihre Seele. Sie wartete, bis die Partie zu Ende war, und die Herren sich empfohlen hatten. Als der Baron sich ebenfalls anschickte, zu Bette zu gehen, brachte sie ihr Anliegen in ihrer herzgewinnenden Weise vor. Sie übte eine gewisse Herrschaft über den rohen Vater aus und verstand es, seine schwachen, oder vielmehr guten Seiten mit weiblicher Feinheit zu benutzen.

Indem sie ihm den Schlafrock und die Pantoffeln holte, wie er es liebte, bat sie zugleich für den Delinquenten. Der milde Schein der Nachtlampe beleuchtete ihr frommes Gesicht, sie glich dem Engel der Gnade, der nicht will, daß der Sünder zu Grunde geht. Ein eigener Zauber umschwebte sie, so daß der rauhe Mann unwillkürlich weicher gestimmt wurde. Er mochte wohl in diesem Augenblick an ihre verstorbene Mutter denken. Er war von Herzen nicht böse, nur voll Vorurtheile. Seine Härte schmolz vor ihrer sanften Ueberredungskunst, und schon glaubte sie gewonnen zu haben, als Tante Kascha alle ihre Bemühungen vereitelte. Die alte Jungfer war so eifersüchtig auf ihren Einfluß, daß sie bei jeder Gelegenheit ihrer Nichte entgegentrat, um sich so die Herrschaft über den Baron zu sichern. Aus diesem Grunde bekämpfte sie auch diesmal das aufsteigende Mitleid ihres Bruders, indem sie dasselbe zu einer sträflichen Nachgiebigkeit und schädlichen Schwäche stempelte. Sie gebrauchte dabei den Kunstgriff, den Baron auf die Folgen einer solchen Begnadigung aufmerksam zu machen und auf den aufsätzigen Geist seiner Bauern, dessen Vorhandensein sich nicht leugnen ließ, entschieden hinzuweisen. Diese Andeutungen verfehlten ihre Wirkung nicht, und Veronika sah sich gezwungen, ihren Schützling aufzugeben.

Der Baron fluchte von Neuem über die königliche Cabinetsordre, über das Beamtenpack, welches nothwendiger Weise noch eine Revolution herbeiführen müsse. Darauf ergriff er den Nachtleuchter, um sich in sein Schlafzimmer zu verfügen. Tante Kascha folgte mit Veronika, welche trotz aller Anstrengung den armen Pawel nicht retten konnte.




III.

Während die Schloßbewohner sich dem Schlafe überließen, herrschte in der Schenke des Dorfes ein sonst um diese Zeit ungewöhnliches Leben. Das große Zimmer faßte kaum die Zahl der Gäste. Hinter seinem Verschlage von Holz stand der jüdische Pachter mit seiner Frau, unablässig beschäftigt, die schnell geleerten Gläser wieder voll zu füllen. An einer langen Tafel von rohem Holz saßen auf langen Bänken Bauern und Häusler. Sie befanden sich augenscheinlich in einem Zustande hoher Aufregung, welche nicht allein dem genossenen Getränke zuzuschreiben war. Die dünnen Talglichter, welche auf dem Tische standen, reichten gerade hin, um die Dunkelheit so weit zu erhellen, daß man ihre wilden, gerötheten Gesichter erkennen konnte. Von Zeit zu Zeit erhoben sie ein lautes, drohendes Geschrei, dann wurde es wieder plötzlich still, und sie steckten flüsternd die Köpfe zusammen, als fürchteten sie, belauscht zu werden.

Der jüdische Wirth, hier Kretschmer genannt, sah dann seine Frau mit bedeutenden Blicken an. Wenn er sich aber beobachtet glaubte, so that er, als ob er nichts hörte, und sein schlaues Gesicht nahm einen möglichst gleichgültigen Ausdruck an.

Unter den Bauern ragte eine eigenthümliche Gestalt hervor. Es war dies ein Mann, der durchaus nicht in diese Gesellschaft zu gehören schien. Weder sein Benehmen noch seine Kleidung paßte dazu. Er trug einen städtischen Rock, der allerdings schon abgeschabt und an den Näthen abgetragen war. Sein Hals steckte in einer steifen, schwarzen Binde, aus der ein schmutziger Hemdkragen heraushing. Ein alter Filz voll Beulen und Quetschungen bedeckte das struppige, röthliche Haupt. Zerrissene Stiefel, aus denen die nackten Zehen hervorlauschten, vollendeten seine noch immer in solcher Umgebung elegante Toilette. In seinem ganzen Wesen gab sich jene eigenthümliche Verkommenheit, gepaart mit List und Schlauheit, kund, welche den Winkeladvocaten und Rabulisten bezeichnet. Unter der niedrigen Stirn lagen die kleinen, [46] fortwährend zwinkernden Augen, die er noch außerdem von Zeit zu Zeit ganz seltsam einzukneifen pflegte. Das Gesicht war gedunsen und hatte die wachsbleiche Färbung, die man bei Gewohnheitstrinkern zu finden pflegt. Ein hellblonder, fast rother Schnurrbart saß unter der gebogenen Nase, und verlieh ihm zugleich ein kühnes und doch wieder komisches Aussehen. Um die feinen Lippen spielte ein unheimliches Zucken, und seine Hände befanden sich in einer nervös zitternden Bewegung, wenn er sie aus seinen Hosentaschen hervorzog, wo er sie gewöhnlich zu verbergen pflegte. Der Stempel der Liederlichkeit und des Cynismus war ihm deutlich aufgeprägt; in seinen verwitterten Zügen konnte der aufmerksame Beobachter einen Lebenslauf voll Veruntreuung, Betrügereien und gemeiner Ausschweifung entdecken. Von den Bauern wurde er Herr Actuar genannt; er war ein entlassener Schreiber, der längere Zeit in den Diensten des Barons gestanden hatte, und von diesem wegen eines gemeinen Betrugs schimpflich fortgejagt worden war. Seine Beschäftigung bestand hauptsächlich darin, die ihm bekannten Bauern gegen ihre Gutsherrschaft aufzuhetzen, Processe zu verursachen, und eine unerlaubte juristische Praxis auf dem Lande auszuüben. So lebte er von den Sporteln und den Gaben seiner einfältigen Clienten, bei denen er in dem Rufe eines überaus gescheuten und listigen Advocaten stand.

In dieser Versammlung führte er das große Wort, und alle Anwesenden hörten ihn mit ungeheuchelter Bewunderung. Die Bauern beugten sich sichtbar vor der höheren Intelligenz.

„Nicht einen Tag länger,“ schrie er jetzt mit heiserer Stimme, „braucht Ihr zu arbeiten, nicht einen Pfennig mehr an den Herrn zu zahlen. So ist der Wille des Königs, den ich Euch gedruckt zeigen kann.“

Bei diesen Worten zog er ein schmutziges Papier aus der Tasche, welches er sorgfältig ausbreitete und mit dem fettig glänzenden Aermel seines Rockes glatt strich. Es war die bekannte Cabinetsordre, die er aus dem Deutschen in’s Polnische übersetzte, wobei er sich nach Gutdünken allerlei Zusätze und Auslassungen erlaubte, wie sie gerade für seine Pläne paßten. Seine beschränkten Zuhörer, welche eine unbeschreibliche Ehrfurcht für alles Gedruckte besaßen, verstanden von seinem Vortrage trotz ihrer Beschränktheit so viel, daß sie keinerlei Dienste und Abgaben mehr an den Gutsherrn zu leisten brauchten.

