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Fürst Arno

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Textdaten
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Autor: Ernst Eckstein
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Titel: Fürst Arno
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aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 572–578
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[572]

Fürst Arno.

Novellette von Ernst Eckstein.

Baron Brüggstorm, der Ceremonienmeister Seiner Durchlaucht des regierenden Fürsten Arno von Gleiberg, atmete schwer und tief. Er befand sich im Zustand einer ganz ungewöhnlichen Aufregung. Die Arme straff über der Brust gekreuzt, die Stirne mißmutig gerunzelt und die Nüstern gebläht, so wandelte er im hochroten Ecksaal des Residenzschlosses auf und nieder, während Fürst Arno drüben im Arbeitsgemach den langwierigen Vortrag seines Premierministers entgegennahm.

Baron Brüggstorm hatte gestern in später Abendstunde eine verblüffende Nachricht empfangen. Der Geheimrat Stirlay, Mitglied der ersten Kammer, Direktor des fürstlichen Familienarchivs und Vorsitzender des Konservativen Klubs, hatte ihm beim Verlassen der Breslauerschen Villa im Ton herbster Mißbilligung erzählt, der neue Inhaber des Schlossergeschäfts Bergstraße Numero Zwanzig, der vor etlichen Tagen von Frankfurt nach Gleiberg übergesiedelt war, zeichne sich durch eine merkwürdige, geradezu peinvoll berührende Eigenschaft aus … Er sehe nämlich dem Fürsten so überraschend ähnlich, daß die banale Redensart „wie ein Ei dem andern“ hier sich von selbst auf die Lippen dränge. Der Ausdruck natürlich und die gesamte Art des Gebahrens lasse den Abstand erkennen, der den „ungebildeten Handwerker“ von dem „erhabnen Staatsoberhaupt“ trenne. Immerhin bleibe noch so viel Uebereinstimmung übrig, daß die Sache sehr wohl geeignet sei, die loyale Bevölkerung der fürstlichen Haupt- und Residenzstadt in ihren heiligsten Empfindungen zu verletzen, während sie anderseits den staatsfeindlichen Elementen, die leider auch schon in Gleiberg die giftigen Natternköpfe erhöben, eine nur allzu erwünschte Handhabe liefern möchte für die Betreibung ihrer schmachvollen antimonarchischen Wühlereien.

Der Zufall wollte, daß der Baron Brüggstorm gleich heute in aller Frühe die Gelegenheit fand, sich von der Thatsache dieses Naturspiels zu überzeugen. Er hatte um zehn Uhr vormittags bei seinem Bankier auf der Bergstraße zu thun und kam gerade in demselben Augenblick an dem Grundstücke Numero Zwanzig vorüber, als der Schlossermeister – Fritz Warnack, wie das mächtige Schild über dem Eingang besagte – aus der Thür seines Hauses langsam ins Freie trat. Es war just Frühstückspause und der fleißige Mann benutzte die paar Minuten, die ihm nach Einnahme des Imbisses noch erübrigten, um hier, die Hände unter dem Schurzfell, ein bißchen Luft zu schnappen.

Der Ceremonienmeister Baron Brüggstorm fühlte, wie ihm das Herz vor Schreck beinahe stille stand. Er bemerkte auch, daß ein großer Teil der Vorübergehenden die Erscheinung des neuen Mitbürgers mit ganz ähnlichem Starren und Staunen musterte wie er selbst. Das war in der That das leibhaftige Ebenbild Seiner Durchlaucht; etwas gröber und minder aristokratisch, ja; aber doch unverkennbar in jeder Linie. Die nämliche hohe, intelligente Stirn, das kluge, freundliche und doch so energische Auge, die vornehme, edelgeschnittene Nase und vor allem der prächtige braune Vollbart. Das alles litt nicht einmal wesentlich unter dem Ruß, der hier und da seine Spur hinterlassen hatte. Wenn man diesen Schlossermeister Fritz Warnack in die fürstliche Gala-Uniform steckte! … Baron Brüggstorm schauderte, als er sich eingestehen mußte, daß in diesem Fall die Möglichkeit einer Verwechslung absolut nicht zu leugnen war. Natürlich nur auf den ersten Augenblick, oder doch nur, solange der Schlossermeister nicht sprach; denn jetzt, wie Fritz Warnack dem Briefträger ein paar Worte über die Straße zurief, war die auffällige Aehnlichkeit augenblicklich verringert! Der Mann redete einen wuchtigen, für das Ohr des Gleiberger Ceremonienmeisters höchst unharmonisch klingenden Dialekt, während sich Seine Durchlaucht nur im korrektesten Hochdeutsch vernehmen ließen und überdies ein weit reineres und volleres Organ besaßen!

