Fürstenzell
Im dreizehnten Jahrhundert zogen aus Deutschland zahlreiche Schaaren von Edlen und Reisigen nach Ostpreußen und [334] Lievland, um dort mit den teutschen Rittern gegen die Ungläubigen zu fechten. Einem solchen Zuge schloß sich auch Kurt von Fürstenzell an, dessen Stammschloß auf einem Hügel an der Alb lag. Er ließ eine junge Gattin und zwei Töchterlein im zartesten Alter zurück.
Schon im ersten Treffen ward er von den wilden Preußen gefangen und zu schimpflichen Sklavenarbeiten verurtheilt, unter denen er über fünf Jahre sein Leben elend hinschleppen mußte, bis endlich ein großer Sieg des christlichen Heeres ihm Gelegenheit verschaffte, zu seinen Glaubensbrüdern zu entfliehen. Aber jetzt erneuerte sich mit verdoppelter Stärke das Heimweh in seinem Herzen; er gedachte mit bangen Besorgnissen seiner schutzlosen Gattin und Kinder und beschloß nun, so eilig als möglich nach Hause zu kehren, weßhalb er ein Pilgergewand anlegte und sich augenblicklich auf den Weg machte. Nach vielen Gefahren und Mühseligkeiten sah er endlich das Land seiner Väter wieder und war kaum noch eine halbe Tagreise von seiner Burg entfernt, als er spät am Abend ein Nonnenkloster erreichte, wo er um Herberge ansprach. Er wurde freundlich aufgenommen und gut bewirthet, worauf die Schaffnerin ein junges Dienstmädchen herbeirief und ihr befahl, den Pilger in die Herberge zu führen, die nur einige Schritte vom Kloster entfernt lag. Bertha, so hieß das Mädchen, war eine schmucke Dirne von ohngefähr achtzehn Jahren, und schien sehr überrascht, einen Pilgrim zu sehen, der aus so fernen Landen kam, und für das Kreuz gestritten.
„Ihr kommt aus Preußen?“ – fragte sie auf dem Wege nach der Herberge mit einer Stimme, die mehr als gewöhnliche Neugier verrieth.
„Ja, mein Kind.“
Ein Ach! entschlüpfte bei dieser Antwort dem Busen des holden Mädchens.
„Du seufzest!“ – sagte der Pilger – „Hast du vielleicht einen Bruder oder Vater unter den teutschen Schaaren, welche in jenes Land gezogen sind?“
„Nein, nein,“ – erwiederte die Jungfrau – „aber ein Rittersmann aus unserer Gegend ist vor mehr als fünf Iahren zu den Schwertbrüdern gegangen, und Niemand weiß, [335] ob er noch lebt oder seinen Tod unter den Heiden gefunden hat.“
„Wie heißt der Mann?“ – fragte hastig der Pilgrim.
„Kurt von Fürstenzell.“
„Ich kenne den Ritter! Er ist bereits auf dem Heimwege zu den Seinen begriffen!“ – rief der Pilger. – „Aber weißt du auch von ihnen Bescheid?“
„Wohl weiß ich Bescheid – ach, der arme Ritter!“
„Um Gotteswillen, sprich, verhehle mir nichts, auch das Schlimmste nicht!“
Die Beiden waren gerade in diesem Augenblick zur Herberge gelangt, vor welcher eine Bank stand. Das Mädchen drückte den zitternden Pilgrim sanft auf dieselbe nieder, setzte sich neben ihn und ergriff seine Hand: „Ritter Kurt wird seine Burg in den Händen eines Räubers, Diethers von Malsch, und seine Gattin – im Grabe finden!“ – sagte sie nun, während Thränen über ihre Wangen strömten.
„Meine Gattin! Meine Burg! – Ach! und meine armen Kinder, wo mögen die wohl seyn?“ – schrie der Pilger aufspringend und die Hände ringend.
