Erinnerungen an einen Jüngstgeschiedenen

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Autor: August Kretschmar
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Titel: Erinnerungen an einen Jüngstgeschiedenen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 14, S. 222–224
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Nachruf für Otto Ludwig
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Erinnerungen an einen Jüngstgeschiedenen.

An einem Sommerabend des Jahres 1843 trat ich in eine jetzt nicht mehr vorhandene Restauration der innern Dresdner Straße zu Leipzig. Zu der Gaststube fand ich, außer dem Wirth, nur zwei junge Männer von ziemlich gleichem Alter. Machte der eine durch seine zierliche elegante Erscheinung, sowie durch seine gewählte Ausdrucksweise sofort den Eindruck des weltmännischen Gelehrten, so verrieth dagegen der andere durch sein über die Gebühr langes Haar, durch seine nichts weniger als salonmäßigen Gebehrden und Bewegungen, zugleich aber auch durch seine geistreich-originelle Sprache den genialen Sonderling.

Die beiden Herren unterhielten sich über Musik. Aus den Aeußerungen des Erstern ging hervor, daß er, obschon Musikfreund von feinem Geschmack, doch nicht eigentlicher Musikkenner war, während man dagegen an den Bemerkungen des Zweiten sofort hörte, daß man es in ihm nicht blos mit einem begeisterten Freunde der Musik, sondern auch mit einem gründlichen Kenner, ja vielleicht mit einem ausübenden Jünger dieser Kunst zu thun hatte. Nachdem sie so eine lange Weile miteinander disputirt, bemerkte der Eine, es sei doch eigentlich wohl schade, einen so schönen Abend in der Stube zu versitzen, und der Andere erklärte sich sofort bereit, noch einen Spaziergang um die Promenade herum oder, wie wir Leipziger sagen, „um’s Thor“ zu machen.

Beide empfahlen sich demgemäß freundlich grüßend, und mein Erstes war natürlich, mich bei dem Wirth nach den Namen dieser beiden interessanten Persönlichkeiten zu erkundigen, denn sein cordiales Benehmen gegen sich ließ mich vermuhen, daß sie zur Zahl seiner Stammgäste gehörten. Mit einem gewissen Stolz theilte der Wirth – in seiner Art ebenfalls ein Original – mir mit, der kleinere, elegantere der beiden Herren sei der Privatgelehrte Dr. W., der andere dagegen, der langhaarige Sonderling, der Dichter Otto Ludwig. Dr. W. war mir, wenn auch nicht persönlich, doch aus Bücheranzeigen bereits als schon damals geschätzter Orientalist bekannt, von einem Dichter Otto Ludwig aber hatte ich bis dahin eben so wenig gehört, wie die ganze übrige Welt, mit Ausnahme einiger Journal- und Theaterdirectionen.

Auch ich verließ die Restauration sehr bald und machte in gleicher Weise einen Gang „um’s Thor“. In der Nähe des sogen. Thomaspförtchens angelangt, wollte ich hier in die Stadt einbiegen, als ich, auf einmal die beiden Herren vor dem Bachdenkmale stehen sah, welches vor etwa einem Jahre au dieser Stelle errichtet worden. Beide schienen abermals in einem freundschaftlich-humoristischen Streit begriffen zu sein, welcher sich um die Vorzüge und Mängel des fraglichen Denkmals drehte. Otto Ludwig war trotz seiner Brille ungemein kurzsichtig und wohl überhaupt nicht der Mann, der ihm gleichgültige Personen sonderlich scharf in’s Auge faßte. Doctor W. dagegen erkannte mich, als ich näher kam, sofort wieder, drehte sich lachend nach mir herum und sagte: „Da sehen Sie, Ludwig, hier kommt der Herr, der uns heute Abend schon einmal zugehört hat. Soll ich ihn bitten, unser Schiedsrichter zu sein?“

„Ich bin’s schon zufrieden,“ entgegnete Ludwig in seinem thüringischen singenden Dialekt, indem er sich zugleich das Haar aus den Augen schüttelte.

Doctor W. trug mir nun die von ihm in sophistisch-satirischer Weise angeregte Streitfrage vor, Ludwig suchte mit einigen treffenden und zugleich grundehrlich-gutmüthigen Bemerkungen den von ihm eingenommenen Standpunkt zu rechtfertigen, und ich strebte mich dadurch aus der Affaire zu ziehen, daß ich eine ausweichende Antwort gab, welche gleichwohl beide Theile amusirte und zufrieden stellte. Doctor W. fragte mich hierauf, ob ich geneigt sei, mit ihm und seinem Freunde, den er, eben so wie sich selbst, mir in kurzen Worten vorstellte, noch ein Stündchen in einem nahegelegenen Kaffeegarten zu verplaudern.