„So ist es,“ fuhr der Redner fort. „Die Erbunterthänigkeit hat aufgehört, die Robot ist abgeschafft. Esel seid Ihr, wenn Ihr noch für den Edelmann eine Hand rührt, eine Arbeit thut. Niemand hat Euch mehr was zu befehlen. Da steht’s in der Cabinetsordre, welche der gnädige König erlassen hat. Das wissen auch Eure Gutsherrn, aber sie verschweigen es Euch, damit Ihr noch länger ihre Knechte und Sclaven bleibt. Aber der Himmel hat Euch einen Freund geschickt, der Euch die Augen öffnet, der für Euch sorgt und denkt, der alle Kniffe und Pfiffe kennt, der Euch zu Eurem Recht verhelfen wird, wie er Euch schon oft geholfen hat, und dieser Freund bin ich.“

Hier unterbrach ein Beifallssturm den Actuar; er hatte den Gipfel der Popularität erreicht. Von allen Seiten drängten sich die Bauern an ihn heran; sie schüttelten ihm die Hände, umarmten ihn, und tranken auf seine Gesundheit, worauf er ihnen aus seinem vollen Glase Bescheid that, das er mit einem Zuge leerte.

„Aber was sollen wir thun?“ fragte der Veit oder Vorsteher des Dorfes, nachdem sich der enthusiastische Lärm wieder einigermaßen gelegt hatte.

„Das ist leichter gefragt als gesagt,“ erwiderte der Actuar, anscheinend in Nachdenken versunken. „Ihr habt die Cabinetsordre, den königlichen Willen doch verstanden? Sie besagt, daß der Baron Euch freigeben muß, ergo seid Ihr frei, wenn auch nur de jure und noch nicht de facto.“

Der Veit nickte, als ob er diese logische Schlußfolgerung vollkommen verstanden hätte, obgleich er auch nicht ein Sterbenswort davon begriff. Die lateinischen Redensarten, welche der Redner absichtlich hier und da einfließen ließ, imponirten den Bauern ganz besonders.

„Ihr müßt also,“ fuhr der Actuar fort, „Eure Freiheit von dem Gutsherrn als ein vorenthaltenes Eigenthum fordern. Will er sie nicht gutwillig herausgeben, so steht Euch das Recht zu, selbst Gewalt anzuwenden, was ja auch der Executor thut, wenn Ihr die Abgaben nicht bezahlen wollt.“

Der letzte Satz leuchtete den Zuhörern vollkommen ein, obgleich sie noch immer nicht wußten, was sie eigentlich anfangen sollten, um die gepriesene Freiheit, welche sie für eine Art lebenden Wesens hielten, sich zu verschaffen. Der Redner klärte sie indeß darüber auf.

„Am besten thut Ihr, wenn Ihr vor das Schloß zieht, und Euch von dem Herrn eine Urkunde ausstellen laßt, worin er freiwillig auf alle seine bisherigen Rechte verzichtet, und Euch von allen Frohnden und Lasten, die Ihr ihm zu leisten habt, entbindet. Das Actenstück muß er unterschreiben, und mit einem rothen, einem gelben und einem blauen Siegel besiegeln. Dann hat es seine Gültigkeit; dann seid Ihr für immer frei.“

Der Rath gefiel den Bauern, und ganz besonders schienen ihnen die drei verschiedenen Siegel von der größten Wichtigkeit. Die Mehrzahl der Versammlung wollte auf der Stelle aufbrechen, um den Gutsherrn noch diese Nacht zur Ausstellung der wichtigen Urkunde zu zwingen. Einmal aus seiner Indolenz aufgeschüttelt, ist das oberschlesische Landvolk zu raschen und gewaltsamen Entschlüssen sehr geneigt, zumal so lange die aufregende Wirkung des Branntweins noch vorhält. Es gleicht in gewisser Beziehung der Atmosphäre jener Tropengegenden, wo auf die tiefste Ruhe ein plötzlicher Sturm mit ungeheurer Gewalt erfolgt.

Schreiend und tobend verlangte jetzt die Menge, unter Anführung des Actuars vor das Schloß zu ziehen. Dieser war jedoch mit der ihm zugedachten Ehre keineswegs einverstanden; aus naheliegenden Gründen hielt er sich lieber bescheiden im Hintergrunde und überließ es Andern, die gebratenen Kastanien für ihn aus dem Feuer zu holen. Er wollte zugleich seine Rache an dem Baron üben, und dabei im Trüben fischen, aber ohne Gefahr für seine persönliche Sicherheit. Wie Viele seines Gleichen, war er von Haß gegen alles Bestehende erfüllt, und seine verlorene Existenz machte ihm jede Veränderung wünschenswerth, bei der er nur gewinnen, und nichts verlieren konnte. Aus diesem Grunde schürte er die vorhandene Gluth mit feiger Hinterlist, da ein offenes Hervortreten und kühnes Handeln nicht in seinem heimtückischen Charakter lag.

Seiner Ueberredung gelang es auch, die aufrührerischen Bauern wieder einigermaßen zu beruhigen, indem er ihnen die Nothwendigkeit vorstellte, im Einverständnisse mit den benachbarten Dorfschaften und der übrigen ländlichen Bevölkerung zu handeln, welche von dem gleichen Geiste der Empörung beseelt, und von ihm und seinen Gesinnungsgenossen hinlänglich bearbeitet worden war.

Es war auf nichts Geringeres, als auf einen allgemeinen Aufstand des oberschlesischen Landvolks abgesehen. Die Stimmung desselben war ihm bekannt, und aus den entferntesten Gegenden kamen Anzeichen des nahen Sturmes. Nur von einer gleichzeitigen und übereinstimmenden Erhebung ließ sich ein Erfolg erwarten. Es fehlte nur noch der Führer für eine solche Bauernrevolution, und auch für diesen hoffte der schlaue Actuar Rath zu finden.

„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben,“ sagte er beschwichtigend. „Man muß die rechte Zeit abwarten. Wenn alle Bauern wie ein Mann aufstehen, dann hat die letzte Stunde für die Gutsherrn geschlagen. Zwei haben mehr Gewalt als Einer, Tausend mehr wie Hundert, und wenn gar Alle kommen, dann können sie Euch die Freiheit nicht mehr vorenthalten. Im Ratiborer und Rybniker Kreise denken die Bauern so wie Ihr. Wenn es losgehen soll, muß es zu gleicher Zeit, an allen Ecken und Enden losgehen. Bis dahin verhaltet Euch ruhig, und wartet auf den Boten, den ich Euch schicken werde.“

Damit erhob sich der Redner und leerte sein Glas, indem er auch die Uebrigen zum Aufbruch mahnte, da es bereits spät war. Die Bauern zerstreuten sich, und bald blieb nur der jüdische Wirth mit seiner Frau zurück.

