Erinnerungen an Friedrich Schleiermacher

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Titel: Erinnerungen an Friedrich Schleiermacher
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aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 654–656
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Erinnerungen an Friedrich Schleiermacher.

Ich sollte und wollte Theologie studiren, natürlich in Berlin bei Schleiermacher, demselben Manne, dessen hundertjähriger Geburtstag am 21. November zu begehen ist. Er, der gefeiertste Mann des Tages, zog mich vor Allen an. Ich war einige Zeit vor Beginn der Collegien nach Berlin gekommen, hatte die Residenz noch nie besucht und fand deshalb immer neues Vergnügen darin, die Physiognomie Berlins und der Berliner zu studiren.

Zum ersten Mal sah ich in den nächsten Tagen Schleiermacher auf dem Wege nach dem Thiergarten. Doch war zunächst nicht er es, der meine Aufmerksamkeit erregte, sondern seine Begleiterin, eine Junogestalt, die in imponirender Gemessenheit einherschritt gleich der tragischen Muse, und neben der sich der kleine, bewegliche Schleiermacher merkwürdig genug ausnahm. Seine Begleiterin aber war die schöne Henriette Herz, seine intimste Freundin, mit der ihn Gewohnheit und Bedürfniß Jahrzehnte lang täglich zusammenführte.[1]

Die Vorlesungen begannen. Schleiermacher wollte ich zuerst hören, er sollte der Priester sein, der mich einführte in das Heiligthum der Wissenschaft. Noch lange vor dem „akademischen Viertel“ saß ich in ahnungsvoller Stimmung im Auditorium Schleiermacher’s; ehrwürdig erschienen mir die grauen Wände, die schon so viele seiner herrlichen Worte gehört, geweiht das Katheder, als eine Stätte, von der Licht und Begeisterung strömte. Das Auditorium hatte sich bald vollständig gefüllt; wie verhaltene Festfreude klang mir das Gemurmel der Stimmen der erwartungsvollen Studentenschaar. Ich habe später noch oft auf andern Universitäten und bei andern Professoren theologische Collegien gehört, eine Zuhörerschaft wie die Schleiermacher’s aber nirgends wieder gefunden. Wer sich einmal von ihm angezogen fühlte, kam immer wieder, so sah man auf denselben Plätzen dieselben Hörer. Gleiche Begeisterung, gleiche Ideale blitzten aus den intelligenten Gesichtern, wie ein vieltheiliger Körper saß die Schaar und in Allen wirkte und lebte der große Meister.

Mit schnellem Schwung öffnete sich die Thür; allgemeine Stille, allgemeines Erheben, während ein kleiner Mann mit behenden Schritten zum Katheder eilt, es war der Mann, den ich schon ein Mal gesehen hatte. Ich hatte nahe dem Katheder Platz genommen, mein Blick hing festgesaugt an den geistvollen Zügen des großen Lehrers. Sein höchst bedeutender Gesichtsausdruck zeigte Ruhe und Bewegung in wunderbarer Vereinigung. In den scharf ausgeprägten Zügen spiegelte sich der in Kämpfen errungene Charakter, seine feurigen Augen blickten eben so scharf forschend als innig theilnehmend über die Versammlung. Die sonst fest geschlossenen Lippen bewegten sich, sein Vortrag begann.

Waren seine Vorträge außerordentlich durch ihren Inhalt, so war auch die Methode seines Lehrens ganz einzig, ja die einzig richtige Methode. Wir nannten Schleiermacher unsern Sokrates, wenigstens war seine Methode die sokratische, nur in anderer zeitgemäßer Anwendung. Ich weiß noch, wie oft wir in unsern Gesprächen seine den herkömmlichen und den damals angewendeten Methoden entgegengesetzte bewunderten. Darin waren wir Alle einig: „Wer von Schleiermacher nicht denken lernte, der konnte es nirgends lernen.“ Seine Methode war die untersuchende, von der Erfahrung ausgehende, die entwickelnde Methode. Man erkannte in ihm die lebendige Werkstätte des erzeugenden Geistes, man beobachtete das Werden der Gedanken, man sah denken, man hörte denken, man fühlte es, und Jeder wurde zum Gedankenerzeugen bewegt. Sein ganzer Gedankenproceß war nur wie ein Aufruf zur Selbstentwickelung und zum Selbsterwerb dessen, was Jedem für seine Wahrheit gelten sollte. Denn geistige Selbstständigkeit [655] und geistige Selbstthätigkeit waren ihm Ziel des akademischen Studiums. Seine Erläuterungen nahmen häufig die Form der Frage und Antwort an. Der Zuhörer antwortete zwar nicht laut, aber er antwortete im Stillen und er hörte die Antworten des Meisters, die jener auf seine Fragen gab. Er ließ im Hörer die Fragen selbst auffinden, auf deren Beantwortung es ankam, und erfüllte ihn mit der Begierde diese Fragen zu lösen. Und doch sagte Schleiermacher selbst scherzweise, daß die Studenten nichts bei ihm lernen könnten! Er war allerdings kein Münzmeister, der Jeden mit einer Anzahl von ausgeprägten Geldsorten versah zur Wegzehrung für den nächsten Bedarf, aber die Zutageförderung edler Metalle aus dem Schachte des Geistes lernte man bei ihm und die Münzkunst selbst. Wie wenig im Ganzen seine Lehrkunst jetzt auf unsern Universitäten verstanden und gehandhabt wird, weiß Jeder, der die „positiven“ Einflüsse auf den meisten derselben kennt.