Mit Freuden nahm ich den Vorschlag an und noch heute ist mir der mir dadurch gewordene interessante Abend unvergeßlich. Dies war der Anfang einer Bekanntschaft und spätern innigen Freundschaft, welche uns beinahe zwei Jahre lang tagtäglich zusammenführte und die nur durch äußere Ereignisse unterbrochen ward. Doctor W. habilitirte sich an der Universität zu Berlin und bekleidete später einen diplomatischen Posten in Syrien, von welchem er erst vor wenigen Jahren mit einer reichen Ausbeute an Schätzen der orientalischen Linguistik nach Preußen zurückgekehrt ist. Otto Ludwig fand die Ebene von Leipzig auf einmal unerträglich und geisttödtend und begab sich nach einem im Triebischthale bei Meißen romantisch gelegenen Dörfchen, wo er schon früher einmal einige Monate verlebt. Ich blieb in Leipzig.

Otto Ludwig war, wie er mir erzählte, eigentlich zum Kaufmann bestimmt gewesen, hatte sich aber, nachdem er einen trefflichen Schulunterricht genossen, durch Selbststudien immer weiter ausgebildet. Schon als Knabe ein bedeutender phantasiereicher Pianist, hatte er sich später vorgenommen, Componist zu werden, und nach sorgfältigen theoretischen Studien sich auch praktisch vielfach versucht. Der Herzog von Meiningen hatte, durch Kenner und Kunstfreunde auf den genialen Jüngling aufmerksam gemacht, ihm eine für bescheidene Bedürfnisse hinreichende Jahresrente ausgesetzt, um ihm ein geregeltes und systematisches Studium der Tonkunst unter einem bewährten Meister zu ermöglichen. So war Ludwig nach Leipzig gekommen, um sich unter Mendelssohn-Bartholdy für den erwählten Beruf auszubilden.

Wie lange, mit welchem Eifer und welchem Erfolg Ludwig den Unterricht des berühmten Regenerators der Leipziger Gewandhausconcerte benutzte, kann ich nicht angeben, ich weiß blos, daß er zu der Zeit, wo ich ihn kennen lernte, der Musik als Lebensaufgabe gänzlich Valet gesagt und sich ausschließlich der Dichtkunst, namentlich der dramatischen, zugewandt hatte. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß er nicht noch mit Liebe an der edlen Musica gehangen, oder die ausübende Fertigkeit verloren gehabt hätte. So oft er zu mir kam, lenkte er mit der Frage: „Ist es erlaubt?“ aber ohne die Antwort darauf abzuwarten, seine Schritte zunächst nach dem Flügel, öffnete denselben, setzte sich, oft ohne Hut und Ueberzieher abzulegen, und begann zu phantasiren, daß ihm der Schweiß von der Stirne troff, ohne daß es ihm in seinem Eifer eingefallen wäre, sich der ihm unter solchen Umständen so beschwerlichen Kleidungsstücke zu entledigen. Machte man ihn endlich darauf aufmerksam, so blickte er erst unwirsch, dann gutmüthig lachend empor, warf die schweißtreibenden Hemmnisse ab und stürzte sich mit frischer Kraft in die Wogen der Töne. Stundenlang habe ich ihm oft so zugehört und, während mir dieser Genuß beschieden war, zugleich innig beklagt, daß diese herrlichen, oft meisterhaft durchgeführten musikalischen Gedanken im engen Bereiche meines Zimmers verhallten und für die ganze übrige Welt verloren gingen.

Noch tiefere Trauer beschlich mich über den Verlust eines so seltenen musikalischen Schöpfungstalentes, als Ludwig mir bei dem ersten Besuche, den ich ihm machte, seine Compositionen zeigte. Es waren dies, außer einer Menge kleinerer Piècen, wenigstens acht bis neun vollständig ausgearbeitete Opernpartituren. Die Texte dazu hatte er sich ebenfalls selbst geschrieben. Erstaunt fragte ich ihn, ob er diese Arbeiten noch nicht einer Theaterdirection oder einem Musikalienhändler vorgelegt habe. Dr. W., der dabei zugegen war und schon oft seinen Freund angestachelt hatte, seine Arbeiten zu verwerthen, drang auch jetzt wieder vereint mit mir in ihn; aber Ludwig schüttelte blos sein langhaariges Haupt und sagte:

„Nein, es geht net. Die Sachen gefallen mir net mehr. Ich müßt’ sie erst noch mal umarbeiten und dazu Hab’ ich kei’ Lust.“

Was aus diesen Compositionen, den Erzeugnissen von hunderten durchwachter Nächte, die jedenfalls den Grund zu Ludwigs [223] schon damals zu ernsten Besorgnissen Anlaß gebender Kränklichkeit gelegt hatten, geworden ist, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat er sie, wie so manches andere seiner Geistesproducte, das ihm selbst nicht genügte, in einer Anwandlung von Spleen in’s Feuer geworfen. Dagegen beruhte seine ganze Hoffnung auf Ruhm und Erwerb damals auf seinen dramatischen Arbeiten. Er hatte deren seit einiger Zeit zwei vollendet und war so freundlich, sie mir zum Lesen zu geben.

Die erste war ein fünfactiges Schauspiel, welches unter dem Titel: „Der Engel von Augsburg“ die bekannte Geschichte der Agnes Bernauer zum Gegenstand hatte. In blühender, edler Sprache geschrieben und an poetischen Schönheiten fast überreich, war es meiner Ansicht nach würdig, den besten Erzeugnissen, welche unsere Literatur auf diesem Gebiete besitzt, beigezählt zu werden. Auf Antrieb des Dr. W., der überhaupt unablässig bemüht war, Ludwig zu einer energischeren Geltendmachung seines eigenen Werths aufzurütteln, hatte dieses Schauspiel schon bei einigen Bühnendirectionen die Runde gemacht, allein Niemand wollte von dem „Engel von Augsburg“ etwas wissen. Wer war auch Ludwig? Und wie konnte er erwarten, daß man mit den Erstlingen eines begabten Dichters experimentire, so lange das deutsche Theater noch von seinen gleichsam fest angestellten Lieferanten mit dein beliebten Mittelgute versorgt ward?

Ein gleiches Schicksal hatte das zweite Stück, ein Lustspiel unter dem Titel: „Hans Frei“. Es war eine in wunderschönen gereimten Versen geschriebene reizende Idylle, welche, gut dargestellt, die Gunst und den Beifall des Publicums unbedingt im Fluge hätte erobern müssen. Ebenso aber, wie der „Engel von Augsburg“, kehrte auch „Hans Frei“ von seinen Wanderungen stets wieder heim, ohne irgendwo gastliche Aufnahme gefunden zu haben. Oft sah man an der innern Verpackung des Manuskripts ganz deutlich, daß es gar nicht geöffnet und folglich auch nicht gelesen worden war. Einer jetzt, nach Ludwig’s Tode, veröffentlichten Zeitungsnotiz zufolge ist dieses Stück von einer Stelle, an die es ebenfalls versendet worden, gar nicht wieder zu erlangen gewesen und somit wohl als für immer verloren zu betrachten. Es ist mir, als sähe ich es jetzt noch vor mir liegen. Es war von einem Kalligraphen sehr sauber auf ganze Bogen abgeschrieben und in graumarmorirte Pappe gebunden.

Einen höchst eigenthümlichen Anblick bot Ludwig stets, besonders aber dann dar, wenn man ihn bei der Arbeit überraschte. In eine fast undurchdringliche Wolke von Tabaksdampf gehüllt, saß er tief über den Tisch gebeugt, mit einem um Stirn und Hinterkopf geknüpften Bindfaden, weil sonst sein lang herabfallendes Haar ihn am Sehen gehindert und das Geschriebene fortwährend verwischt haben würde. Dabei arbeitete er höchst unregelmäßig, zuweilen wochenlang gar nicht, oder kaum eine Stunde des Tages, wie nun eben sein körperlicher Zustand es gestattete.

Eines Tages, als ich gegen Abend bei ihm eintrat, saß er unbeweglich auf einem in der Mitte des Zimmers frei stehenden Stuhle und rief mir flüsternd zu, daß ich nicht näher kommen, sondern an der Thür stehen bleiben möchte. Da ich seine wunderlichen Launen kannte, so kehrte ich mich natürlich an dieses Verbot nicht, sondern ging stracks auf ihn zu. Mit im ersten Augenblick unwilliger, dann aber sofort wieder freundlicher Miene erhob er sich und sagte, nun hätte ich den Zauber gestört und es sei ihm dies gewissermaßen selbst lieb. Er hätte nämlich, setzte er hinzu, seit länger als sechs Stunden so dagesessen, weil plötzlich eine Schaar von Liliputern oder winzigen Gnomen aus der Diele hervorgekommen, an seinen Füßen und Beinen emporgeklettert sei und sofort begonnen habe, auf seinen Knieen einen Thurm zu bauen, der bei meinem Eintritt schon ziemlich bis an die Decke des Zimmers emporgereicht habe. Natürlich habe er, um das Werk nicht zu stören, weder Hand noch Fuß zu rühren gewagt.