„Morgen,“ sagte dieser, „gehe ich auf’s Schloß, und werde da dem gnädigen Herrn verzählen, was sich thut.“

„Was geht’s Dich an?“ fragte die furchtsame Gattin. „Wenn die Bauern hören, daß Du geredt hast, brechen sie Dir Hals, Leib und Leben.“

Diese Gründe schienen dem Manne einzuleuchten; er schwankte wenigstens zwischen der natürlichen Furcht und seiner Anhänglichkeit an das Haus des Barons. Vorläufig beschloß er, sich die Sache zu beschlafen. – Vorsichtig riegelte er die Hausthür zu und löschte die Lichter aus, worauf er sich zu Bette begab.

Bald war es still im ganzen Dorfe, nur hier und da bellte [47] ein wachsamer Hund und wenn er wieder verstummte, regte sich kein Laut in der Nähe und Ferne. Die niedrigen Hütten lagen in der Dunkelheit schweigend da, wie ausgestorben. Der Himmel hatte sich mit schweren Regenwolken umzogen und ließ keinen Stern durchschimmern. Es war eine finstere, schwüle Nacht, recht geeignet für ein Verbrechen oder sonst eine unheimliche That. Mit leisen, kaum hörbaren Schritten eilte der Actuar, wie ein flüchtiger Schatten an den Häusern vorüberschlüpfend, durch das Dorf. Bald hatte er den Ausgang erreicht und jetzt schlug er einen Seitenpfad ein. Der Weg führte ihn an dem Kirchhofe vorüber. Trotz seines Unglaubens konnte er sich eines leisen Schauers nicht erwehren. Er beschleunigte seine Schritte, um aus der Nähe der Todten zu kommen. Es war da das Grab eines jungen Mädchens, das sich vor vielen Jahren um seinetwillen in den Mühlbach gestürzt hatte. Er konnte die Erinnerung an die arme Madlena nicht los werden. Dort an dem schwarzen Kreuze glaubte er ihre bleiche Gestalt zu erblicken. Eilig flog er vorüber und über die schmale Brücke, unter der das Wasser floß, worin ihre Leiche gefunden wurde. Auch da folgte ihm ihr Schatten nach. Eine dunkle Gestalt bewegte sich näher und näher; dem Actuar stand das Haar unwillkürlich zu Berge; er wurde von einem plötzlichen Schwindel gefaßt, der zum Theil wohl von den reichlich genossenen Getränken herrühren mochte. Seine Füße wankten, nur noch ein Schritt und er stürzte von dem Hohlsteg in die Fluth, welche an dieser Stelle mehrere Fuß tief war, wenn ihn nicht eine starke Hand zurückgehalten hätte.

„Erbarmen!“ stöhnte der arme Sünder, welcher seine Besinnung verloren hatte.

„Wollt Ihr denn mit aller Gewalt Euch in das Wasser stürzen?“ fragte ihn eine Stimme, die ihm nicht fremd war.

„Wie, Du bist es, Pawel?“ rief er, durch den Schreck nüchtern geworden.

„Freilich! Ich bin es, Herr Actuar,“ antwortete der Schmiedegeselle, der trotz der Dunkelheit den Actuar sogleich erkannt hatte.

„Ich hörte ja, daß Du gefangen seist,“ bemerkte dieser verwundert.

„Ich habe mich losgemacht und bin glücklich aus dem verwünschten Kerker entkommen. Wie, erzähle ich Euch ein anderes Mal, da ich jetzt keine Zeit habe.“

„Das glaub’ ich gern; aber was willst Du denn nun beginnen?“

„Ich weiß es nicht. Am besten wird es wohl sein, wenn ich über die Grenze nach Polen fliehe. Dort sucht mich kein Mensch.“

„Das geht nicht so leicht,“ sagte der Actuar, den ein plötzlicher Gedanke durchzuckte. „Ich will Dir einen bessern Vorschlag machen, wie Du hierbleiben und Dich an Deinen Feinden rächen kannst. Das ist doch Deine Absicht?“

„Ihr könnt noch fragen?“ antwortete Pawel, indem er bei der Erinnerung an die erlittene Beschimpfung mit den Zähnen knirschte.

„So ist es recht!“ lachte der Actuar, der seine frühere Gespensterfurcht wieder gänzlich überwunden hatte und in Pawel ein willkommenes Werkzeug für seine Pläne sah. „So ist es Recht; es gibt kein süßeres Gefühl, als die Rache, und ich will Dir dazu behülflich sein. Ich habe ohnehin eine Rechnung mit dem Herrn Baron und seinem Verwalter abzumachen, der Dir so übel mitgespielt hat. Ich will Dir die Mittel und Wege schon angeben, wenn Du mit mir kommst.“

„Wohin?“

„In die Waldschenke, wo ich einstweilen meine Wohnung aufgeschlagen habe; dort bist Du sicher, wie in Abrahams Schooß.“

Einen Augenblick schwankte Pawel, ob er seinem Begleiter nach der verrufenen Spelunke folgen sollte, wo sich allerlei Gesindel, Schmuggler, Wilddiebe und ähnliche Gesellen, welche mit der Polizei auf gespanntem Fuße leben, aufzuhalten pflegten. Aber der Durst nach Rache und die wahrhaft dämonische Beredsamkeit des Actuars besiegten seine Bedenklichkeiten. Durch die erduldeten Mißhandlungen war der Schmiedegesell so verwildert und empört, daß er dem Versucher nicht widerstehen konnte, der ihn mit sich fortriß.




IV.

In dieser Gegend Oberschlesiens gab es damals und gibt es vielleicht heute noch einzelne Waldstrecken, so undurchdringlich und dicht, wie die Urwälder Amerika’s. Tausende von Stämmen stürzen dort und verfaulen ungenützt und auf dem von Baumleichen gedüngten Boden steigt ein neues Geschlecht von Kiefern und Fichten, von Birken und Rüstern empor in wilder Ueppigkeit. Der Boden ist glatt von den abgefallenen Nadeln und schlüpfrig von dem Moder der verwesenden Pflanzenwelt, für Wagen und Pferde vollkommen unzugänglich, da der Regen keinen Abfluß hat und das zähe Erdreich wegen mangelnden Zutritts der Sonne und des Windes nie vollkommen austrocknet. Selbst am Tage herrscht daselbst eine tiefe Dämmerung, ein unheimliches Schweigen. Da gibt es keine sichern Wege; nur selten betretene Fußpfade dienen dem Verbrecher und Schmuggler auf seinen verborgenen Wanderungen. Selbst der kühnste Jäger wagt sich nicht in dieses Dickicht, wo dorniges Gestrüpp und junger Nachwuchs ihm den Zugang abwehren und die Kugel des Wildschützen ihn aus sicherem Verstecke treffen kann. Manche Leiche mag dort begraben liegen unter weichem Mose und dem dürren Blätterschutt, der an vielen Stellen fußhoch aufgethürmt liegt.