Wie berauscht war ich aus dem ersten Colleg gegangen, der Mann hatte mich ganz gefangen genommen. Bald machte ich meine Aufwartung in Schleiermacher’s Wohnung. Der Herr Professor arbeitete in seinem Studirzimmer, ich wurde gemeldet und erwartete ihn klopfenden Herzens.

Bekannte, die Schleiermacher bereits besucht, hatten ihn beim ersten Zusammentreffen etwas kühl zurückhaltend gefunden. Er verhielt sich allerdings gewöhnlich scheinbar kalt, d. h. zuschauend, prüfend, indem er dem Gaste ruhig gestattete, sich ausführlich auszusprechen, und dabei ruhte sein Blick fest durchschauend, fast körperlich fühlbar auf dem Fremden. Das mochte unter Umständen etwas beengend sein. Nicht nur sein Naturell, auch die Verhältnisse veranlaßten diese Eigenthümlichkeit seines Benehmens. Schleiermacher war sehr thätig und in der Ausbeutung seiner Zeit äußerst sorgsam; so setzte er sich an den Arbeitstisch, auch wenn ihm nur fünf bis zehn Minuten freie Zeit zum Arbeiten blieben. Wurde er nun, wie so oft geschah, von seinen gelehrten Arbeiten weg zu Besuchen oder Geschäften gerufen, so hatten seine Züge allerdings anfangs einen etwas starren Ausdruck, der aber bald wich; in seinem Kopfe processirten eben noch Gedanken, die einer ganz andern Welt angehörten als der, der er sich im Augenblick widmen sollte.

Mich nahm er freundlichst auf und zeigte in seiner gewinnenden Unterhaltung ein merkwürdiges Verständniß für jugendliche Interessen; hatte er doch selbst noch ein jugendliches Herz neben seiner hohen Weisheit, und „ein alter Kopf und ein junges Herz“ haben in ihrer seltenen Vereinigung immer eine empfängliche, strebsame Jugend entzückt.

Er lud mich auf den folgenden Sonnabend Abend ein. Am Sonnabend jeder Woche hielt nämlich Schleiermacher offenes Haus und mochte es gern, wenn sich da auch die akademische Jugend unter seinen Gästen einfand. Als Hallescher Professor hatte er sogar einen Empfangsabend nur für Studenten bestimmt. „Ich weiß nicht,“ sagte er, „wer mehr dabei gewinnt, sie oder ich; ihnen wird vielleicht manches Dunkle durch diese freie Unterhaltung aufgehellt und sie gewinnen an Vertrauen. Ich aber gewinne dadurch offenbar einen sicheren Tact für meine Vorträge und weiß genauer, wie ich mir die besseren unter meinen Zuhörern zu denken habe, welches ihre Fähigkeiten und welches ihre Bedürfnisse sind. Dadurch gewinne ich auch an Muth, und so erweitert sich mir mit jedem Jahr die Bahn, die ich noch zu durchlaufen habe.“

Schleiermacher war eine durchaus gesellige Natur, trotz seiner „Monologe“ so wenig monologisch, daß er es als seine Ueberzeugung aussprach: „Wie abgerissen und elend würde eine Existenz sein, wenn man nicht durch, in und mit besseren Menschen leben könnte!“ und sich selbst eine „mehr sprechende, als schreibende Natur“ nannte. So hat er mannigfaltige Freundschaften gepflegt, so ließ er auch oft und gern die verschiedenartigen Anregungen einer bunten Gesellschaft auf sich einwirken. Und wie sprudelte es da von seinen Lippen, wie glänzten die lebhaften Augen, wie energisch gesticulirten die kleinen Hände durch die Luft, wenn er unter den Bekannten saß!