Dergleichen sonderbare Marotten, welche Jedem, der ihn nicht kannte, Zweifel an seinem Verstand eingeflößt haben würden, waren bei ihm nichts Seltenes, ohne jedoch für die Klarheit seines Denkens auch nur die mindeste nachtheilige Wirkung zurückzulassen. Mir, dem an regelmäßige Thätigkeit und bestimmte Arbeitsstunden Gewöhnten, kamen seine oft zu sehr außerordentlichen Tageszeiten stattfindenden Besuche zuweilen ein wenig ungelegen. Ich sah mich deshalb nothgedrungen, einmal eine kleine Andeutung hierüber fallen zu lassen. Diese aber genügte vollkommen, und nie setzte er seinen Fuß wieder über meine Schwelle zu andern Zeiten als solchen, wo er wußte, daß er mich nicht störte. Niemand konnte ängstlicher als er bedacht sein, der persönlichen Freiheit und den Lebensgewohnheiten eines Andern nie den mindesten Zwang anzuthun.

Eine ganz besondere Vorliebe besaß er für witzige Anekdoten und war im Erzählen solcher geradezu unerschöpflich. Ich hatte früher geglaubt, auf diesem Felde ebenfalls etwas zu leisten, mußte aber, nachdem ich Ludwig kennen gelernt, mir selbst gestehen, daß ich ihm auch in diesen Allotriis, wie man zu sagen pflegt, nicht das Wasser reichte. Oft machten wir, Dr. W. und ich, es uns zum Spaß, bei irgend einem Gegenstände der Unterhaltung ihn zu fragen: „Wie war doch gleich die Anekdote, die Sie einmal hierüber erzählten?“ Es war dies natürlich von unserer Seite blos ein harmloses Vorgeben, um ihn in Verlegenheit zu bringen. Dies gelang uns aber nie, denn nach kurzem Besinnen sagte er allemal: „Ach, das wird die gewesen sein!“ und dann erzählte er eine Anekdote über den fraglichen Gegenstand, mochte derselbe nun sein, was für einer es immer wollte.

Sein geistiges Schaffen war schon damals in der Idee als abgeschlossen zu betrachten, wenigstens hat er in der Folgezeit nichts gedichtet, was mir nicht nach seinen natürlich nur in großen Umrissen gemachten Miltheilungen noch vor der Ausarbeitung bekannt gewesen wäre. Zu Allem, was ihn später auf einmal so bekannt und berühmt machte, zu dem „Erbförster“, dem Roman „Zwischen Himmel und Erde“, zu den „Malkabäern“, den „Thüringer Naturen“ etc. trug er die Entwürfe bereits fertig mit sich im Kopfe herum, und Dr. W. wird sich, wenn er dies lesen sollte, jedenfalls noch recht wohl erinnern, wie oft diese Entwürfe der Gegenstand unserer Unterhaltung mit dem genialen Freunde waren.

Nach seinem Weggange von Leipzig besuchte ich ihn einmal in seinem geliebten Triebischthale. Es war gegen zehn Uhr Morgens, als ich die Hammermühle, in der er seine Wohnung genommen, erreichte. Ich fragte die Arbeiter, die jedenfalls schon seit vier oder fünf Uhr auf den Füßen waren – es war im Monat Juli – nach seinem Zimmer. Die rußigen Gesellen fletschten lachend die weißen Zähne und sagten, ich würde ihn jedenfalls noch im Bett finden. Und so war es auch. Er lag, als ich bei ihm eintrat, in festem Schlaf und nachdem ich ihn geweckt und von ihm, wie immer, freundlichst bewillkommnet worden, erzählte er mir, daß er am Abend vorher nach seiner Gewohnheit in Wald und Flur umhergestreift sei, dann die Nacht hindurch gearbeitet und sich mit Tagesanbruch zu Bett gelegt habe. Sein körperliches Befinden hatte sich, wie auch sein Aussehen bewies, bedeutend gebessert. Da ich ihn nur wenige Stunden widmen konnte, so begleitete er mich zurück bis auf das Buschbad und hier schieden wir auf lange Zeit.