Meilenlang dehnt sich oft ein solcher Wald und bildet häufig die Grenze zwischen dem preußischen und polnischen Gebiete, ein willkommener Schlupfwinkel für die beiderseitigen Ueberläufer, welche hier eine sichere Zuflucht finden. So hat auch diese Wildniß ihre Bewohner und ein gewisser Verkehr herrscht auch in der Einsamkeit; denn wohin wird nicht der Fuß der Menschen von Verzweiflung oder Furcht vor der Strafe getrieben?

In der Nähe eines derartigen Waldes lag die Schenke, wohin der Actuar seinen Schützling brachte. Es war fast Mitternacht vorüber, als sie daselbst anlangten; ein schwacher Lichtschimmer verkündete, daß der Wirth und vielleicht noch einige Gäste wachten. Lautes Hundegebell ertönte und in der Dunkelheit der Nacht sprang ein wildes Thier von der Schwelle knurrend empor und wehrte zähnefletschend den Eingang. Der Actuar schien hier vollkommen Bescheid zu wissen; er stieß ein eigenthümliches Geschrei aus, das dem Geschrei eines Raubvogels glich. Alsdann wurde der Riegel an der Hausthür zurückgeschoben und dieselbe vorsichtig nur halb geöffnet.

„Wer ist da?“ fragte eine hohle Stimme.

„Ich bin es, der Actuar!“

„Aber Ihr kommt nicht allein.“

„Es ist ein Freund; mach nur schnell auf, Tomek, denn das Gewitter wird bald losbrechen. Der Wind heult schon in den Bäumen.“

In der That hörte man, das Brausen des Sturmes und das ferne Rollen des aufziehenden Gewitters. Der Wirth öffnete vollends die Thür und ließ die späten Wanderer herein. Pawel trat in ein wüstes Zimmer, welches spärlich von einer Oellampe erleuchtet wurde. Auf dem bloßen Boden, der nicht einmal gedielt war, und in der Nähe des Ofens lagen einige wilde Gestalten in ihren zerlumpten Kleidern. Sie fuhren beim Eintritt der Fremden mit ängstlichen Mienen empor. Sobald sie sich jedoch überzeugt hatten, daß sie nichts zu fürchten brauchten, drehten sie sich brummend wieder auf die Seite und schliefen schnarchend ein. In der Mitte stand ein elender Tisch, um den mehrere Männer auf Holzblöcken und leeren Fässern in Ermangelung von Stühlen und Bänken saßen. Sie schienen den Actuar erwartet zu haben. Pawel erkannte einige Bauern aus der Umgegend, berüchtigte Subjecte, aber auch darunter Andere von untadeligem Rufe, die sich in einer solchen Gesellschaft nicht ganz wohl zu fühlen schienen.

„Zum Teufel!“ rief ein breitschulteriger Geselle mit verwogenem Gesicht, „wo seid Ihr denn so lange geblieben? Wir haben schon geglaubt, daß Euch ein Unglück begegnet sei.“

„Das nicht, aber man kommt nicht so bald wieder los, wenn man einmal unten im Dorfe ist.“

„Nun, wie steht’s und wen habt Ihr uns da mitgebracht?“

„Einen braven Burschen, den ich kenne und für den ich mich verbürge. Er wird seine Schuldigkeit thun.“

Die Anwesenden reichten dem ihnen so empfohlenen Pawel ihre Hände und tranken ihm aus der auf dem Tische stehenden Flasche zu.

„Ihr habt ihn doch in Alles eingeweiht?“ fragte der vorherige [48] Redner, welcher der Buschmüller hieß und ein bekannter Wilddieb war.

„Er weiß um Alles und hat mir Verschwiegenheit gelobt. Wir können offen vor ihm reden.“

Die Unterhaltung drehte sich jetzt um die bevorstehende Erhebung des oberschlesischen Landvolkes. Die hier anwesenden Männer, deren Zahl eine ziemlich ansehnliche war, betrachteten sich gleichsam als die Vertreter der verschiedenen Dörfer. Sie hatten sich in der einsamen Waldschenke zusammengefunden, um die näheren Umstände unbelauscht und ohne Verdacht zu erregen, mit einander zu verabreden. Pawel erfuhr jetzt zu seinem Erstaunen die Existenz einer weitverzweigten Verschwörung, welche sich seit Wochen und Monaten über den größten Theil des flachen Landes erstreckte und einen allgemeinen Aufstand der Bauern gegen ihre Gutsherrn zum Zwecke hatte. Man war nur noch über die Zeit nicht einig und diese sollte festgestellt werden, auch fehlte es noch hier und da an zuverlässigen Führern. Eine solche Stellung wurde ihm angeboten und er dazu bestimmt, in seinem Dorfe die Leitung der bereits durch den Actuar aufgereizten und hinlänglich bearbeiteten Bewohner zu übernehmen.

„Bald wird es Dir nicht an Gelegenheit zur Rache fehlen,“ sagte dieser, seinen Schützling anfeuernd.

Pawel erklärte sich sofort bereit, die ihm zugedachte Rolle zu übernehmen. Sein Thatendrang fand endlich eine Gelegenheit, sich auszuzeichnen; und dieses Gefühl beherrschte ihn noch weit mehr, als sein Durst nach Rache. Oft hatte er in seinen einsamen Stunden am Schmiedeheerd über die Ungerechtigkeit des Schicksals geseufzt. In seiner Seele schlummerte eine dunkle Ahnung der angeborenen Menschenrechte, die er so frevelhaft an sich selbst und seiner Schwester verletzt sah. Zu der ihm angethanen persönlichen Beleidigung gesellte sich noch das Gefühl des allgemeinen Elends und der widerrechtlichen Knechtschaft, die seit Jahrhunderten schwer auf der ländlichen Bevölkerung lastete. Auch er hatte von der Cabinetsordre des Königs gehört, auch er theilte die verbreitete Meinung, daß die Edelleute sich gegen den ausdrücklichen Befehl des Herrschers auflehnten und die den Bauern verliehene Freiheit diesen vorenthalten wollten. Nicht gemeine und persönliche Motive, sondern weit mehr noch der Gedanke, dem Volke zu seinem Rechte zu verhelfen, machte Pawel geneigt, auf die Vorschläge seiner neuen Freunde einzugehen und zur Ausführung ihrer Pläne behülflich zu sein. – Einstweilen, bis zu dem festgesetzten Tage, hielt er sich in der abgelegenen Waldschenke auf den Rath des Actuars verborgen. Sobald seine Flucht bekannt wurde, ließ es der Verwalter nicht an Nachforschungen fehlen; dieselben blieben aber fruchtlos und Hartmuth mußte sich damit begnügen, seine Wuth an den unschuldigen Knechten auszulassen, denen er die Bewachung des Gefangenen anvertraut hatte. – Auch Jadwiga ließ er seinen Zorn empfinden, da er mit Bestimmtheit glaubte, daß sie um den Aufenthalt ihres Bruders wüßte. Er hütete sich jedoch vor jeder neuen Thätlichkeit, da er die Rache des Abwesenden fürchtete. Nach und nach, als die Verfolgung gegen ihn lässiger wurde, wagte sich Pawel aus seinem sichern Schlupfwinkel hervor. Zuerst benachrichtigte er seine Schwester von seinem Aufenthalte und sie flog sogleich herbei, beladen mit Lebensmitteln und Vorräthen, die sie sich selbst vom Munde abgespart hatte. Niemand gibt lieber und leichter, als der Arme, weil er weiß, wie weh der Hunger thut.