Schleiermacher war ein ausgezeichneter Gesellschafter. Sichtlich war sein Behagen, sich in Gesellschaft als Mensch unter Menschen wohl fühlen zu können, und von diesem Wohlgefühl ging etwas über auf Jeden, der ihm nahe kam. Er halte den „Tact des Herzens“, das sichere Gefühl für das, was dem Andern wohlthun oder ihn verletzen könnte. Mit Virtuosität ging er auf die fremdartigsten, ihm ganz fernliegenden Verhältnisse ein, er hatte Sinn für die leisesten persönlichen Beziehungen, er fand für Alles neue Gesichtspunkte und wußte sich und seine Umgebung für das Unscheinbarste zu interessiren, er sah mit seinem Meister Spinoza „im Alltäglichen das Höchste“.

Wenn Archenholz vom Philosophen fordert, im „Gewühl des Marktes und unter Geschrei der Krämer philosophiren zu können,“ so war Schleiermacher auch in dieser Beziehung Philosoph. In lebhaftester Gesellschaft trat er manchmal plötzlich seitwärts und stand still versunken oft zehn Minuten lang am Ofen, die beiden Vorderfinger an das linke Auge gelegt, wie er bei tiefem Nachdenken immer that. Man kannte diese Momente und ließ ihn ruhig gewähren, wußte man doch, daß, was die Gesellschaft in diesen Augenblicken des Versunkenseins von seiner Unterhaltung entbehrte, sie in der Predigt des nächsten Sonntages reichlich wiedererstattet erhalten würde. Schleiermacher fing nämlich schon am Montag an, die Predigt des nächsten Sonntages zu überdenken und im Kopfe auszuarbeiten – seine schriftlichen Notizen dazu waren ganz kurz – und dies geschah ebensowohl in der Einsamkeit des Studirzimmers, als im Geplauder einer Abendgesellschaft. Wurden vielleicht seine Predigten „von der Gesellschaft“ so gut verstanden, weil sie zum Theil in der Gesellschaft entstanden waren?

Seine Predigten! Sie waren so einzig, wie seine akademischen Vorträge. Vierundzwanzig Jahr lang zog er Tausende und aber Tausende mit seinem wunderbaren Worte in die früher oft leergebliebenen Räume der Dreifaltigkeitskirche. Wer Schleiermacher nicht predigen hörte, wird in den gedruckten Predigten nur eine schwache Ahnung ihrer außerordentlichen Wirkung haben. So wie Schleiermacher hat seit seinem Tode kein Prediger wieder in Berlin gepredigt und Keinem ist es gelungen, ein Publicum zu sammeln, wie er es vermochte. Leute aller Stände hat er zu seinen Füßen gefesselt, aus „gebildeten Verächtern der Religion“ fleißige Kirchgänger gemacht – ohne Eifern über Weltlust und schlechten Kirchenbesuch!

Allsonntäglich kamen sie gezogen, die Schaaren der Männer und Frauen, Jedermann sucht den gewohnten Sitz, grüßt den gewohnten Nachbar, festlich stille Erwartung liegt auf der dichten Versammlung. Noch ehe der Gesang schweigt, steigt er empor zur Kanzel, der kleine Mann, der aussprechen soll, was die vielgestaltige Menge da unten bewegt, dessen eigentlicher „Beruf es ist,“ wie er selbst sagt, „klarer darzustellen, was in allen ordentlichen Menschen schon ist, und es ihnen zum Bewußtsein zu bringen.“

Sein Auge schweift ruhig über die Versammlung, ein feines, freundliches Lächeln zuckt um seine Lippen, – er findet seine Getreuen gegenwärtig. Wie ein Kirchenvater steht er droben auf der Kanzel und mit wahrhaft „biblischer Zunge“ verkündet er seine quellenden Lebensworte. Es ist sehr richtig, was einer seiner Zuhörer ausgesprochen hat: „Wer in die persönliche Nähe des Mannes gerieth und die Gewalt seiner Beredsamkeit über sich ergehen ließ, der wurde durch ihn auf wunderbare Weise zum Christenthum bekehrt oder in ihm befestigt.“

Und allerdings, es lag ein seltener Zauber in seinen Worten. Nie erschien er auf der Kanzel als der Senator, der die Offenbarung proclamirt, immer war er der Tribun des Volkes, der in dessen Namen sich erhebt, um das geheimnißvolle Buch des Lebens zu entsiegeln. Schmetternd klang seine Stimme, wenn er sein Veto ausrief über alle Gesetze der Welt, wenn sie von Außen kamen oder die Ueberlieferung sie brachte. Der sinnende, stillberechnende Blick seines Auges leuchtete dann wie ein zündender Blitz, die kleine Gestalt des Mannes schien aus sich selbst herauszuwachsen, wenn er sich über den Rand der Kanzel bog, um einen Jeden an’s Herz zu klopfen und auch im felsenfesten Unglauben die Quelle des Lebens zu entriegeln.