Erst nach elf Jahren, im Sommer 1856 sah ich ihn wieder. Er hatte sich mittlerweile verheirathet und seinen Wohnsitz in Dresden genommen. Auf mein Klingeln in seiner abgelegen in einem Garten der Vorstadt stehenden Wohnung ward mir die Thür von einem blühenden, etwa sechsjährigen Knaben geöffnet, den ich wenigstens nicht erst zu fragen brauchte, ob Otto Ludwig hier wohne, denn seine Züge waren ganz die des Vaters.

Der Knabe führte mich in ein kleines Zimmer, in welchem ich über eine Viertelstunde warten mußte, ehe mein alter Freund zum Vorschein kam. Sein Aussehen war, als er endlich eintrat, von der Art, daß ich förmlich darüber erschrak. Obschon erst ungefähr zweiundvierzig Jahr alt, machte er doch den Eindruck eines Siebzigers. Mit völlig ergrautem Barte, skeletartig abgemagert, krumm und gebeugt, schaute er mich hinter seiner Brille hervor aus seinen hohlen Augen mit einem Ausdruck an, der mir in’s tiefste Her schnitt.

„Kennen Sie mich noch?“ fragte ich, ihm die Hand bietend.

Er sah mich, noch eine Weile forschend an und rief dann mit freudigen Ausdruck: „Ah, das ist ja der Kretzschmar! Na, da kann ich gleich erst mei’ Pfeif’ holen.“

Und mit diesen Worten ließ er mich stehen und entfernte sich, um bald darauf mit der ihm nun einmal unentbehrlichen Tabakspfeife wiederzukommen. Wir setzten uns und begannen traulich zu plaudern, wie in alten Zeiten. Ich war damals kürzlich von einer Reise nach England und Frankreich zurückgekehrt und wußte daher mancherlei zu erzählen, was ihn, interessirte. Sein reger Geist und sein liebenswürdiges Gemüth schienen, so viel ich aus seinem Gespräch abnehmen konnte, durch die Leiden des Körpers [224] nicht beeinträchtigt worden zu sein. Später aber, als er nur endlich gestattete, seine zeitherigen Erlebnisse zum Gegenstand des Gesprächs zu machen, klagte er sehr, daß ihm das Arbeiten schwer, ja oft längere Zeit geradezu unmöglich werde.

Meine Frage, ob er nicht Lust habe mich auf einem Spaziergang durch die Stadt oder sonst wohin zu begleiten, beantwortete er lächelnd mit Nein und erklärte, daß er seine Wohnung fast gar nicht mehr verließe. Selbst ins Theater, wo man ihm einen ihm völlige Ungestörtheit bietenden Freiplatz eingeräumt hätte, käme er nicht. „Ich kann’s net vertragen,“ waren die Worte, wodurch er diesen Verzicht auf allen Umgang mit der äußern Welt motivirte.

Als ich nach etwa zweistündigem Verweilen bemerkte, daß – obschon er in seiner grenzenlosen Gutmüthigkeit es nicht gestehen wollte – ihm nicht blos das Sprechen, sondern auch das Hören beschwerlich fiel, erhob ich mich und schied mit dem Versprechen, ihn bald wieder zu besuchen. Ich habe ihn aber nicht wiedergesehen. Doctor W., der nach seiner Rückkehr aus Syrien unsern alten Freund ebenfalls besuchte, theilte mir auf der Durchreise durch Leipzig mit, daß er ihn, wie ich, nicht blos körperlich, sondern auch in einem gewissen Grade an geistiger Stumpfheit leidend gefunden. Er sei deshalb überzeugt, daß man ihm keine größere Wohlthat erzeigen könne, als wenn man ihn völlig ungestört ließe, denn selbst die Freude über den Anblick eines lieben Gesichts müsse bei seiner überaus großen Schwäche nachtheilig auf ihn wirken.

Oft bin ich seit jenem Tage wieder in Dresden gewesen, aber nie mehr mochte ich Ludwig in seiner Abgeschiedenheit stören. Ich zog es vor, mich durch dritte Personen nach seinem Befinden zu erkundigen. Die Nachricht von seinem Heimgang erschütterte mich tief, dennoch aber pries ich das Geschick, das dem edlen hohen Geiste endlich die Fesseln irdischen Siechthums abgenommen hatte.

Nur wenige sind der Werke, die dem Dichter zu schaffen vergönnt waren, diese wenigen aber sind in ihrer Art unübertroffene, glänzende Perlen unserer Literatur.[1]
August Kretzschmar.

  1. In der nächsten Zeit werden wir ein ausführliches Lebensbild des Dichters mit dessen Portrait veröffentlichen. D. Red.