In der Nähe des Waldes lag eine Capelle, welche er ihr zum Ort des Stelldicheins bezeichnet hatte. Zu den Füßen der schmerzhaften Gottesmutter, von hundert Schwertern durchbohrt, saßen die Geschwister, und das zwar roh, aber nicht ohne Ausdruck gemalte Bild schaute auf die beiden Schmerzenskinder nieder. Jadwiga theilte dem Bruder die ihn betreffenden Ereignisse mit, ihre vergeblichen Bemühungen bei dem Baron, seine Freilassung zu bewirken, und das edle Benehmen Veronika’s bei dieser Gelegenheit.

„O! sie ist ein Engel, eine Heilige,“ sagte sie in schwärmerischer Begeisterung. „Sie ist seitdem noch mehrere Male bei mir gewesen und hat sich auch nach Dir erkundigt.“

„Sie war als Kind schon immer so gut und freundlich gegen mich,“ antwortete Pawel, in Gedanken versunken.

„Wenn Du sie gesehen hättest, wie sie für Dich bat, aber der Baron wollte sie nicht hören. Der ist härter noch wie Stein und ohne Erbarmen.“

„Er soll an mich denken. Die Zeit der Rache wird bald kommen.“

„Pawel!“ rief die Schwester erschrocken. „Ist es wahr, was die Leute im Dorfe sagen? Es geht etwas vor; die Männer wollen gegen den Baron Gewalt brauchen und Du sollst an ihrer Spitze stehen. Um Gotteswillen, mache Dich nicht noch unglücklicher, als Du ohnehin schon bist. Vor allen Dingen mußt Du mir versprechen, dem gnädigen Fräulein nichts zu Leide zu thun.“

„Wo denkst Du hin? Hat sie mir nicht helfen wollen, hat sie Dich nicht getröstet und Dir Geld für Deinen kranken Mann gegeben?“

„Schwöre mir bei der heiligen Jungfrau, die zu uns niedersieht, sie zu schützen.“

„Ich schwöre Dir. Was auch immer kommen mag, ihr soll kein Haar gekrümmt werden.“

Durch seine feierlichen Worte beruhigt, entfernte sich Jadwiga. Pawel blieb allein zurück, von den widersprechendsten Gefühlen bewegt. Bald dachte er an den Baron, dessen Härte er verwünschte, bald an das liebliche Bild Veronika’s, deren Andenken wieder in seiner Seele auflebte. Fast reute es ihn, sich so weit in das gewagte Unternehmen eingelassen zu haben, aber er konnte nicht mehr zurücktreten, da er sich durch einen Schwur gebunden hatte. Der Actuarius, welcher ihn zu suchen kam, beschwichtigte vollends jede Bedenklichkeit durch seine Ueberredungskraft.

„Heut’ in der Nacht geht der Tanz los,“ sagte dieser. „Wir machen den Anfang und zugleich stehen alle Dörfer in der ganzen Umgegend auf. Das soll ein Leben werden! Um Mitternacht brechen wir auf; die Bauern erwarten uns an der Ziegelscheune. Zuerst statten wir dem Verwalter einen Besuch im Vorübergehen ab und dann ziehen wir auf das Schloß, wo der Herr Baron uns kennen lernen soll. Freust Du Dich nicht, alter Bursche?“

„Gewiß!“ antwortete Pawel zerstreut.

„Also auf Wiedersehen um Mitternacht!“

[57] Als die Dorfuhr die zwölfte Stunde in der Nacht schlug, stieß Pawel zu den Bauern, welche ihn als ihren Führer begrüßten. Auch der Actuar hatte sich eingefunden, doch hielt er sich wohlweislich im Hintertreffen, um erst den Erfolg des Unternehmens abzuwarten. Leise und geräuschlos bewegte sich der Zug nach dem Vorwerk, um zuerst den allgemein verhaßten Verwalter zur Verantwortung zu ziehen. Das feste Thor wurde mit den mitgebrachten Aexten eingeschlagen. Bei dem Geräusch sprang Hartmuth unangekleidet aus dem Bette, von bangen Ahnungen erfaßt. Er wollte entfliehen, doch ehe er seinen Vorsatz ausführen konnte, wurde er ergriffen. Mit schlotternden Knieen fiel er zur Erde und streckte flehend seine Hände zu Pawel empor. Er bot sein Vermögen, das ganze Geld, welches er besaß, aber vergebens. Der Schmiedegesell kannte in diesem Augenblick nur das einzige Gefühl seiner Rache, welche beim Anblick seines Gegners mit neuer Gewalt auflebte. Doch wenn er selbst ihm hätte verzeihen und ihn schonen wollen, es stand nicht mehr in seiner Macht. Jeder der anwesenden Roboter hatte eine Beleidigung, einen Schimpf, an Hartmuth zu strafen. Die allgemeine Entrüstung machte sich in wildem Geschrei und drohenden Gebehrden Luft, denen die thätlichen Angriffe folgten. Bald sank der Verwalter unter den Schlägen und Stößen des rohen, empörten Haufens zusammen, als ein Opfer seiner unmenschlichen Strenge. Man ließ ihn für todt liegen. Der Actuar machte noch den Vorschlag, die Gebäude des Vorwerks in Brand zu stecken, und die Menge jauchzte ihm Beifall. Nur Pawel erklärte sich dagegen.

„Wir sind keine Mordbrenner,“ sagte er entschieden. „Das Feuer wird sich nicht auf das Vorwerk beschränken, sondern sich weiter verbreiten und unsere eigenen Wohnungen ergreifen.“

Dieser Grund leuchtete selbst den beschränkten Bauern ein und sie begnügten sich mit der Zerstörung der vorhandenen Vorräthe. Sie schütteten das Getreide und das Mehl auf die Erde, schnitten die Betten auf und ließen die Federn im Winde fliegen, auf diese Weise ihren Muthwillen kühlend und ihre Rache befriedigend, worauf sie den Weg nach dem Schlosse einschlugen, um ihr Werk zu beenden.




V.

Der Baron war nicht ungewarnt, denn der jüdische Wirth hatte, trotz aller Furcht vor den Bauern, ihm Alles mitgetheilt, was er wußte. Der Gutsherr besaß jedoch eine viel zu hohe Meinung von seiner Gewalt und eine viel zu geringe von dem Muthe seiner Unterthanen.