Mächtig zündend habe ich Schleiermacher hundertfach sprechen hören, doch nie so unvergeßlich schön und innig, als am Grabe seines neunjährigen Sohnes Nathanael. Wie Abraham hatte er lange gehofft auf einen Sohn, und diesen einen, den er unendlich lieb hatte, nahm ihm der Herr wieder.

Wie hatte er jubelnd die Geburt dieses Sohnes seinen Freunden gemeldet, in seiner frommen Freude in diesem kostbaren Geschenk „nur eine neue Aufforderung gefunden, sich selbst stets zu veredeln“; wie hatte er sorgsam seine Erziehung geleitet, wie reich war nun sein Familienleben geworden, als es neben Frau und [656] Töchtern auch einen Sohn einschloß! Er lebte so ganz in seinem häuslichen Glück, daß er wohl sagen konnte, „er gehe in seinen Arbeiten und seinem Hause ganz auf, es liege darin eine große Glückseligkeit, aber auch eine Mißlichkeit; denn in der Arbeit unterbreche ihn oft das Gefühl von Frau und Kindern, und mitten unter diesen schwärme ihm auch wieder die Arbeit im Kopfe herum.“ Dieses Glück erhielt mit dem Tode Nathanael’s seinen ersten und mächtigsten Schlag.

Schleiermacher’s Schmerz war gewaltig, aber er bekämpfte ihn auch gewaltig: eine wunderbare Weisheit, eine mildlächelnde Wehmuth war über sein ganzes Wesen gebreitet; so innig, so selig traurig blickten seine Augen. Es wurde Jedem heilig zu Muthe, der in diesen Tagen des Schmerzes Schleiermacher nahe kam.

Er geleitete seinen Sohn hinaus zur Ruhestätte; eine große Anzahl von Freunden Schleiermacher’s, seine übrigen Kinder, die Lehrer und Mitschüler Nathanael’s waren im Trauerzuge.

Der Vater stand am Sarge seines einzigen Sohnes, ihm die Grabrede zu halten. Seine Lippen zuckten schmerzlich, aber energisch legte sie der nach Fassung ringende Mann aufeinander, mir unendlicher Milde blickte er um sich, lautlose Stille entstand, – da rang sich leise das erste Wort von dem bekümmerten Herzen des Vaters und er begann jene einzige Rede, die in wunderbarer Mischung den Christ, den Vater, den Seelsorger der versammelten Gemeinde zeigt.

„Meine theuern Freunde, die Ihr hierher gekommen seid, um mit dem gebeugten Vater am Grabe des geliebten Kindes zu trauern! Ich weiß, Ihr seid nicht gekommen in der Meinung, ein Rohr zu sehen, das vom Winde bewegt wird. Aber was Ihr findet, ist doch nur ein alter Stamm, der soeben nicht bricht von dem einen Windstoß, der ihn plötzlich aus heiterer Höhe getroffen hat. Manch’ schwere Wolke ist über das Leben gezogen, aber was von außen kam, hat der Glaube überwunden, was von innen kam, hat die Liebe wieder gut gemacht; nun aber hat dieser eine Schlag, der erste in seiner Art, das Leben in seinen Wurzeln erschüttert. Ach, Kinder sind nicht nur theure, von Gott anvertraute Pfänder, für welche wir Rechenschaft zu geben haben, nicht nur unerschöpfliche Gegenstände der Sorge und der Pflicht, der Liebe und des Gebetes, sie sind auch ein unmittelbarer Segen für das Haus; sie geben leicht ebensoviel, als sie empfangen, sie erfrischen das Leben und erfreuen das Herz. Ein solcher Segen war nun auch dieser Knabe für unser Haus. Ja, wenn der Erlöser sagt, daß die Engel der Kleinen das Angesicht seines Vaters im Himmel sehen, so erschien uns in diesem Kinde, als schaue ein Engel aus ihm heraus, die Freundlichkeit unseres Gottes. Als Gott mir ihn gab, war mein erstes Gebet, daß väterliche Liebe mich nie verleiten möge, mehr von dem Knaben zu halten, als recht sei, und ich glaube, der Herr hat mir das gegeben. – Als ich ihm den Namen gab, den er führte, wollte ich ihn durch denselben nicht nur als eine theure, willkommene Gottesgabe begrüßen, sondern ich wollte dadurch zugleich den innigen Wunsch ausdrücken, daß er werden möge wie sein biblischer Namensahn, eine Seele, in der kein Falsch ist, und auch das hat mir der Herr gegeben. – Alle Hoffnungen, die auf ihm ruhten, liegen hier und sollen eingesenkt werden mit diesem Sarge. Was soll ich sagen? Es giebt einen Trost, den auch mir manch’ freundlicher Mund in diesen Tagen zugerufen hat; es ist nämlich der, daß Kinder, die jung hinweggenommen werden, doch allen Versuchungen und Gefahren entrückt und zeitig in den sichern Hafen gerettet sind. Diese Gefahren waren gewiß auch dem Knaben nicht ganz erspart; aber doch will dieser Trost nicht recht bei mir haften, wie ich bin, wie ich diese Welt immer ansehe als die, welche durch das Leben des Erlösers verherrlicht und durch die Wirksamkeit seines Geistes zu immer unaufhaltsam weiterer Entwickelung alles Guten und Schönen geheiligt ist.

