Epische Briefe/IV

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Autor: Wilhelm Jordan
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Titel: Epische Briefe IV
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aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 740–742
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Epische Briefe.


Von Wilhelm Jordan.
IV.


Die Haupthelden des indischen, iranischen, griechischen und germanischen Epos, Karna, Rustem und Isfendiar, Achilles und unser Sigfrid, treffen darin überein, daß sie von den Göttern herstammen, übermenschliche Stärke, göttliche Waffen besitzen und unverwundbar sind mit Ausnahme einer Stelle ihres Körpers.

Im letzteren Punkte freilich scheint Firdusi’s Rustem eine Ausnahme zu machen, da von ihm die Eigenschaft solcher Unverwundbarkeit im Schahnameh nirgend ausdrücklich erwähnt wird.

Indeß dasselbe gilt vom homerischen Achilles. Nur aus anderweiten späteren Mittheilungen kennen wir die vorhomerische Sage von der Eintauchung in die Styx und der dadurch über den ganzen Körper mit Ausnahme des Fersenknöchels erlangten Unverletzlichkeit. Eine Hauptaufgabe des Poeten ist es, für seinen Helden Furcht und Hoffnung, Mitleid und Bewunderung zu wecken. Ein unversehrbarer Mann ist dazu nicht zu gebrauchen; denn wo die Gefahr fortfällt, kann auch von Muth und Tapferkeit nicht die Rede sein. Derselbe Grund also, der nach dem Beispiele der Ilias auch für die Kunstgestalt der Sigfridsage geboten hat, die angeborene Undurchdringlichkeit des Körpers fallen zu lassen, wird unzweifelhaft auch Firdusi bestimmt haben, in diesem Punkte von der iranischen Sage abzuweichen. Uebrigens kann auch sein Rustem nur durch eine mit Speeren gefüllte Grube getödtet werden; auch besitzt er ein Aequivalent der gefeiten Haut in der Ueberkraft, welche er für gewöhnlich ruhen läßt, da er sonst Felsen wie dünnes Eis durchtreten würde, aber unter besonderen Umständen augenblicklich anlegen kann, wie der altgermanische Gott des Ackerbaues und Gewitters, Thôrr oder Donar, seinen Megingiardr, den Stärkegürtel.

Der indische, iranische, griechische und germanische Hauptheld steht ferner in allen vier Epen in der Dienstbarkeit eines Fürsten von geringeren Eigenschaften. Diesem erwirbt er durch schwere Leistungen oder unter Lebensgefahr eine Geliebte oder verliert an ihn die eigene, und hieraus entspringt verderbliche Entzweiung. In allen vier Epenkreisen schürzt sich auf diese Weise der Schicksalsknoten, mit tiefster Tragik im germanischen, wo der Held eine wirklich todeswürdige Schuld auf sich ladet, indem er seine erste Verlobte für den Preis einer anderen Braut dem König betrüglich erkämpft.

Noch viel auffälliger zeigt sich die Uebereinstimmung, wenn wir die Heldengestalten je zwei dieser Völker vergleichen, z. B. den indischen Karna und den germanischen Sigfrid, wie das theilweise schon H. Leo und A. Holtzmann ausgeführt haben.