„Sie werden es nicht wagen,“ sagte er. „Die Hunde sind viel zu feig, und wenn sie kommen, so sollen sie mich gerüstet finden.“

Die einzige Vorsichtsmaßregel, die er traf, bestand darin, daß er seine sämmtlichen Gewehre lud und dem Hofwächter eine größere Wachsamkeit anbefahl. Als jedoch einige Nächte vergangen waren, ohne daß sich etwas Besonderes ereignete, spottete er über die Furchsamkeit des ängstlichen Juden. Der heranziehende Haufen drang daher ganz ungehindert vor das Schloß. Auch hier erwachte der Baron von den dröhnenden Hieben der Aexte, womit das feste Thor eingeschlagen wurde. Der Lärm weckte ihn, und da es ihm nicht an Muth fehlte, so sprang er aus dem Bette und griff nach seiner geladenen Büchse. Tante Kascha und Veronika waren ebenfalls aus dem Schlafe aufgestört und eilten erschrocken herbei. Er suchte sie zu beruhigen und befahl den herbeigestürzten Knechten, seinen Wagen anzuspannen, um die Frauen aus dem Bereiche der Gefahr zu bringen. Veronika erklärte jedoch mit Bestimmtheit, daß sie bei dem Vater bleiben wollte. Schüchtern und zaghaft im gewöhnlichen Leben, besaß sie jene Seelenstärke, welche oft die schwächsten Frauen im drohenden Augenblicke wider alle Erwartung zeigen.

„Ich bleibe bei Dir,“ sagte sie entschlossen, sich an den Vater schmiegend, während die Tante Kascha, trotz ihres männlichen Aussehens, zitterte und vor Schreck ihre Nachthaube verkehrt aufgesetzt hatte.

Schon stürmte der wilde Haufe die Treppe hinauf und drang mit Ungestüm in das Zimmer, ehe noch der Baron irgend eine Anstalt zur Gegenwehr treffen konnte.

„Was wollt Ihr?“ rief er ihnen entgegen.

„Unsere Freiheit, Aufhebung der Erbunterthänigkeit, keine Robot mehr, keine Abgaben!“ brüllte der Haufe verworren durcheinander.

„Den Ersten, der mir nahe kommt, schieße ich nieder,“ drohte der Baron, indem er die geladene Büchse anlegte.

Die Bauern wichen einen Augenblick zur Seite, aber im nächsten Moment hatte ihm Pawel das Gewehr entrissen. Der ihm zugedachte Schuß ging, ohne einen Menschen zu verletzen, in die Decke. Knirschend sah sich der Baron entwaffnet und von mehreren starken Armen festgehalten, so daß er sich nicht zu [58] rühren vermochte. Die Wuth der Bauern kannte keine Grenzen mehr und laut verlangten sie das Leben des Barons. Schon stürmten die Wildesten mit Aexten, Dreschflegeln und zu Piken umgewandelten Sensen auf ihn los. Laut aufschreiend warf sich Veronika über den Körper ihres Vaters, um diesen vor den zugedachten Todesstreichen zu schützen.

„Reißt sie fort!“ schrie die tobende Meute, indem sie Anstalt machte, ihre Drohung auszuführen.

Nur noch fester klammerte sich Veronika an den Baron; sie hatte ihn mit ihren Armen umschlungen. Ihre blauen Augen leuchteten von einem überirdischen Glanze und ihre schlanke, ätherische Gestalt gab ihr das Ansehen eines Engels, der vom Himmel den Bedrängten zu Hülfe eilt.

So erschien sie wenigstens Pawel, der wie geblendet von ihrer Erscheinung stand und ihren halb vorwurfsvollen, halb flehenden Blick nicht zu tragen vermochte. Wie aus einem Traume fuhr er empor, als der freche Actuar sich vordrängte und seine Hände um ihren zarten Leib schlang, um sie gewaltsam fortzuzerren.

„Mach’ ein Ende und denk’ an Deine Rache!“ flüsterte ihm der Versucher zu.

Aber Pawel hatte bei dem Anblick des Mädchens Alles vergessen, nur nicht ihre himmlische Güte und Sanftmuth. Alle finsteren Gedanken und Rachegeister waren von ihm geschwunden; die Liebe hielt triumphirend ihren Einzug in sein verwildertes Herz, und zwar mit jener Gewalt, die sie nur noch auf derartige ungeschwächte Naturen ausübt. Statt dem Rathe des Actuars zu folgen, entriß er dem Nächststehenden den mit Eisen beschlagenen Dreschflegel, als er Veronika bedroht sah.

„Zurück, und wehe dem, der das Fräulein anrührt!“ rief er mit funkelnden Augen, indem er die gewaltige Waffe in seinen Händen schwang.

So stand er da mit gerötheten Wangen und fester Haltung, einem zürnenden Cherub gleich. Es lag eine solche Entschlossenheit in seinen Blicken, daß der feige Actuar erschrocken zurücktaumelte, Pawel hätte ihn sonst sicher niedergeschmettert; er war entschlossen, das Mädchen gegen eine Welt zu vertheidigen. Mit freudig dankbarem Staunen blickte Veronika, mit Verwunderung der Baron ihn an. Auch die Bauern standen betroffen von dieser unerwarteten Sinnesänderung ihres Führers. Er war sich selber und seiner Umgebung ein tiefes Räthsel geworden.

Unterdeß hatte sich der Actuar von seiner ersten Angst erholt.

„Zum Teufel!“ hetzte er die Verschworenen. „Sind wir denn dazu hergekommen? Schlagt den Verräther todt, der jetzt gemeinschaftliche Sache mit unsern Feinden macht.“

Aber Pawel besaß unter den Dorfleuten einen großen Anhang, der ihn nicht ungehört verdammen wollte.

„Rede!“ sagte der Veit. „Vertheidige Dich; was ist mit Dir geschehen?“

„Ich will es Euch sagen,“ sprach Pawel mit wunderbar leuchtenden Blicken. „Seht, meine Freunde, in dem Augenblick, wo ich meine Hand erhob, um den Baron zu strafen, der uns so oft und schwer bedrückt, da ist mir ein Engel Gottes erschienen, der mir zurief: Du sollst nicht tödten, nicht die gute Sache mit Blut beflecken und dadurch verunreinigen. Die Freiheit, welche wir Alle so sehnlich wünschen, ist das höchste Gut, aber wir dürfen es nicht stehlen, nicht mit Gewalt wie die Räuber auf der Heerstraße nehmen, sonst verwandelt sich sein Segen in den schwersten Fluch.“

„Hört nicht auf ihn!“ rief der Actuar dazwischen. „Er ist wahnsinnig geworden.“

„Still!“ geboten die Bauern, welche, in religiösen Vorurtheilen aufgewachsen, geneigt schienen, an die von dem Schmiedegesellen erwähnte Erscheinung eines Engels zu glauben.

„Und ferner,“ fuhr Pawel ermuthigt fort, „bat der Engel für den Schuldigen, er mahnte mich daran, daß man auch seinen Feinden vergeben soll.“

„Einfältiges Geschwätz!“ murrte der Actuar. „Ich glaube nicht an Deinen Engel.“

„So will ich ihn Euch zeigen,“ antwortete Pawel, wie von einem plötzlichen Gedanken durchzuckt, indem er die holde Veronika bei der Hand nahm und zu den noch immer staunenden Bauern führte.