Gleichviel! Die Sache war und blieb in den Augen des Ceremonienmeisters eine Art unfreiwilligen Majestätsverbrechens. Wie betäubt eilte er weiter, seine eigenen Obliegenheiten unter dem Eindruck dieser Fatalität schier vergessend. Eins stand ihm fest wie ein Grundgesetz: die Aehnlichkeit zwischen dem Landesherrn und einem ganz gewöhnlichen Schlossermeister, der noch dazu nicht einmal im Besitze der Gleiberger Staatsangehörigkeit war, konnte und durfte nicht fürderhin obwalten! Irgend etwas mußte geschehen, um diesem unerträglichen Mißstand ein Ende zu machen. In so gefährlichen Zeitläuften wäre es ein vernunftwidriger Frevel gewesen, wenn man nicht alles gethan hätte, um das Ansehen des monarchischen und vaterländischen Gedankens um jeden Preis aufrecht zu halten.

Baron Brüggstorm beschloß, Seiner Durchlaucht die beklemmende Angelegenheit sofort zur Kenntnis zu bringen und mit dem allverehrten Landesherrn selbst zu beraten, welcherlei Maßregeln hier zu ergreifen seien. Im Residenzschlosse angelangt, fand er jedoch Seine Durchlaucht beschäftigt. Die Vorträge hatten diesmal besonders früh ihren Anfang genommen und würden voraussichtlich bis zur Stunde der Tafel dauern. So schritt denn Baron Brüggstorm in dem hochroten Ecksaal des Schlosses unmutig auf und ab und übersann die Geschichte nochmals nach allen Richtungen, bis er dann plötzlich stehen blieb und sich mit den Fingern der rechten Hand flach wider die Stirn schlug.

Ja! So wollte er’s machen! Selbstredend! Das war noch bei weitem einfacher und in gewisser Beziehung auch zartfühlender, als wenn er den Fürsten persönlich mit der unerbaulichen Sache belästigte. Daß er, der sonst so scharfsinnige Brüggstorm, nicht gleich im ersten Augenblick an diese Form der Lösung gedacht hatte! Nun, es war ja noch nichts versäumt! Also ohne Verzug ans Werk! Und wenn die Geschichte dann glatt und geräuschlos geordnet war, dann gab es wohl Mittel und Wege, Seine Durchlaucht nachträglich von der Aufmerksamkeit und Gewandtheit höchstihres Ceremonienmeisters gebührend in Kenntnis zu setzen!


Um seinem Auftreten etwas recht Offizielles und Feierliches zu geben, ließ der Baron, trotz der geringen Entfernung, seinen wappengeschmückten Landauer anspannen. Es schlug gerade halb Zwölf, als die zwei prachtvollen Rappstuten am Eingang des Schlossergeschäfts in der Bergstraße Halt machten.

Den Kopf mit einiger Selbstgefälligkeit in den Nacken gelegt, den schmalen Mund vornehm gekniffen, wandelte Brüggstorm würdevoll in den Laden. Hier stand eine sehr hübsche Verkäuferin, die unter anderen Verhältnissen der lebhaften Teilnahme des Herrn Ceremonienmeisters sicher gewesen wäre. Jetzt aber unterdrückte er das rein Menschliche und kehrte ausschließlich den fürstlichen Hofbeamten, den Mann von Welt, den glänzenden Aristokraten heraus. Mit schnarrender Stimme fragte er nach dem Schlossermeister [574] Fritz Warnack, mit dem er in einer wichtigen Angelegenheit persönlich zu sprechen habe, und nickte herablassend, als sich das Mädchen freundlich beeilte, den Gewünschten herbei zu holen.

Mit höflichem aber nicht gerade unterthänigem Gruße trat Fritz Warnack aus einer Seitenthüre. Er trug noch immer die Spuren der Werkstatt im Antlitz; das Haar hing ihm ein wenig wüst um die Stirne; die linke Hand hielt er nach seiner Gewohnheit im Bausche der Lederschürze.