„Gott! mein Vater! mein Vater!“ – rief das Mädchen, in seine Arme stürzend – „ich bin Eure Irmentraut! – meine Schwester ist dort im Kloster!“
Nun erzählte Irmentraut, wie drei Jahre nach seinem Weggange sich plötzlich das Gerücht von seinem Tode verbreitet und Diether hierauf seine Ansprüche auf Fürstenzell, als ein Mannslehen, gegründet; sie erzählte ferner, wie er sich mit Gewalt des Schlosses bemächtigt und ihre Mutter bei dunkler Nacht mit ihren Kindern entflohen; wie sie endlich eine Zuflucht in dem Kloster gefunden, wo Frau Elsbeth bald darauf gestorben. „Die gute, fromme Aebtissin“ – setzte sie hinzu – „gab mir und der Schwester, unserer Sicherheit wegen, andere Namen, denn es war von der Hinterlist des Ritters von Malsch das Schlimmste zu befürchten. Meine Herkunft um so sicherer zu bergen, mußte ich sogar Magd des Klosters werden.“
„Meine Tochter eine Magd, eine Leibeigene?“ – rief der Pilger in wildem Ingrimm.
„Beruhigt Euch, liebster Vater! Man läßt mich nur ganz [336] leichte Dienste verrichten. – Die Aebtissin hat nur unsere Rettung im Auge.“
Nach langem Nachsinnen befahl der Ritter von Fürstenzell seiner Tochter das tiefste Schweigen über das Begebniß an. Er wolle die Nacht über mit sich selbst zu Rathe gehen, was in dieser bedenklichen Lage zu thun seyn möge.
Auf der Burg Fürstenzell fand einige Tage später ein glänzendes Bankett statt, welches Diether von Malsch den Edlen aus der Nachbarschaft gab. Bei Tafel herrschte die ungebundenste Lust, als plötzlich ein Diener, bleich und athemlos, mit der Nachricht hereinstürzte, der Geist des alten Kurt von Fürstenzell lasse sich in der Burgkapelle blicken. Grauen überfiel alle Gäste und mehrere derselben dachten schon an einen schleunigen Rückzug. Diethers Blicke waren starr nach der Thüre des Saales gerichtet. Diese öffnete sich leise und herein trat der Pilgrim. Sein leichenblasses Antlitz, seine von Leiden gefurchte Stirn und Wangen, die spärlichen weißen Locken und der lange wirre Bart gaben ihm auch in der That das Ansehen eines so eben der Gruft Entstiegenen. Die Ritter waren fast alle wie zu Stein erstarrt ob diesem unheimlichen Anblicke. Langsam schritt der Pilgrim die Tafel entlang bis zu dem Stuhle, wo der bebende Diether saß, legte diesem die Hand auf die Schulter und rief mit donnernder Stimme: „Räuber meines Eigenthums! Mörder meiner Elsbeth! Die Stunde der Rache hat für mich geschlagen!“ – Diethers Blut gerann zu Eis, sein Haar sträubte sich empor, er wollte aufspringen und fliehen, fiel aber vom Stuhle zu Boden und war eine starre Leiche.
„Gott, ich danke dir! Du hast gerichtet!“ – rief jetzt der Pilgrim mit gefalteten Händen; hierauf, zu den anwesenden Rittern gewendet, sprach er: „Kennt Ihr mich nicht mehr? Seyd ihr nicht größtentheils meine alten Waffengefährten? Wunderbar hat mich der Herr gerettet aus Elend und Irrsalen aller Art!“ – Er erzählte nun, wie es ihm ergangen, und Alle freuten sich aufrichtig seiner glücklichen Heimkehr und hingen ihm von nun an als die treuesten Freunde an.
- ↑ Die Ruine Fürstenzell liegt nicht weit von der Stadt Ettlingen, heißt auch Burgstadel, und ist ferner dadurch bekannt, daß im Jahre 1802 die Ueberreste einer römischen Villa und ein Neptunsbild ausgegraben wurden.