„Das ist der Engel,“ sagte er voll Begeisterung, „dessen Anblick mir das Alles offenbart hat. Das ist der Engel, der Jedem von Euch nur Gutes gethan; wenn Ihr krank waret, Euch gelabt, wenn Ihr elend, Euch getröstet, wenn Ihr unter Eurer Last geseufzt, Euch aufgerichtet hat. Hat sie nicht Eure Frauen beschenkt, mit Euren Kindern gespielt? Ist Einer von Euch hier, der ihr nicht eine Wohlthat, und sei es ein freundliches Wort, zu verdanken hat? Verdient sie nicht, ein Engel genannt und angebetet zu werden, wie eine Heilige?“

Unwillkürlich war Pawel vor der erröthenden Veronika hingesunken; so lag er auf seinen Knieen, ihre Hand ehrfurchtsvoll an seine Lippen drückend. Der gewaltige Eindruck seiner Worte ließ sich in der tiefen Stille erkennen, welche die wunderbare Scene hervorbrachte. Beifällig nickten die Bauern, während der Actuar nur still zu fluchen wagte. Der Anblick des frommen, lieblichen Mädchens, das durch seine Wohlthätigkeit im ganzen Dorfe bekannt war, verstärkte nur die Wirkung von Pawels Rede. Sie stand mit gesenkten Blicken und gefalteten Händen; die Bleiche ihrer Wangen war einer sanften Röthe gewichen und ihre blauen Augen leuchteten im milden Glanze, wie die Sterne des Himmels. Selbst diese rohen Gemüther konnten sich des sanften Zaubers nicht erwehren.

„Pawel hat Recht,“ sagte mehr als eine Stimme; „er hat wahr gesprochen.“

„Und dieser Engel,“ fügte er hinzu, „bittet für das Leben des Schuldigen.“

Bisher hatte Veronika, überrascht, wie alle Uebrigen, geschwiegen; jetzt öffnete sie die rosigen Lippen, um ferneres Unheil abzuwenden.

„Schont meinen Vater,“ flehte sie. „Er wird Euch gewiß alle billigen Wünsche erfüllen und von nun an mild und freundlich sein.“

„Das will ich,“ bekräftigte der Baron, tief ergriffen von dieser fast unerklärlichen Wendung. „Ich verpflichte mich, die königliche Cabinetsordre, deren Glaubwürdigkeit ich erst seit Kurzem kennen gelernt, getreulich zu erfüllen, darauf gebe ich mein Ehrenwort.“

Mit der Versicherung waren die meisten Bauern einverstanden, nur der Actuarius und sein Anhang entfernten sich unter wilden Drohungen. Der Baron gelobte außerdem seinen Unterthanen vollständige Vergebung für alle begangenen Gewaltthätigkeiten. Auch der Verwalter Hartmuth wurde am nächsten Tage noch am Leben gefunden. Seine Wunden waren, wie es sich herausstellte, nicht tödlich, obgleich er längere Zeit brauchte, um sich zu erholen. Die erlittenen Mißhandlungen hatten eine vortheilhafte Sinnesänderung hervorgebracht, indem er sich hütete, seine Untergebenen zu quälen. – Pawel jedoch, welchem der Baron und seine Tochter zu besonderem Danke sich verpflichtet fühlten, war nirgends zu finden. Noch in derselben Nacht hatte er das Dorf verlassen und blieb verschwunden. Trotz aller Nachforschungen wurde keine Spur von ihm entdeckt: selbst seine Schwester wußte nicht, wohin er sich gewendet. Es verbreitete sich das Gerücht, daß die Verschworenen ihn wegen seines Abfalles ermordet hätten, und Veronika weinte unbemerkt um den Verlorenen.

Unterdeß hatte der Bauernaufstand in Oberschlesien, der so glücklich an dem Baron vorübergegangen war, eine allgemeine Verbreitung erlangt. In den verschiedensten Kreisen empörte sich das Landvolk gegen die Gutsherrn und übte oft die empörendsten Gewaltthätigkeiten aus. Zuweilen begnügten sich die Verschwörer mit der gezwungenen Anerkennung ihrer Rechte, wobei sie nie verfehlten, sich die bewußte Urkunde mit den drei verschiedenen Siegeln ausstellen zu lassen; meist jedoch war dies Streben nach Freiheit nur ein Vorwand, um zu plündern und zu rauben. Immer drohender wurden diese Zustände; viele Gutsherrn mußten flüchten; ihre Schlösser wurden verwüstet, ihre Vorräthe zerstört; hier und da auch ein Edelsitz oder ein Vorwerk sogar angezündet. Auch an schweren Mißhandlungen ließen es die Verschworenen nicht fehlen und mancher verhaßte Herr oder Beamte büßte seine frühere Strenge selbst mit dem Leben. Die Maßregeln der Behörden erwiesen sich nicht ausreichend, da ihre Thätigkeit durch die französische Occupation des Landes in vielfacher Beziehung gelähmt war. Endlich hatte das Uebel einen Grad erreicht, daß die bisher bewiesene Schonung und Nachsicht gegen die Verirrten nicht länger beibehalten werden konnte. Die Regierung [59] sah sich zu einem energischen Einschreiten gezwungen und bot die bewaffnete Macht auf. Mehrere Regimenter Infanterie und Cavallerie rückten gegen die empörten Bauern aus, deren Zahl auf mehrere Tausende angewachsen war. In der Nähe von Nicolai, wo sich jetzt das Waisenhaus jener armen Kinder befindet, welche durch den Typhus ihre Eltern verloren, kam es zu einem vollständigen Treffen. Anfangs hielten die Bauern tapfer Stand, da es ihnen jedoch an tüchtigen Anführern und vor Allem an der nöthigen militairischen Erfahrung fehlte, so mußten sie unterliegen. Bald löste sich der Haufen in wilder Flucht auf; die Rädelsführer wurden theils getödtet, theils gefangen genommen und ihnen der Proceß gemacht. Unter diesen befand sich der Actuar, welcher zu mehrjähriger Zuchthausstrafe von dem betreffenden Gerichte verurtheilt wurde. Er starb im Gefängnisse ohne Reue und mit einem Fluche auf seinen Lippen.

Die Ruhe war wieder hergestellt und die königliche Cabinetsordre, welche bald darauf in’s Leben trat, endete die Verwirrung, indem sie die Verhältnisse der Gutsherrn und ihrer Unterthanen regelte. Für beide Theile war der Segen ersichtlich.