„Sie sind Herr Warnack?“

„Der bin ich,“ versetzte der Schlossermeister, noch immer artig, obschon ihn die etwas geschraubte Sprechweise des Hofbeamten heimlich verdroß. „Womit kann ich dem Herrn dienen?“

„Mein verehrter Herr Warnack,“ näselte Brüggstorm, „wenn Sie ein paar Minuten Zeit hätten, möchte ich eine diskrete Privatangelegenheit ganz unter vier Augen mit Ihnen erörtern … Paßt’s Ihnen jetzt?“

„Bitte, wollen Sie mit hinaufkommen!“

Der Schlossermeister schritt langsam voran. Brüggstorm folgte.

Als sie dann droben allein waren und der Baron sich mit erkünstelter Nachlässigkeit in den hochlehnigen Großvaterstuhl gesetzt hatte, während Fritz Warnack sich erwartungsvoll einen Korbsessel heranschob, da entstand nach den ersten gleichgültigen Redensarten eine beklommene Pause. Der Schlossermeister, der den Baron nicht kannte, witterte eine Schererei mit der Stadtbehörde, die ihm schon vor seiner Uebersiedlung mancherlei Schwierigkeit in den Weg gelegt hatte; Brüggstorm, sonst ein so altbewährter Meister der Phrase, suchte mit wachsender Unsicherheit nach dem geeigneten Ton, bis er dann endlich mit der nicht ganz zutreffenden Bemerkung herausplatzte: „Ich komme im Auftrag Seiner Durchlaucht, unseres allergnädigsten Fürsten.“

„Wahrhaftig?“ rief der andre erstaunt.

„Das heißt,“ fuhr der Baron fort und betrachtete wie zerstreut seine Fingerspitzen, „wenn ich mich hier der Wendung bediene ‚im Auftrag‘, so ist das gewissermaßen schon bildlich geredet. Ich hätte nicht sagen sollen ,im Auftrag’ sondern ,im Sinne’. Durchlaucht haben zunächst keine Kenntnis davon, daß ich hier bei Ihnen vorspreche. Dafern aber meine Verhandlung mit Ihnen zu dem gehofften Ergebnis führt, werde ich Seiner Durchlaucht die Sache erzählen, und Sie dürfen sich überzeugt halten: Durchlaucht werden von meiner Initiative und Ihrem einsichtsvollen Entgegenkommen dankbarst erbaut sein.“

„Da bin ich ja neugierig! Mit wem hab’ ich denn eigentlich die Ehre …?“

„Brüggstorm, Freiherr von Brüggstorm, fürstlicher Ceremonienmeister … Also die Sache ist die. Ich weiß nicht, ob Sie sich jemals mit Staatswissenschaften befaßt haben. So viel aber wird Ihnen wohl auch ohne theoretische Vorbildung klar sein: die Grundlage jeder geordneten Monarchie besteht in der unerschütterten Ehrfurcht der Unterthanen vor dem gekrönten Haupte.“

„Ja, aber wie hängt das mit mir zusammen?“

„Sehr einfach, mein Lieber! Sie wissen doch zweifellos, daß Sie infolge einer sonderbaren Naturlaune unserm allergnädigsten Fürsten ganz außerordentlich ähneln.“

„Muß wohl sein,“ lachte Fritz Warnack; „denn alle Nasen lang krieg’ ich’s zu hören … Und wenn ich so nach den Bildern schätze, die ich gesehen habe … Drüben zum Beispiel im Gastzimmer der ‚Bayrischen Krone‘, da hängt sein Oeldruck. Ueber sich selbst kann man ja schlecht urteilen; aber ich mein’ schon …“

„Die Aehnlichkeit ist geradezu phänomenal!“ rief Baron Brüggstorm nachdrücklich.

„Sehr schmeichelhaft,“ versetzte der Schlossermeister.