Warum sollte ich nicht auch für ihn selbst auf die gute und gnädige Bewahrung Gottes hoffen? Auf andere Weise schöpfen viele Trauernde ihren Trost aus einer Fülle reizender Bilder, in denen sie sich die fortbestehende Gemeinschaft der Vorangegangenen und Zurückgebliebenen darstellen, und je mehr diese die Seele füllen, um desto mehr müssen alle Schmerzen über den Tod gestillt werden. Aber dem Manne, der zu sehr an die Strenge und Schärfe des Gedankens gewöhnt ist, lassen diese Bilder tausend unbeantwortete Fragen zurück und verlieren dadurch gar viel von ihrer tröstenden Kraft. So stehe ich denn hier mit meinem Trost und mit meiner Hoffnung allein auf dem bescheidenen, aber doch so reichen Worte der Schrift: ,Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, wenn es aber erscheinen wird, werden wir sehen, wie er ist, und auf dem kräftigen Gebete des Herrn: ,Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die sein sollen, die Du mir gegeben hast? Auf diesen starken Glauben gestützt und von kindlicher Liebe getragen, spreche ich denn von Herzen: Der Herr hat ihn gegeben, der Name des Herrn sei gelobt dafür, daß er ihn gegeben! –

Meine Gattin und ich, wir haben Beide dieses Kind herzlich und zärtlich geliebt, und doch zieht sich durch unsere Erinnerungen an das Leben mit dein geliebten Kinde hier und da ein leiser Ton des Vorwurfs hindurch, und so glaube ich denn, es geht vielleicht Keiner dahin, gegen den Diejenigen, die am meisten mit ihm zu leben hatten, sich, wenn sie sich vor Gott prüfen, vollkommen genügten, wäre auch das anvertraute Leben nur so kurz gewesen wie dieses; darum laßt uns doch uns Alle untereinander lieben als solche, die bald, und ach wie bald! können von einander getrennt werden! – Nun Du, Gott, laß für mich und alle die Meinigen den gemeinsamen Schmerz ein Band womöglich noch innigerer Liebe werden. Gieb, daß auch diese schwere Stunde ein Segen werde für Alle, die da zugegen sind, laß Alle immer mehr zu der Weisheit reifen, die, über das Nichtige hinwegsehend, in allem Irdischen und Vergänglichen nur das Ewige sieht und liebt und in allen Deinen Rathschlüssen auch Deinen Frieden findet!“ –



  1. Unter den Linden war einmal eine Caricatur ausgestellt: wie die „große“ Herz mit dem „kleinen“ Schleiermacher spazieren geht, so nämlich, daß sie ihn in ihrem Strickbeutel mit sich führt, aus dem nur oben der Kopf Schleiermacher’s heraussieht. Die Unterschrift des Bildes hieß: „Die Hofräthin Herz hat sich einen Ridicule angeschafft.“ (Ridicule heißt: „etwas Lächerliches“ und zugleich „ein kleiner Arbeitsbeutel der Frauen“.) Weder Schleiermacher noch die Herz waren dadurch im mindesten verletzt, und Henriette Herz selbst erzählt die Geschichte ganz harmlos in ihren „Erinnerungen“.