Zwei Jahre waren seit jenen Ereignissen vergangen, als der Krieg gegen Napoleon und gegen die drückende Franzosenherrschaft ausbrach. Preußen erhob sich aus seiner Schmach, nachdem es die ihm vergönnte Zeit weise benutzt hatte, um sich auf dem Wege friedlicher Reformen zu verjüngen und mit Anspannung aller Kräfte zu rüsten. Der König hatte von Breslau aus jenen denkwürdigen Aufruf an sein Volk erlassen; aus allen Theilen des Landes strömten Jünglinge und Männer herbei, um mit ihrem Blute die Befreiung des Vaterlandes zu erkaufen. Auch die Frauen, von der allgemeinen Begeisterung ergriffen, blieben nicht zurück; sie opferten ihren Schmuck und widmeten sich den verwundeten und kranken Kriegern mit hingebender Liebe.

Nach der Schlacht an der Katzbach waren die Lazarethe in Breslau überfüllt mit Leidenden. Die Zahl der Aerzte und Krankenwärter reichte nicht mehr aus; da erboten sich freiwillig die edelsten Frauen und Jungfrauen zum Dienste in den Hospitälern. Ohne Scheu setzten sie sich der Ansteckung des furchtbaren Typhus und dem Anblick der gräßlichsten Verstümmelungen aus. Unter diesen Samaritanerinnen befand sich ein junges Mädchen, welches sich durch seine unermüdliche Thätigkeit auszeichnete. Tag und Nacht war sie unablässig beschäftigt, Wunden zu verbinden, die Kranken zu pflegen und selbst den Sterbenden noch durch ein frommes Wort zu trösten. – Es war die gute Veronika, welche mit ihrem Vater beim Ausbruche des Krieges nach Breslau kam.

Seit dem Tage des Ueberfalls war mit Veronika sichtbar eine Veränderung vorgegangen. Still und träumerisch ging sie im Hause umher und wenn ihr Vater, der jetzt seine Tochter wie einen Augapfel hütete, sie um den Grund ihrer trüben Stimmung fragte, lächelte sie nur und meinte, sie sei ganz zufrieden, wenn nur Papa mit ihr zufrieden sei. Gern erfüllte dieser auch ihren Wunsch, als sie bat, dem Beispiele vieler der edelsten Jungfrauen folgen und als Krankenwärterin in eins der überfüllten Breslauer Hospitäler eintreten zu dürfen.

Eines Tages, als eben ein neuer Transport von Verwundeten angelangt war, erblickte Veronika unter diesen einen jungen Krieger, dessen Brust mit mehreren Orden geschmückt war. Eine Kugel hatte ihm beide Beine zerschmettert. Der Arzt hatte keine Hoffnung, ihn zu retten. Mitleidig näherte sich Veronika, um dem Sterbenden eine Erfrischung zu reichen. Dankend hob er die vor Mattigkeit geschlossenen Augen zu ihr empor; sein Blick begegnete dem ihrigen; ein schwacher Schrei entschlüpfte ihren Lippen.

„Pawel!“ rief sie erschüttert.

„Ich lebe noch,“ antwortete er mit matter Stimme, „obgleich mich alle Welt für todt gehalten hat. Ich wußte ja, daß ich nicht sterben würde, ohne Sie gesehen zu haben.“

Er wollte weiter sprechen, aber seine Erschöpfung hinderte ihn daran. Nachdem er einige Augenblicke geruht, machte er einen neuen Versuch, mit ihr zu sprechen. Er rang nach Worten, um all’ die verschiedenen Gefühle auszudrücken, welche ihn bei ihrem unerwarteten Anblicke bestürmten, aber plötzlich, wenn er einige Augenblicke geredet, hielt er wieder inne, als fürchtete er, zu viel gesagt zu haben. Aus seinen Mittheilungen erfuhr sie denn nun, daß er in jener Nacht über die polnische Grenze geflüchtet und in russische Kriegsdienste getreten sei. Ueber den Grund seiner heimlichen Entfernung beobachtete er ein räthselhaftes, hartnäckiges Stillschweigen. Beim Ausbruch des Krieges war er mit dem russischen Heer nach Preußen eingerückt und nach einem ehrenvollen Abschiede in die Reihen seiner Landsleute eingetreten, wo er bei mehrfachen Gelegenheiten sich ausgezeichnet hatte.

Allmählich folgten jedoch auf diese klaren Berichte die verwirrten Phantasieen eines starken Wundfiebers. Pawel verlor die Besinnung und sprach ohne Ordnung und Zusammenhang. Seine Reden trugen indeß den Stempel der höheren Bildung, die er sich in seinen neuen Verhältnissen erworben hatte; seine Gedanken nahmen einen höheren Aufschwung, wie ihn die Seele der Sterbenden zuweilen zeigt, ehe sie die irdischen Bande abstreift. Er schien Veronika nicht mehr zu erkennen und doch beschäftigte er sich ausschließlich mit ihr.

„Engel, Veronika!“ murmelte er mit vertrockneten Lippen. „Ja! Du bist der gute Engel, der mich von der Sünde erlöst hat. – Kannst Du mir verzeihen? – Ich liebe Dich. – Thorheit! Ich, der niedrige Knecht, der Verbrecher. – Du bist gut und wirst nicht zürnen. – Engel zürnen nicht – sie bitten für uns. – Im Himmel darf ich Dich lieben – da gibt es weder Herrn, noch Knechte. – Frei! – Wir sind Alle frei. – O! ich will gern sterben. – Der Tod ist so süß. – Hurrah! Die Feinde! – Vorwärts für Gott, König und – Veronika!“

Mit leisem Schauer vernahm sie die Geständnisse einer heißen, wunderbaren Liebe, welche sie nie geahnt; abwechselnd mit den rührendsten Klagen über sein vergangenes Leben. Zuweilen kehrte sein Bewußtsein zurück und dann sah er sie mit einem Blick an, der tief in ihre Seele drang.

„Ich bin gar nicht eines solchen Glückes werth,“ murmelte er mit ersterbender Stimme, als er sie weinen sah.

Sie reichte ihm die Hand, welche er mit seinen Küssen bedeckte und in den seinigen so fest hielt, daß sie ihm sie nicht zu entziehen wagte. Dann trug er ihr Grüße an seine Schwester auf.

„Verlassen Sie die arme Jadwiga nicht,“ bat er in rührender Weise.

Immer näher trat der letzte Augenblick, und mit ihm schien der Nebel zu weichen, der über seinen Geist sich ausgebreitet hatte. Der oberschlesische Bauer hatte sich in ein Wesen höherer Art verwandelt; er sprach von dem Vaterlande, von der Zukunft wie mit prophetischen Blicken; dann wieder wandte er sich zu Veronika, um ihr für immer Lebewohl zu sagen.

„Gott segne Sie,“ flüsterte er mit glänzenden Blicken, „Mein Engel –“

Er vollendete nicht; das Geheimnis seiner Liebe nahm er mit sich in’s Grab. Nur aus seinen wirren Worten hatte Veronika erfahren, welch ein Herz sie verloren.

Einige Monate später trat sie in den Orden der Elisabethiner-Nonnen, welche sich ausschließlich der Krankenpflege weihen. Sie übte ihren Beruf mit einer Hingebung, die ihr den Namen der „Engel der Kranken“ verschaffte. Der arme Pawel lebte fort in ihrer Erinnerung.




  1. polnisch: junge Herrin.