„Für Sie, ja, aber nicht für Seine Durchlaucht. Verzeihen Sie, lieber Warnack! Ich will Sie durchaus nicht kränken, und nichts liegt uns da droben am Hofe Arnos des Dritten ferner als eine thörichte Unterschätzung des Mittelstandes. Immerhin werden Sie einsehen … Sie sind und bleiben doch immer ein schlichter Handwerker, der ja gewiß alle Achtung verdient, aber trotz alledem … na, wie soll ich mich ausdrücken? Es hat offenbar etwas Verletzendes, wenn das leibhaftige Ebenbild Seiner Durchlaucht in Bluse und Schurzfell hinter dem Amboß steht oder für einen Fünfer Nägel verkauft … Bitte, lassen Sie mich jetzt ausreden, Herr Warnack! Als Privatmann könnte der Fürst auf diese Aehnlichkeit ruhig und kaltblütig herablächeln; als Souverän aber ist er sich und seiner erhabenen Stellung doch eine etwas veränderte Anschauungsweise schuldig. Ein Fürst steht über dem Volk. Und wie das Gesetz den Monarchen durch Androhung schwerster Strafen gegen Beleidigungen zu schützen sucht, die im gewöhnlichen Leben oft nur mit kleinen Geldsummen gebüßt werden, so ist auch im Punkte des Schicklichen überall da, wo der Fürst mit in Frage kommt, eine gesteigerte Strenge nötig. Kurz und gut: die Aehnlichkeit Seiner Durchlaucht mit einem Schlossermeister scheint mir unerträglich. Da muß also Abhilfe geschafft werden – um jeden Preis!“

„Ja, wie soll das gemacht werden?“ fragte der Schlosser stirnrunzelnd. „Ein lebendiger Mensch ist doch kein Paletot, den man so kurzer Hand umarbeitet!“

„Doch – in gewisser Beziehung! Wenn Sie sich entschließen möchten, Ihren Bart abzunehmen und künftig rasiert zu gehen, so würde ein Hauptmoment dieser fatalen Aehnlichkeit ausgemerzt sein.“

„Na, hören Sie mal! Fatale Aehnlichkeit! Sie sprechen ja gerade, als wär’ ich ein Raubmörder!“

„Wie gesagt, ich will Sie nicht kränken, lieber Herr Warnack. Aber Sie müssen begreifen –“

„Nichts begreif’ ich! Den Vollbart soll ich mir abnehmen? Ja, ich bitt’ Sie, den trag’ ich nun seit meinem zwanzigsten Jahr! Wie käm’ ich dazu, mich jetzt scheren zu lassen und auf einmal herum zu laufen wie ein geroppter Hahn? Meine Frau würde mich schön auslachen!“

„Durchlaucht würden sich ohne Zweifel erkenntlich zeigen … Sie zum Hofschlosser ernennen …“

„Zu viel Ehre! Aber mein Bart ist mir nicht feil. Da bin ich ebenso stolz drauf wie euresgleichen auf seinen Stammbaum.“

„Bedenken Sie wohl, was Sie hier von der Hand weisen! Ein erheblicher Teil der Aufträge, die man bis jetzt Ihrem Konkurrenten am Bohlberg zugewandt hat, würde dann künftig Ihrer Werkstatt anheim fallen.“

„Nee! Was hätt’ ich davon, wenn ich mir sagen müßte: Warnack, Du bist ein Flappch! Und das wär’ ich ja doch, wenn ich so ganz ohne vernünftigen Grund …“

„Der Wunsch Ihres Souveräns – ist das kein vernünftiger Grund?“

„Sie haben doch selbst gesagt, der Fürst weiß gar nichts davon, daß Sie hier zu mir kommen. Und auch so! Kann ich Ihrem Herrn Fürsten sonst mal gefällig sein, mit dem größten Vergnügen. Ich bin kein so grober Flegel, daß ich nicht vorkommenden Falls auf eine hochgestellte Person Rücksicht nähme. Noch dazu, wo man von dem Herrn Fürsten überall Gutes hört! Nur das Bartabscheren, das paßt mir nicht! Soll ich mich gleich in den ersten acht Tagen hier vor der ganzen Stadt lächerlich machen? Von mir selbst und meiner Luise ganz zu geschweigen! Nee, verehrtester Herr Baron! Da müßt’ ich für keine drei Groschen Ehre im Leib haben!“

Der Ceremonienmeister wiegte unmutig den Kopf.

