Fahrlässigkeit im Betriebe der englischen Eisenbahnen
[607] Fahrlässigkeit im Betriebe der englischen Eisenbahnen. Nur erst acht Tage sind dahin seit dein 25. August, wo ein fürchterliches Unglück auf der nach Brighton führenden Eisenbahn die gesammte Bevölkerung Londons in Angst und Schrecken versetzt hatte, und auf’s Neue standen heute früh dicht gedrängte Menschengruppen vor den Expeditionslocalen der hiesigen Tagesblätter, um Näheres über die neue, fast noch schrecklichere Eisenbahn-Katastrophe zu erfahren, welche gestern, Montag den 2. September, auf der sogenannten North-Junction-Railway stattgefunden hat. Noch ist die gesammte Einwohnerschaft der Riesenstadt in höchster Spannung und folgt mit theilnehmendem Interesse der Mittheilung der täglich mehr und mehr zur Kenntniß des Publicums gelangenden Einzelheiten des vor acht Tagen stattgehabten Unglücks, und schon dringt neuer, zahlreicherer Wehe- und Schreckensschrei von der andern Seite Londons heran. – Am Sonntag, 25. August, war ein sogenannter Excursion-Train in den fünf englische Meilen von dem Seebadeorte Brighton aus der Londoner Linie gelegenen Tunnel eingedrungen, nachdem der am südlichen Eingänge desselben stationirte Signalbeamte das Zeichen dazu gegeben hatte. Fast zu gleicher Zeit und in Folge eines, sei es mißverstandenen, sei es falsch gegebenen Signals erscheint am nördlichen – nach London zu belegenen Eingänge des fünf englische Meilen langen Tunnels ein anderer Zug. Es wird nun dem zuerst eingefahrenen ein Noth- oder Gefahrsignal gemacht; allein der Maschinist kann den Zug nicht sofort zum Halten bringen und dringt eine ziemliche Strecke in das Innere des Tunnels ein. Nachdem er endlich den Zug zum Halten gebracht, läßt er ihn langsam wieder zurückgehen. Indessen naht sich der Courierzug (Parliament Train) von Portsmouth, der mit fabelhafter Geschwindigkeit dahinfliegt. Der am südlichen Eingänge stationirte Wächter, diesen letzteren Zug herankommen sehend, macht demselben die verzweifeltsten Signale, jedoch umsonst. Unaufhaltsam saust der Courierzug in den Tunnel hinein und trifft hier auf die ihm entgegenkommenden letzten Wagen des vor ihm in den Tunnel eingefahrenen Vergnügungszuges, welcher sich vor dem von London herkommenden Personenzuge zurückzieht. Der Zusammenstoß ist fürchterlich. Ueber 30 Todte und mehr Verwundete schafft man nach Brighton, nachdem Stunden vergangen sind, ehe man die Unglücklichen aus Trümmern und totaler Finsterniß des Tunnels hervorgebracht hat. Die Mehrzahl der Todten und Verwundeten sind Damen; auch eine ganze Familie – Vater, Mutter und Kinder – befindet sich unter den Getödteten. Alle sind so entsetzlich verstümmelt, zerrieben, zerquetscht, daß eine Erkennung bei den Meisten nur mit Mühe, nach mehreren Tagen erfolgen kann. Einzelne der Cadaver sind bis heute noch nicht recognoscirt. Von den mit dem Leben davon Gekommenen sind wiederum Viele so beschädigt, daß sie entweder den Folgen der Operationen oder Amputationen erliegen oder zu fürchterlichen Krüppeln werden. Andere sind von Strömen siedenden Wassers aus der Maschine beim Zusammenstoß überschüttet und liegen unter unsäglichen Schmerzen, den Tod als eine Erlösung herbeisehnend.
Man sollte glauben, daß ein so schreckliches Ereignis; eine neue, verdoppelte Aufmerksamkeit im Betriebe der übrigen Linien zur Folge haben müsse. Bewahre! Gestern, Montag 2. September, kommt ein Zug von Kew-Garden, welcher in einer Geschwindigkeit von 20 engl. Meilen in der Stunde dahinfliegt, und bringt Spaziergänger, heitere, vergnügte Gesellschaft, die sich die Schönheiten der Gärten in Kew angesehen und sich an dem herrlichen Spätsommertage ergötzt hat, auf der nördlichen Verbindungsbahn nach den nördlichen und nordöstlichen Stadttheilen Londons zurück. Nahe bei der Station Hampstead – so zu sagen im Weichbilde Londons – beschreibt die Bahn eine bedeutende Curve. Plötzlich erblickt der Maschinist einen Güterwagen mitten auf der Bahn vor sich. Er hemmt … Zu spät! Die Locomotive rennt gegen den kolossalen, schweren Wagen an, steigt, kommt aus den Schienen und stürzt den 20 Fuß hohen Eisenbahdamm hinunter, vier Wagen hinter sich herreißend, von denen der letzte auf halbem Wege sich dermaßen in die Böschung hineinarbeitet. daß er fast [608] in der Luft schwebend hängen bleibt; die übrigen drei und die Locomotive kommen in Stücken unten an. 13 Todte und gegen 100 fast ausschließlich schwer Verwundete sind das Resultat dieser neuen, ebenso unbegreiflichen als unverantwortlichen Fahrlässigkeit. Der Anblick soll fürchterlich, unbeschreiblich erschütternd gewesen sein und die Körper der Getödteten sich in einem so vollkommen unkenntlichen Zustande befinden, daß bis heute Vormittag noch nicht eine der Leichen mit Bestimmtheit recognoscirt war. Ein mir bekannter Engländer, Augenzeuge dieses letztern Unglücks, sagte mir, daß ein junges, elegant gekleidetes Mädchen, dessen Alter er auf 16–17 Jahre schätzte, der Länge des Körpers nach in zwei Hälften getheilt war. Die zahlreichen Verwundeten hat man einstweilen in den drei zunächst gelegenen Hospitälern untergebracht. Es hatte sich ein wahrhaft panischer Schrecken der hiesigen Bevölkerung schon in Folge des ersteren Falles bemächtigt; Beweis dafür ist, daß das an Sonn- und Montagen von Londoner Excursionisten wimmelnde Brighton am letzten Sonntag und Montag fast ausgestorben war. Allein dieses neue, so schnell auf das erste folgende Unglück hat dem Schrecken die Krone aufgesetzt. Die Versicherungs-Gesellschaften, von denen in Nr. 33, Jahrg. 1860 der Gartenl. gesprochen worden ist, werden jedenfalls in Folge dieser beiden Katastrophen brillante Geschäfte machen.
Ich lobe mir doch dafür die deutschen Eisenbahnen; man mag eifern gegen die Bevorzugung, welche den gedienten Soldaten bei Besetzung von Civil-Beamten-Posten von fast allen deutschen Regierungen gegeben wird; in Bezug auf deren Placirung bei dem Eisenbahn-Betriebs-Personale möge man sich zu dieser Bevorzugung gratuliren; sie trägt unendlich zu der bei weitem größeren Sicherheit bei, deren sich das Leben der Eisenbahn-Reisenden in Deutschland erfreut.