Karna’s Mutter setzt das neugeborene Kind in einem wohlverschlossenen Kästchen in’s Wasser. Die Wellen tragen es in ein fernes Land, wo es gefunden und erzogen wird. Gerade so kommt, nach einem uralten Zuge, den uns die sogenannte Wilkinasage aufbewahrt hat, der neugeborene Sigfrid in glasbedeckter Kiste den Rhein herabgeschwommen. Gerade so ergeht es in einem noch jetzt im Volksmunde lebendigen Miniatur-Nachbilde der Sigfridsage, dem bekannten, auch in der Grimm’schen Sammlung mitgetheilten Märchen, dem Kinde mit der Glückshaut (eine Metamorphose der Tarnkappe), das in solchem Kasten einen Mühlbach hinuntertreibt, vom Müller am Wehre aufgefangen und erzogen wird und dann erwachsen, um eine Königstochter zur Frau zu gewinnen, drei Haare vom Teufel aus der Hölle holen muß; ein Zug, in welchem die Kämpfe zur Gewinnung der Brunhild oder Krimhild anklingen. Karna wie Sigfrid sind also beide zunächst Fündlinge. Aber der indische Dichter weiß, daß Karna’s Vater kein geringerer ist, als der Sonnengott. Sigfrid’s Vater heißt nach der Edda und dem Nibelungenliede Sigmund. Um wahrscheinlich zu machen, daß auch dieser Name ursprünglich den Sonnengott bedeutet habe, erinnert Holtzmann an einen Gott der Sequaner, Namens Segemon. Allein es bedarf gar nicht dieses weithergeholten Beweisversuches. In dem Eddaliede Skirnisför, das ist die Fahrt Skirnir’s, welches wie ein Mittelglied den Uebergang von der Götter- zur Heldensage bezeichnet und schon die Grundzüge der letzteren enthält, besteht Skirnir als Busenfreund und zweites Ich des Sonnengottes Freyr eben die Abenteuer, welche nachher dem Sigfrid zugeschrieben werden. Dieser selbst hat ursprünglich die Bedeutung eines die nordische Erde vom Winterschlaf erweckenden Frühlingsgottes. Aus der zur Jungfrau personificirten frostgelähmten Vegetationskraft der Erde, welche dieser Frühlingsgott mit dem Schwerte seines Vaters, dem Sonnenstrahl, freisprengt vom umkrustenden Eise, ist dann die in Zauberschlaf versenkte Heldenjungfrau Brunhild geworden, welche Sigfrid erweckt und durch Berührung mit dem Schwerte Balmung aus angeschmiedetem Panzer herausschält.

Auf die Abstammung vom Sonnengotte deuten auch Sigfrid’s Augen, die so leuchtend sind, daß ihren Glanz Niemand ertragen kann, und welche dann seine Tochter Schwanhild von ihm ererbt; denn diese vermag durch ihren Blick sogar Pferde scheu zu machen. Von einer Hornhaut Sigfrid’s wird zwar in den uns erhaltenen ältesten Sagenresten nichts erwähnt. Aber schon beim Frühlingsgotte Balder ist die Lichtnatur verbunden mit Unverletzlichkeit unter einer Ausnahme; denn nur durch einen Pfeil vom Zweige der Mistel kann er getödtet werden. Der Volksgesang suchte dann diese Eigenschaft zu erklären durch das hörnende Drachenblut, ihre Ausnahme durch das Lindenblatt, das ihm dabei „zwischen die Herten“ gefallen sei. Indeß kann auch die Hornhaut trotz ihrer späten Erwähnung immerhin uralt sein. Denn ganz entsprechend ist Karna mit einem „Krebs“, einem natürlichen Panzer, zur Welt gekommen. – Wie Sigfrid für Gunther, so erwirbt Karna für den König Durjozana eine Gemahlin und besteht für ihn die Gefahren der Brautwerbung, wie Sigfrid die Kämpfe mit Brunhild. Wie Sigfrid den Drachen Fafner, so erlegt Karna den Dscharasanz, ein übermenschliches Wesen, den Schrecken Indiens, und erbeutet von ihm, wie Sigfrid den Hort der Nibelunge und den Helm Hildegrim, große Schätze und den Streitwagen des Himmels- und Donnergottes Indra. Beide endlich fallen durch einen hinterlistigen Schuß, der sie vom Rücken her durchbohrt.

Noch viele andere gemeinsame Züge der Sage haben sich erhalten, sind aber von der Person des Haupthelden auf andere Gestalten übertragen worden.