„Ich erlaube mir, Sie darauf hinzuweisen, daß der Arm des Monarchen außerordentlich weit reicht. Wenn Sie auf diese Manier den Spröden und Widerhaarigen spielen, dürften sich Mittel und Wege finden, Ihnen den Aufenthalt hier in Gleiberg stark zu verleiden.“

„Was?“ rief der Schlosser beinahe zornig. „Sie wollen mir drohen? Na, nun bitt’ ich Sie aber! Ich bin ein ehrlicher, freier Mann, der sich vor niemand zu fürchten braucht. Wenn Sie mir so kommen, gut! Dann wollen wir doch mal sehen, ob’s noch ein Deutsches Reich giebt. Ich bin wie ich bin – und so bleib’ ich, und damit Basta! Glaubt sich der Fürst durch diese Aehnlichkeit wirklich so schwer geschädigt, nun, dann mag er doch einfach die Bartschererei an sich selbst vornehmen!“

„Oh, oh, oh!“

„Was ist da zu ohen? Ein freier Entschluß hat nichts Entehrendes. Ich aber soll schmählich gezwungen werden. Und das lass’ ich mir nun mal unter keiner Bedingung bieten.“

Der Ceremonienmeister erhob sich. „Das wäre also Ihr letztes Wort?“

„Jawohl, Herr Baron! Mein allerletztes!“

„Empörend!“ murmelte Brüggstorm durch die gekniffenen Lippen. „Noch einmal, bei allem, was Ihnen heilig ist: überlegen Sie sich’s!“

„Da ist gar nichts zu überlegen! Ich bin kein Zuchthäusler! Ich kann mir den Bart wachsen lassen, wie mir’s beliebt!“

Der Ceremonienmeister neigte ein wenig den Kopf und schritt dann bleich und schwer atmend der Thür zu.

„Empörend!“ wiederholte er noch einmal, als er ins Freie trat.


Etliche Wochen später tummelten sich die beiden Kinder Fritz Warnacks – Karl und Emilie – in der Nähe des Schloßteichs. Es [575] war ein prachtvoller Maitag. Die hundertjährigen Wipfel des fürstlichen Parkes, den Seine Durchlaucht mit Ausnahme eines ganz unbedeutenden Streifens dem Publikum freigab, leuchteten im frischesten Grün; die zahlreichen Beete strotzten von jungblühenden Blumen.

Karl und Emilie trieben sich erst auf dem wenig begangenen Kiespfad herum, der zwischen dem Teich und der künstlichen Anhöhe mit dem Cäcilientempel einherführte. Bald aber lockte die spiegelnde Wasserfläche und die reichquellende Fülle der Seerosen. Die Kinder näherten sich mit wachsender Unternehmungslust dem einsamen Ufer. Hier lag ein Boot, zu dem ein schmaler, auf eingerammten Holzpflöcken ruhender Steg führte. Von diesem Boot aus konnte man sehr bequem in die Blumen hineingreifen. Die blonde Emilie hatte zwar anfangs Bedenken. Jedes Abpflücken hier in dem Schloßgarten war ja streng untersagt. Karl aber meinte, so etwas gelte doch nur von den Beetblumen, nicht von den Wasserrosen, die hier im Teiche wild wüchsen.

Der kecke achtjährige Bube lief also kurzer Hand auf den Steg, kletterte in den zierlichen Kahn und beugte sich weit über den Rand, um eine recht üppige, vollsaftige Blüte vom Stengel zu reißen. Bei dieser Bemühung bekam er das Uebergewicht, stieß einen furchtbaren Schrei aus und stürzte ins Wasser.

Emilie stand wie gelähmt. Sie war unfähig, nur einen Finger zu rühren. In das Gewirre der Seerosen verstrickt, rang der Knabe verzweiflungsvoll, jetzt auftauchend und jetzt wieder untersinkend.

Plötzlich kam eine schlanke Frauengestalt flink und leichtfüßig an dem zitternden Kinde vorbei über den Rasen gewandelt.

„Bleiben Sie nur, liebste Brüning!“ klang ihre wohltönende Stimme, als eine andere – ältere – Dame ihr nacheilen wollte. „Es ist nicht weiter gefährlich! Mein Wort darauf!“

Sie sprang rasch in den Kahn, ohne sich nach ihrer aufgeregten Begleiterin umzusehen. Ihr lichtblaues Gewand wehte wie eine Flagge. Im nächsten Augenblick hatte sie eines der Ruder ergriffen, die in dem Fahrzeug lagen, und es dem eben wieder emportauchenden Knaben geschickt unter den Leib geschoben. Dann half sie ihm mit der Linken vorsichtig über den Bootsrand. Nach wenigen Augenblicken stand Karl Warnack wohlgeborgen am Ufer, wo die laut aufweinende Schwester den Todblassen stürmisch umarmte, ohne in ihrer Gemütsbewegung für die liebreiche Retterin auch nur ein stammelndes Wort zu finden.

