Ferienstudien am Seestrande/Gäste oder Schmarotzer?
Ferienstudien am Seestrande.
Man kann kaum einen größeren Stein an dem Strande von Roscoff umwälzen, ohne auf seiner Unterfläche eine zahlreiche Bevölkerung seßhafter Wesen zu finden, unter welchen sich die Seescheiden (Ascidiae) vor allen auszeichnen.
Warum, aus welchem Grunde und zu welchem Zwecke die Natur, die nach der allgemeinen Anschauungsweise ein Bild der größten Zweckmäßigkeit bietet, die Seescheiden erschuf, ist mir bis jetzt nicht völlig klar geworden. Ich habe vergebens um Belehrung darüber in den Büchern nachgeforscht, und aus dem eigenen Gehirne einen vernünftigen Gedanken zur Beantwortung dieser Fragen herauszudestilliren, ist mir bis zur Stunde nicht gelungen. Welchen Zweck kann eine Bestie haben, die am Steine festsitzt, in einen Holzmantel gehüllt ist und in deren Inneres zwei Oeffnungen führen, durch deren eine Wasser hinein strömt, um durch die andere wieder ausgespritzt zu werden?
„Das soll ein Thier sein?“ fragt der Laie, dem man an der Unterseite eines Steines einen fleischrothen, knorpelharten Körper zeigt, der nicht die mindeste Bewegung gewahren läßt und zuweilen über und über mit kleinen Meerthieren aller Art besetzt ist, Polypen, Schnecken, Moosthieren, Wurmgehäusen und ähnlichem Zeuge, wie es auch auf dem Steine selbst angewachsen ist – „das soll ein Thier sein? Dann bin ich eine Pflanze oder ein Stein.“ „Gewiß ist es ein Thier,“ antworte ich, „und zwar die blutige Seescheide (Ascidia sanguinea). Sie sollen sofort sehen, daß ich Recht habe.“ Das Breitmesser wird hervorgeholt, zwischen den Körper und den Stein eingeschoben und mit raschem Stoße hart an dem Felsen hingeführt. Das glatte Ding ist losgelöst, ohne daß sich eine Regung gezeigt hätte, und wird in das Gefäß mit Seewasser geworfen. Wir sammeln etwa ein Dutzend, treten damit den Heimweg an, und zu Hause angekommen, werden die bewegungslosen Körper in ein flaches Aquarium gelegt, in welchem sie gerade vom Wasser bedeckt sind, das in lebhaftester Strömung erhalten wird.
Nach einigen Stunden treten wir zu dem Becken. Auf jedem der beinahe handlangen, drei Finger breiten Körper gähnen zwei Oeffnungen, die in einen tiefen Abgrund zu führen scheinen. Der Freund beugt sich darüber hin, um genauer in das Loch hinein zu schauen. In demselben Augenblicke berühre ich dasselbe mit einem Glasstabe. Der Körper zieht sich mit Energie zusammen; ein Wasserstrahl schießt, wie aus einer Spritze, heftig hervor und trifft den Freund in das Gesicht, der erschrocken zurücktaumelt. „Glauben Sie noch immer, es sei kein Thier?“ Er wischt sich die Augen, die vom prickelnden Seewasser thränen, und besteht darauf, daß ich ihm die Organisation der räthselhaften Bestie näher auseinandersetze. Wir nehmen einen der Spritzer heraus, führen ein Scheerenblatt in die vordere Oeffnung, trotz des lebhaften Widerstandes, mit welchem das Thier dieselbe zusammenkneift, und spalten den Körper der Länge nach auf.