So ist der Drachenkampf zwar dem Karna, Rustem und Sigfrid gemeinschaftlich, in der griechischen Sage aber nicht auf Achill, sondern auf mehrere andere Gestalten übertragen worden. So zunächst auf den Sonnengott selbst, auf Apollo, den Erleger des pythischen Drachen. Dem entspricht es in der germanischen Mythe, daß in jenem Eddaliede von der Fahrt Skirnir’s der Sonnengott Freyr als der Tödter eines Sturmriesen Namens Beli bezeichnet wird. Auch dem Hermeias ferner wird die Besiegung eines drachenartigen Ungethüms, des hundertäugigen Argos, zugeschrieben. Von den drachentödtenden griechischen Helden ist besonders Perseus merkwürdig durch seine auffällige Uebereinstimmung mit Sigfrid. Er ist ein Sohn des Himmelsgottes Zeus. Wie Sigfrid in den Rhein wird er als [741] neugebornes Kind in einem Kasten in’s Meer geworfen und vom Fischer Diktys im Netze an’s Land gezogen. Wie Sigfrid vom Schmidt Mime oder Regin, einem Zwerge, zu dem sich offenbar eine frühere Göttergestalt vermenschlicht hat, das Schwert Gram oder Balmung, so erhält Perseus vom Schmiedegott Hephästos das Schwert Harpe. Wie Sigfrid die unsichtbar machende Tarnkappe, so besitzt Perseus den unsichtbar machenden Hadeshelm. Wie Sigfrid den Lintwurm erlegt und aus dessen Gewalt die geliebte Königstochter befreit (nach einem freilich erst mittelalterlichen, aber zweifellos aus alter Tradition schöpfenden Liede), so überwindet Perseus ein drachenartiges Meerungeheuer, und auch er rettet dadurch eine gefesselte Königstochter.

Ein dritter griechischer Drachentödter ist Jason, der Held der großen Argonautensage. Die Stelle der Odyssee, in welcher sie als „die allbesungene“ bezeichnet wird, ist zwar nachweisbar unecht, aber wahrscheinlich aus einem der Odyssee nahezu gleich alten Liede eingeschaltet. Unverkennbar ist diese Sage wirklich eine der am meisten verbreiteten, ja, so lange die Haupt- und Nationalsage des Volkes gewesen, wie noch die Eröffnung und Ausbeutung der fernen Länder im Osten des schwarzen Meeres als die folgenreichste Großthat bewundert wurde. Erst als diese in Schatten gestellt wurde durch die Erwerbung des westlichen Kleinasiens, die man als begonnen betrachtete mit der Eroberung Trojas, wurde sie von diesem ersten Platze verdrängt durch den troischen Sagenkreis. Es ist sehr merkwürdig, daß ihr gemeinsam vererbter Kern bestimmt war, sich zu unserer herrschenden Nationalsage zu entfalten. Denn mit der Argonautensage ist die Nibelungensage – worauf ich in meinen Vorträgen zuerst aufmerksam gemacht habe – nicht nur verwandt, sondern in den Grundzügen identisch.

Noch in unserem Nibelungenliede hat sich eine Spur davon erhalten, daß dem Helden Sigfrid ein schnelles Wunderschiff zu Gebote steht. In seiner Tarnkappe, erzählt die achte Aventiure, besteigt er das Schiffel:

Man wânde daz ez fuorte ein sunderstarker wint,
Den vergen sach doch niemen.

In Zeit nur eines Tages und einer Nacht gelangt er so in’s geheimnißvolle Nibelungenland. – Ich erinnere ferner daran, daß in einem Eddaliede Brunhild, unter dem Namen Sigurdrifa, den Helden Sigfrid, ihren Verlobten, am Anfang seiner Laufbahn in Sieg-Runen, Schwert-Runen und allerlei Zauberkünsten unterrichtet. Dann erlegt er den Drachen und gewinnt den von ihm bewachten Goldhort der Nibelunge, wird aber seiner ersten Verlobten treulos zu Gunsten der Königstochter Krimhild (oder Gudrun, wie sie in der Edda heißt), und fällt durch die Rache Brunhildens.