„Aber Durchlaucht!“ sagte die ältere Dame und streckte der jüngeren beide Arme entgegen. „Nein, so was! Mir zittern die Knie! Um ein Haar wären Sie übergestürzt! Und wie sich Durchlaucht beschmutzt haben!“

„Kommen Sie nur! Es blieb doch nichts anderes übrig Bitte rasch! Dort bleiben ja schon die Leute stehen. Sie wissen, Verehrteste, ich bin keine Freundin von Scenen …“

Und beide Damen entfernten sich schleunigst.

„Na, Du dummer Junge?“ rief jetzt ein gutmütiger alter Herr und tippte dem noch immer verdutzt dreinschauenden Karl auf die Schulter. „Hast Du Dich denn auch gehörig bedankt? Du weißt wohl gar nicht, wer das gewesen ist? Nicht? Ach so, ihr seid nicht von Gleiberg? Na, dann schreib’ Dir’s hinter die Ohren, und wenn Du Dein Abendgebet sprichst – Du verstehst mich schon! Das war Ihre Durchlaucht die Fürstin Marie, unsere gütige Landesmutter. Lauf’ nur jetzt heim, sonst wirst Du noch krank, und laß Dir die wohlverdienten Prügel aufzählen!“


Karl und Emilie trabten nach Hause. Nachdem Frau Warnack den triefenden Buben umgekleidet und mit etlichen Tassen heißer Milch erquickt hatte, rief sie den Vater.

„Du, was sagst Du dazu? Wenn die Kinder nicht Unsinn schwatzen …“

„Nein, Mutter,“ beteuerte Karl, „es ist kein Unsinn! Ganz deutlich hab’ ich gehört, wie die eine mit dem hellgrünen Sonnenschirm ,Durchlaucht’ sagte. Und dann kam doch der alte Herr und schnauzte mich an. Der hat dann expreß gesagt, das wäre die Fürstin.“

„Da hörst Du’s!“ sagte Frau Warnack eifrig. „Weiß Gott, ich finde das großartig! So ein gutherziger Engel! Zieht den garstigen Kerl da höchst eigenhändig aus der Tinte heraus! Konntest Du denn nicht selber das Boot packen?“

„Nee, Mutter! Ich kam ins Gewirre. Und Wasser hab’ ich geschluckt – gräßlich!“

Frau Warnack drückte den Knaben voll zärtlicher Bangigkeit an die Brust. „Hoffentlich schadet’s Dir nichts. Aber da siehst Du, wie recht ich hatte! Hundertmal hab’ ich’s euch eingetrichtert: bleibt von den Gräben und Flüssen und Teichen weg! Jawohl! Eigentlich sollte ich Dich mitsamt der Emilie windelweich hauen.“

Der Schlossermeister hatte inzwischen mit steigender Lebhaftigkeit nachgedacht. „Und es ist wahr: ihr Esel habt euch gar nicht ein bißchen bedankt?“ fragte er stirnrunzelnd.

„Nee, Vater! Wir waren Dir wie vor den Kopf geschlagen.“

„Dann muß ich morgen ins Schloß! Das erfordert der Anstand!“

„Ach!“ wehrte Frau Warnack. „Die lassen Dich gar nicht vor!“

„Die werden schon! Ich sage ganz einfach: Ihre Durchlaucht die Fürstin hat meinen Jungen gerettet, da hab’ ich als ehrlicher Mann wohl das Recht …! Das wäre ja noch schöner! Red’ mir nichts! Morgen beizeiten mach’ ich mich auf!“ Er nickte befriedigt und ging dann rasch in die Werkstatt zurück, wo es noch reichlich für ihn zu thun gab.

Unter dem Arbeiten sann er über das unverhoffte Begebnis nach, über sein Vorhaben und über alles, was mit der Sache zusammenhing. Da fiel ihm auch seine verblüffende Aehnlichkeit mit dem Fürsten ein und daß es die hohe Frau, die ihm den Sohn aus dem Wasser gezogen, doch vielleicht kränken möchte, wenn der einfache Schlossermeister ihrem fürstlichen Eheherrn so verwünscht gleichsah. Dieser Frau gegenüber, deren liebliches Antlitz er von dem Bild in der „Bayrischen Krone“ her schon in recht sympathievoller Erinnerung hatte und die er jetzt aus dem tiefsten Grund seines dankbaren Vaterherzens heraus glühend verehrte, kam er sich merkwürdig klein und gering vor. Beim Gedanken an sie empfand der sonst so trotzige, selbstbewußte Mann seine Aehnlichkeit mit dem Fürsten zum erstenmal wie eine Art Respektwidrigkeit. Und was er dem hochfahrenden Ceremonienmeister mit schroffer Kaltblütigkeit verweigert hatte, das gestand er nunmehr aus freien Stücken der schönen, guten, edelherzigen Fürstin Marie zu, der auch der leiseste Schimmer von Mißbehagen erspart werden sollte.