Die äußere Hülle, der sogenannte Mantel, ist bei dieser Art knorpelhart, halb durchscheinend, röthlich gefärbt und von carminrothen Aederchen durchzogen. Zugleich mit dem Mantel, der aus einem der Holzsubstanz (Cellulose) ähnlichen Stoffe zusammengesetzt ist, habe ich durch den Schnitt, der von der Einführungsöffnung ausgeht, einen dem Mantel innen anliegenden, weiten häutigen Sack aufgeschlitzt, der eine gelbliche Farbe hat und von einem Gitterwerke durchzogen ist, das einem feinen, aus parallelen Fäden gebildeten Siebe ähnlich ist, welches hie und da durch stärkere Längsfäden und Falten gestützt wird. Es ist der Kiemensack – die Gitterspalten sind feine Oeffnungen, mit Flimmerhaaren besetzt, welche einen beständigen Wasserstrom unterhalten, der durch die Oeffnungen hindurch in einen zweiten Raum, den Cloakenraum, streicht und dann durch die zweite äußere Oeffnung, die Cloakenöffnung, nach außen befördert wird. Der Kiemensack nimmt wenigstens vier Fünftel des ganzen inneren Körperraumes ein – unter und hinter ihm sind die übrigen Eingeweide zusammengedrängt. Ich zeige dem Freunde den schlingenförmig gewundenen, braun gefärbten Darmcanal, der tief im Grunde des Kiemensackes mit einem schlitzförmigen Maule beginnt, sich zu einem mandelförmigen Magen erweitert und schließlich in die Cloakenhöhle öffnet; ich zeige ihm hinter und unter dem Darme das schlauchförmige Herz, das, mit farbloser Flüssigkeit gefüllt, seine wellenförmigen Zusammenziehungen bald von rechts nach links, bald, nach kürzerem Stillstande, von links nach rechts umtreibt; ich zeige ihm, um den Darm herum, den Knäuel, in welchem die Fortpflanzungsorgane mit der Leber zusammengewickelt sind, und führe ihm endlich unter dem Mikroskope die Eier vor, welche in dem Eileiter nach dem Cloakenraume geführt werden, um später als Larven mit beweglichen Schwimmschwänzen ausgestoßen zu werden.
[811] „So, lieber Freund,“ sage ich nach dieser kurzen Demonstration, „da haben Sie nun einen Häckel-Kowalewski’schen Urahnen der Wirbelthiere und somit auch des Menschen flüchtig kennen gelernt, welcher zugleich das nicht geringe Verdienst besitzt, der Dohrn’schen Ansicht vom allgemeinen Sündenfalle der Thierwelt sich anzupassen. Können Sie mir glauben, daß diese hartnäckige Bestie, wie alle ihre Verwandten, die Seescheiden im Allgemeinen, in ihrer Jugend die schönsten Ansätze zu höherer Vollendung in ihrem Schwanze trägt, dieselben aber mit diesem Schwanze später von sich wirft und in ihrer Verstocktheit sich philiströs festsetzt, um nur dem Ernährungs- und Fortpflanzungsgeschäfte sich hinzugeben, statt frei umherzuschweifen und, wenn auch unbewußt, als Anhänger der Hartmann’schen Philosophie Höheres anzustreben und weiterer Vervollkommnung sich anzupassen durch harten Kampf um das Dasein? Wie feige muß die Seele sein, welche diesen ungestalten, sackförmigen Körper bewohnt! Und doch muß diese Seele, als den Urahnen angehörig, ihr Theil Unsterblichkeit besitzen – denn wie hätte sonst die Seescheide auf ihre Nachkommen, die Menschen, diese Ur-Eigenschaft der menschlichen Seele vererben können?
Als Larve, kaum dem Ei entkrochen, hat das Thier, nach Kowalewski und Kupfer, eine Wirbelsaite, aus der sich Wirbel, Schädel, Gliedmaßen und wer weiß was Alles noch entwickeln könnten; als Larve hat es ein Nervensystem, aus dem Rückenmark und Gehirn sich entfalten könnten; als Larve hat es nur wenige Kiemenspalten, welche es zu Fischkiemen ausbilden könnte – und alle diese unendlichen Vorzüge vor anderen Würmern, die es erhalten hat, man weiß nicht wie, wirft es von sich, verhunzt sie in ärmlicher und zugleich grausamer Weise und zieht es vor, ein beschränktes Leben zu führen, gebannt an den Boden, auf welchem es sich festsetzte, verdammt zu ewiger, untergeordneter Stellung. Kein Ehrgeiz kann diesen weiten Kiemensack schwellen, kein Trieb nach Höherem dies ewig wechselnde Herz bestimmen, nur einem einzigen Ziele stufenweiser Vervollkommnung entgegenzuschlagen.