Gerade so gelangt Jason auf dem Wunderschiff Argo, das ist die schnelle, nach Aia, was eben nur ein unbestimmt gelassenes ferngelegenes Land bedeutet, nach Kolchis, wie es später bezeichnet wurde, wird dort von der Jungfrau Medea in Zauberkünsten unterrichtet, vermählt sich mit ihr, erlegt einen Drachen, erobert das von ihm bewachte goldene Vließ, wird der ersten Geliebten treulos zu Gunsten der korinthischen Königstochter Kreusa und geht unter durch die furchtbare Rache Medea’s. Auch den Kindermord der Letzteren finden wir in der Nibelungensage wieder, aber freilich nicht auf Brunhild, sondern auf Krimhild übertragen, die nach den Atleliedern der Edda ihrem zweiten Gemahl Etzel, zur Rache ihrer Brüder, ihre und seine leibliche Brut als Speise vorsetzt, wie es in der Tantalidensage Atreus seinem Bruder Thyestes anthut. Ja, ich treibe nicht etwa nur ein spitzfindiges Spiel mit Wortähnlichkeiten, wenn ich behaupte, daß Nibelunge schon in der Argonautensage auch genannt werden. Denn Nibelunge, das ist Söhne der personificirten Finsterniß, bedeutet ursprünglich Kinder des Nebels. Phrixos aber und Helle, mit deren Flucht durch die Lüfte nach dem fernen Aia, bewerkstelligt auf dem Rücken des goldvließigen Widders, die Argonautensage anhebt, sind Kinder des Athamas, eines Sohnes des Windgottes Aeolos, von seiner göttlichen Gemahlin Nephele, und dieses Wort, mit unserem „Nebel“ identisch, bedeutet die Wolke. Nicht hier ist der Ort, zu zeigen, welche Naturanschauung in der Nibelungen- und Argonautensage zur Mär vermenschlicht wurde. Nur daran sei erinnert, daß sowohl die Tarnkappe wie das geheimnißvolle Fahrzeug, in welchem Sigfrid unsichtbar in’s Nibelungenland fährt, ursprünglich nichts anderes bedeuten als die Nebelumhüllung, in welcher die warme Frühlingsluft im kälteren Norden anlangt; denn beide Besitzthümer sind bei der Vermenschlichung der Göttersage auf den Helden übergegangen als Aenderbildungen des schnellen Wunderschiffes Skidbladnir, welches dem Sonnengott Freyr zur Verfügung steht und welches dieser bis zur Unsichtbarkeit zusammenfalten kann, der Wolke, der „Seglerin der Lüfte“.

Eine historisch noch nicht meßbare Zeit, sicherlich aber beträchtlich mehr als ein Jahrtausend, muß verflossen sein zwischen der Trennung der Vorfahren der Indier, Iranier, Griechen und Germanen vom arischen Urstamm und der jedem dieser Völker eigenthümlichen Ausbildung ihrer uns erhaltenen epischen Ueberlieferung. Ueber ein Drittel des Erdumfanges und die allerverschiedensten Länder durchziehend und besiedelnd, hatten ihre Nachkommen die verschiedensten Schicksale erfahren, und alles das hatte verändernd einwirken müssen auf ihre Sage. So erscheinen denn diese Uebereinstimmungen, die ich noch um eine Menge von Zügen vermehren könnte, in der That fast größer, als wir sie erwarten sollten, und sicherlich auffallend genug, um darauf hin zu behaupten, daß, wie die Sprachen der Indogermanen nur Dialecte einer Stammsprache sind, und wie ihre ursprünglichen Religionen nur Metamorphosen sind von einer und derselben Urreligion, gerade so auch der Grundstock der Heldensage der vier epischen Völker, die es auf Erden giebt, ihr gemeinschaftliches Erbe ist vom Stammvolke der Arier, daß wir also schon diesen einen von den Priestern abgezweigten Sängerstand und den Besitz des Epos mindestens auf jener zweiten Stufe, als Chronik des Volkes in Liedern, zuschreiben dürfen.

Als Stämme der Arier von ihren Ursitzen in den Hochlanden Mittelasiens theils nach Süden und Südosten, theils nach Westen und Nordwesten auswanderten, da ging die Sprache der ausgesandten Volksäste allmählich auseinander in Mundarten, die einander immer mehr unähnlich wurden bis zur gegenseitigen Unverständlichkeit. Ebenso verwandelte sich das ihnen gemeinsame Epos. Was sie Neues erlebten, vermischte sich umgestaltend mit den älteren Sagen. Andere Erdgürtel mit anderen Himmelserscheinungen und Jahreszeiten, anderen Thieren und Pflanzen, gaben neue Anschauungen, bedingten andere Thätigkeit, andere Sitten. Und wie vordem die Maler die biblischen Patriarchen im Costüme des Mittelalters zu malen pflegten, wie noch Shakespeare’s Bühne die alten Römer frischweg auftreten ließ in Kleidung und Rüstung altenglischer Ritter: so hat auch das Epos stets und zu allen Zeiten, auch das homerische keineswegs ausgenommen, die Trachten und Sitten einer noch erinnerlichen und vorstellbaren jüngern Vergangenheit gewählt für die Gestalten der Vorzeit, ihren Thaten Schauplätze gegeben in der neuen Heimath, sie immer wieder wo anders localisirt.