Am folgenden Morgen begab sich Warnack in die nahegelegene Barbierstube von Gaulitz.

„Haarschneiden?“ fragte der erste Gehilfe, als Warnack die Thür schloß.

„Kann ja wohl auch nicht schaden,“ meinte der Schlossermeister. „Vorerst aber nehmen Sie mir den Bart ab!“

„Wie Sie befehlen! Obgleich’s ja um dieses prachtvolle Exemplar eigentlich schade ist.“

„Macht nichts.“

Er setzte sich. Der Barbier hatte ganz recht: es war ein Staatsbart – und sein Dahingeben bedeutete für den Schlossermeister wirklich ein Opfer. Aber der weichherzige Mann brachte es gern. Seit gestern hatte sich, teilweise unter der Nachwirkung des Schrecks, eine Art Schwärmerei für die liebliche Landesmutter bei ihm entwickelt, ein Gemütszustand, der ihn im Zeitalter der Kreuzzüge vielleicht veranlaßt hätte, der Retterin seines geliebten Sohnes zu Ehren eine Fahrt nach dem Heiligen Grabe zu unternehmen. Er war überhaupt, trotz einer gewissen Rauhbeinigkeit, um den Finger zu wickeln, wenn man es nur verstand, ihm ein ganz klein wenig an die Seele zu fassen.

Der Bart also fiel. Der Haarkünstler rieb ihm das glattgeschorne Gesicht, aus dem jetzt nur noch der Schnurrbart als stattlicher Rest hervorragte, mit Kölnischem Wasser ab und puderte ihn, um der Gefahr einer Erkältung vorzubeugen. Dann stutzte er ihm ein wenig das Haupthaar.

„Nein, wie Du aussiehst!“ rief die Frau Schlossermeisterin, als ihr Gemahl heimkam, um sich in Gala zu werfen. „Ich kenne Dich kaum! Na, Du magst ja wohl recht haben mit Deiner Rücksichtnahme, obschon ich streng genommen nicht einsehe … Aber ein Jammer ist’s ewig!“

„Ach, Du wirst Dich schon dran gewöhnen!“

„Ich? Nie!“

Fritz Warnack zog seinen neuen Tuchrock an und setzte den Hut auf. Gegen halb elf bereits stand er vor dem fürstlichen Residenzschloß. Nach etlichen Schwierigkeiten gelang es ihm, bei der Hofdame Gräfin Thun gemeldet zu werden. Er hatte erfahren, die Gräfin Thun sei ungleich wohlwollender und zugänglicher als die Brüning und sehr eingenommen von der leichtblütigen, volkstümlichen Art der Fürstin, deren Auftreten dem Herrn Ceremonienmeister viel zu wenig ceremoniös war.

[578] Die Gräfin stellte den recht verlegen dreinschauenden Schlossermeister wirklich nach kurzer Frist Ihrer Durchlaucht vor. Der Titel des danksprühenden Vaters schien der liebenswürdigen jungen Dame ausreichend. Auch wußte sie, daß Unterredungen mit naturwüchsigen Bürgern und Bauern von Ihrer Durchlaucht oft als eine wahre Wohlthat empfunden wurden.

Fürstin Marie war gegen Fritz Warnack außerordentlich huldvoll. Sie drückte ihm ihre Freude darüber aus, daß es ihr durch einen glücklichen Zufall gelungen sei, einem braven Familienvater den einzigen Sohn zu erhalten, und meinte, das eigene Verdienst dabei sei nicht der Rede wert. Manchmal warf sie ihm einen seltsam prüfenden Blick zu. Dann plötzlich wandte sie sich zur Gräfin Thun.