Vor der silurischen Urzeit freilich waren die uns zwar unbekannten, aber aus monistischer Weltanschauung zu construirenden Sprößlinge der Vorgänger unserer Seescheiden offenbar von edlem Wetteifer ergriffen; sie schwammen herum, bildeten ihre Wirbelsaite aus, entwickelten ihr Nervensystem, und die Nachkommen dieser strebenden Larven gelangten endlich nach hundert vielgestaltigen Entwickelungsphasen als Menschen in den Besitz einer unsterblichen Seele und zeichneten sich, wenn nicht durch Anderes, so doch, nach Quatrefages, durch Religiosität vor allen übrigen Thieren aus – aber schon seit der silurischen Epoche der Erdgeschichte haben die directen Nachkommen dieses strebenden Heldengeschlechtes die leuchtende Spur ihrer Ahnen verlassen, um, in niederträchtiger Beschaulichkeit festgebannt, nichts Anderes zu thun, als zu sitzen, zu leben und sich selbst ähnliche Kinder zu zeugen. O des schmachvollen Unterganges, der verhängnißvollen Rückbildung von Höherem zu Niederem! Nichts scheint ihnen wünschbar, diesen Epigonen – sie wollen keine Augen, um das Licht nicht sehen zu müssen; keine Glieder, um nicht schwimmen zu müssen – ja nicht einmal die einfache Quergliederung, die vielleicht doch, wider ihren Willen, zur Verwirbelung und zur Menschwerdung führen könnte, liegt in ihrem unbewußten Ziele. Sie sind und werden ewig bleiben, was sie sind.“
Ich würde noch lange in solchen Schmerzensschreien über verfehlte Bestimmung fortgefahren haben, wenn nicht mein Freund einige Querfragen gethan hätte. „Was sind denn die gelblichen, haselnußgroßen Klumpen,“ fragt er, „die da unten im Schleime und den Falten des Kiemensackes geborgen liegen? Es will mich fast dünken, als hätte ich eine Bewegung an ihnen bemerkt.“
Drei solcher Klümpchen werden hervorgezogen, mit einem Pinsel vom Schleime befreit und in ein Glasschälchen mit frischem Wasser gelegt. Nach einiger Zeit strecken sie links und rechts einige Beine hervor; zwei große Scheeren, die hart an den Vorderrand des Leibes angepreßt waren, entfernen sich nach vornen; zwischen ihnen werden Fühlhörner und zwei kleine, auf beweglichen Stielen sitzende, dunkelgrün glänzende Augen sichtbar – es sind kleine Krabben, Pinnotheres Ascidiarum, die gemächlich hin und her spazieren und offenbar ein neues Versteck suchen. Die tragen den deutschen Namen „Taschenkrebse“ mit vollem Rechte, denn sie sitzen in dem weiten Kiemensacke wie in einer Tasche und scheinen sich darin ganz wohl zu befinden. Sie sind dick und kugelrund – augenscheinlich wohlgenährt. Ob sie die Seescheide von innen ausfressen? Dieser Gedanke muß Jedem kommen, der die gefräßige Natur der Krabben kennt, dieser Aasgeier des Meeresbeckens, die sich um jede Leiche sammeln, sie abnagen bis auf die Knochen und auch das Kleinzeug nicht verschmähen, das ihnen keinen Widerstand zu leisten vermag. Aber wenn diese Vermuthung richtig wäre, so müßte doch die Seescheide innere Verletzungen zeigen, und davon ist auch nicht die Spur vorhanden. Sogar das feine Netzgewebe des Kiemensackes, das bei dem geringsten Zupfen mit der Pincette zerreißt, ist von den scharfen Fußkrallen und den Scheeren nicht im Mindesten beschädigt worden. So bleibt uns denn nichts Anderes übrig, als anzunehmen, daß die Krabben mit ihrem Wohnthiere fein säuberlich umgehen und daß sie zu der in der Thierwelt noch weiter als im ehemaligen Königreiche Neapel verbreiteten Gesellschaft der Camorra gehören, die sich an irgend einem gangbaren Orte festsetzt, wo reichliche Nahrung passirt, und von demjenigen, was die Seescheide mit dem Athemwasser einpumpt, ihren Theil vorweg einnimmt, bevor es in den schlitzförmigen Mund gelangt. Giebt es ja doch Verwandte unserer Krabbe, welche in Muscheln leben, die sogenannten Muschelwächter (Pinnotheres), die besonders gern in der großen Schinkenmuschel (Pinna) hausen und von denen schon die Alten erzählen, daß sie ihren Gastwirth durch sanftes Kneipen benachrichtigten, wenn eine Gefahr nahe, damit dieser geschwind die geöffneten Schalen schließe. Das lassen wir dahin gestellt, glauben aber immerhin, daß es sich um ein freundschaftliches Verhältniß handele, und dies um so mehr, als die Anwesenheit der Krabben in der Seescheide deshalb auffallend ist, weil sie zu groß scheinen, um durch die Oeffnung in den Kiemensack eindringen zu können.