Ja, es hat mehr gethan. Es hat, wie das schon ein früherer Brief andeutete, die alten Götter und alten Helden stets auch zu Trägern neuer Glaubenslehren, neuer Bestrebungen gemacht. Sie waren ihm die heiligen Gefäße der Tradition, zu der es sich berechtigt und verpflichtet fühlte, auch den besten Saft der jüngsten Thatenernte der Völker hinzuzugießen. Es legte diesen alten Göttern in den Mund die Gebote einer vorgeschrittenen Sittenlehre; es machte diese alten Helden zu Vorkämpfern der die Herzen des Volkes bewegenden Zukunftshoffnungen, seiner religiösen, gesellschaftlichen und politischen Ideale. Ein Epos von modernem Stoffe ist die gleiche Afterkunst wie eine nagelneugebaute Ruine, die gleiche Unmöglichkeit wie neusilbernes Gold. Seine prägende Idee aber muß modern sein, und in diesem Sinne ist es immer modernisirt worden – obwohl man sich hier dieses mit widrigem Beigeschmack behafteten Wortes besser gar nicht bedient, da die Poesie, mit Ausnahme etwa der satirischen, mit der eigentlichen Mode am allerwenigsten zu schaffen hat. Von keinem besser, als vom größten aller Epiker, von Homer, läßt sich nachweisen, daß er gerade durch die Darstellung der durchgreifenden Erneuerung, die sich in seinem Volke vollzogen hatte, seine gewaltige, alle Jahrtausende durchdauernde Wirkung erzielt hat.

Von einem antikisirenden Epos, das sich als lebensfähig erwiesen hätte, weiß die Geschichte der Poesie nichts, wenn auch von einigen mißlungenen Versuchen, ein solches Unding zusammenzukünsteln. [742] Eine Verkehrtheit ist es, dem Epos streng antiquarische Gewissenhaftigkeit in der Zeichnung der Waffen, Geräthe, Trachten und Lebensgewohnheiten eines bestimmten Zeitalters zuzumuthen. Was es erzählt, hat gar kein bestimmtes Zeitalter. Es kann auf die Frage, in welcher Zeit es spiele, nicht besser antworten als mit Hebbel: „In der poetischen.“ Wer es für Geschichte nimmt, der versteht nichts von seinem Wesen und seinem Zwecke. Es ist eine seiner wichtigsten Aufgaben, zeitlos zu sein. Mit der Geschichte unmittelbar hat es gar nichts zu thun. Von ihr kann es in den Bereich seiner Darstellung nur hineinziehen, was schon selbst wieder Sage geworden ist, und dann allemal unter äußerster Rücksichtslosigkeit gegen alle Chronologie; wie z. B. die deutsche Sage Attila und Theodorich als Etzel und Dietrich von Bern zu Zeitgenossen macht, obgleich der Erstere zwei Jahre vor der Geburt des Letzteren gestorben. Gleichwohl hat diese Forderung noch einige Berechtigung. Ob man sich schon der Armbrust oder nur des Bogens bedient zur Zeit eines Stücks Geschichte, das die Sage umverdaut hat, darum braucht sich der Epiker nicht zu kümmern. Allerdings aber wird er nicht, wie Shakespeare, die römischen Legionen gerade nach der Trommel marschiren oder gar die Nibelunge mit Flinten und Kanonen schießen lassen.

Immer aber bleibt es ein größerer Mißverstand, wenn man dem Epiker Vorwürfe macht wegen Erfüllung seiner obersten Pflicht: in seinem alten Stoffe neue Gedanken darzustellen. Der Dichter überhaupt vermag auf seine Zeitgenossen und ihre Nachkommen nur zu wirken als ein Sohn seiner Zeit, welcher dem Wissen und Glauben seiner Epoche treffenden Ausdruck zu geben weiß. Die besondere Aufgabe des Dichters des Epos ist es, diesen jüngsten Geistesinhalt seiner Nation während einer weltgeschichtlich großen Phase ihrer Entwickelung zu erkennen und aufzuzeigen als im Keime schon vorhanden in ihrem alten Glauben, ihren alten Sagen von Helden der Vorzeit. Er hat das echt Menschliche und daher Ewige dieses Neuen zur Darstellung zu bringen in der Vermählung mit dem echt Menschlichen und Ewigen im Glauben und in den Thaten der Vorfahren.