„Lenore, bemerken Sie nichts? Ich finde das geradezu phänomenal! Ja? Sie verstehen mich?“

„Gewiß, Durchlaucht!“

„Zu merkwürdig! Das muß der Fürst unbedingt sehen! Sonst glaubt er es nicht. Ach, bitte, schicken Sie rasch mal hinüber! Er hat ja heut’ keine Vorträge. Wahrscheinlich sitzt er im Atelier und malt … Herr Warnack, bleiben Sie noch! Nur zwei Minuten!“

Der Fürst kam.

„Liebster Arno,“ begann die Fürstin mit reizender Schalkhaftigkeit, „Du weißt, wir haben erst neulich über das Thema Adel und Volk debattiert. Ich muß Dir da doch einmal einen echt deutschen Handwerker als Doppelgänger von Dir vorstellen! Seit Du Dir letzthin den Vollbart hast abnehmen lassen, siehst Du dem wackeren Mann hier so ähnlich, als wäret ihr Zwillinge!“

Der Fürst stand einen Augenblick starr. Er hatte dem unaufhörlichen Drängen des Ceremonienmeisters, der ihn mit „psychologischen Einwirkungen auf die empfängliche Volksseele“ und anderen gutklingenden Redensarten verfolgte, endlich nachgegeben und sich vorgestern alles bis auf den Schnurrbart wegrasiert; genau so wie der Schlossermeister. Und jetzt war die Aehnlichkeit wieder so vollständig hergestellt, daß Brüggstorm bei dem Anblick dieser sträflichen Identität vor Schrecken die Sprache verloren hätte.

„Was …?“ fragte der Fürst zögernd. „Wer ist dieser Mann …?“

„Der Schlossermeister Fritz Warnack – der Vater des Kindes, dem ich gestern am Schloßteich zu Hilfe kam.“

„Ja, Durchlaucht,“ stammelte Warnack mit einem tiefen Bückling. „Ich hatte mir unterthänigst die Erlaubnis erwirkt, Ihrer Durchlaucht zu danken …“

Der Fürst trat näher. „Sie also sind der Mann, von dem mir Brüggstorm all die Zeit über so viel gepredigt hat? Ja, ums Himmels willen, was soll denn das heißen? Ihr Bart ist ja nun doch den Weg alles Fleisches gegangen!“

Fritz Warnack erzählte. In schlichter Treuherzigkeit machte er dem erlauchten Herrn gegenüber kein Hehl daraus, wie er das Ansinnen des Ceremonienmeisters, der ihm nicht gerade liebreich zugesetzt, als eine schwere Kränkung empfunden und ihm deshalb ganz energisch die Zähne gezeigt habe, während er jetzt mit Rücksicht auf Ihre Durchlaucht, die huldreiche Retterin seines Sohnes, ohne Kampf zu dem Entschlusse gelangt sei … Und nun wolle der Zufall … Wirklich, ein abscheulicher Zufall! Seine Durchlaucht solle doch ja nicht glauben, daß irgend wie …

Er stockte. Da trat Fürst Arno, bei dem die Komik der Situation sehr bald die Oberhand über den Aerger gewann und der es im Grunde schon längst bereut hatte, den Einflüsterungen des wohlmeinenden aber engherzigen Höflings gefolgt zu sein, lächelnd zu dem Schlossermeister heran, klopfte ihm auf die Schulter und sprach dann mit großer Leutseligkeit:

„Herr Warnack! Ich glaube, Sie haben Kopf und Herz auf dem rechten Fleck. Ich will Ihnen etwas sagen! Lassen wir unsere Bärte von heute ab wieder getrost wachsen! Ich für mein Teil gräme mich nicht darüber, einem achtbaren Mann aus dem Volk ähnlich zu sehen, und finde auch keinen Schaden fürs Land dabei. Verwechseln wird man uns beide ja doch nicht!“

„Das denk’ ich auch, Durchlaucht.“

„Und zur Erinnerung an diese sonderbare Begegnung mach’ ich Sie hiermit zum Hofschlosser.“

„Danke von Herzen, Durchlaucht! Will mir auch alle erdenkliche Mühe geben!“

Ein gnädiger Wink: der neue Hofschlosser war entlassen. Gräfin Thun, die an dem kernhaften Wesen des Mannes großen Gefallen fand, gab ihm ein Stück Wegs das Geleit.

Und als nun die Fürstin Marie mit ihrem Gatten allein war, da fiel sie ihm strahlend vor Freude und Genugthuung um den Hals und gab ihm einen recht unceremoniösen herzhaften Kuß.