Die Seescheide schließt aber die Oeffnung mit großer Gewalt, sobald ein fremder Körper sie nur berührt, wie viel mehr, wenn ein Feind sich bemüht, einzudringen. Wären die Krabben als Junge hereingekommen, als sie noch in fremdartiger Gestalt in dem Wasser umher schwammen – vielleicht von dem Strudel erfaßt und fortgerissen? Aber schon manche Beobachter vor uns haben Krabben in Seescheiden gefunden und, wie wir, niemals anders als in erwachsenem Zustande. Ja, ich habe erst ganz neuerdings beobachtet, daß die jungen Krabben wirklich aus den Seescheiden auswandern. Mein Freund Lacaze, der sich eifrig mit dem Studium der Seescheiden abgiebt, hielt einige Individuen schon seit mehreren Tagen in einem Aquarium. Kein anderes Thier war darin vorhanden. Plötzlich wimmelte das Wasser des Aquariums von jenen seltsamen Larven der Krabben, welche die Naturforscher unter dem Namen Zoëa kennen, und die, mit einem langen Stirnstachel, zwei Seitenstacheln, furchtbar großen Augen und sperrigen Schwimmfüßen ausgerüstet, zu den barockesten Gestalten des Thierreiches gehören. Die Jungen konnten nur von einer im Inneren der Seescheiden lebenden Krabbe abstammen. So bleibt denn nichts übrig, als die Annahme, daß diese letzteren von der Seescheide gastlich aufgenommen werden, von den Brosamen leben, die dem Tische ihres Hausherrn zugeführt werden, und sogar in ihrem Verstecke der Freuden des ehelichen Lebens nicht verlustig gehen.
Diese Annahme wird noch bestärkt durch das Auffinden anderer, freilich weit kleinerer Gäste, welche den Kiemensack bewohnen. Es sind ebenfalls Krebsthierchen, aber aus der Proletarierfamilie der Krebsflöhe (Copepoden), während die Krabben zu den höchsten Adelsgeschlechtern des Krebsstammes gehören – freilich sind diese Muschelwächter herabgekommene Krautjunker, denen nichts übrig geblieben ist, als Herrendienst und schlecht maskirte Hörigkeit, Wegelagerung und Wegschnappen der Nahrung ihres Dienstherrn.
Die kleinen Proletarier erscheinen dem bloßen Auge wie feine Sandkörnchen von schmutziger Farbe – erst wenn man sie genauer betrachtet, sieht man, daß diese Körnchen sich bewegen und langsam umher krabbeln. Wir finden in unseren blutigen Seescheiden von Roscoff zwei sehr verschiedene Arten, von welchen ich nur die eine in das Auge fassen will.
Kann man ein sonderbareres Wesen sehen, als das ausgewachsene Weibchen, welches unsere Figur 1 im Profil darstellt? Ein cylindrischer, etwas gebogener Leib, unter welchem [812] der mit einem einzigen kleinen, blutrothen Stirnauge geschmückte spitze Kopf aufgehängt scheint, wie der Kopf eines Schuljungen, den seine Cameraden an dem Rockkragen hinter die Thür aufgehängt haben, durch welche der Lehrer eintreten soll. Unter diesem Kopfe stehen die Fühler, die Freßspitzen kaum hervor; an der Bauchseite des Leibes sind vier Fußpaare, mit Schwimmborsten besetzt, angebracht; der aus vier Gliedern bestehende, mit doppelter Endkralle versehene Hinterleib verjüngt sich nach hinten und läßt ebenso den Darm durchscheinen, wie der Leib die doppelt in sich zurückgebogene Eierschnur, die bei weiterer Entwickelung des Eies den ganzen Leibesraum ausfüllen wird. Auf dem Rücken aber entfalten sich seltsame, flügelförmige Blattanhänge, die an ihren Rändern in lange, biegsame, am Ende abgestumpfte Anhänge auslaufen, im Nacken eine Kapuze mit drei Spitzen, dann zwei Paar seitlicher Flügelblätter, jedes mit zwei Spitzen, und hinten wieder ein Blatt, ähnlich dem Hinterleder der Bergleute. Papa Hesse in Brest, der das Thierchen entdeckt hat, und in Erfindung unaussprechlicher Namen eine ganz besondere Stärke besitzt, hat ihm den Gattungsnamen Notopterophorus (Rückenflügelträger) beigelegt. Aber das Thier fliegt weder, noch schwimmt es mit diesen Anhängen; es bewegt sie nur träge hin und her und kriecht äußerst langsam und bedächtig auf dem Boden des Glasgefäßes, in welches man es gebracht hat, ebenso bedächtig wie in dem Kiemensacke, in welchem es wohnt.
Man findet ganze Familien zusammen in dem Schlamme wimmelnd. Die jungen Weibchen (Fig. 2) habe noch keine Spur von den Rückenflügeln; ihre Gestalt ist wie ein Fiedelbogen gekrümmt, der Kopf noch nicht untergebogen, das Auge sehr groß, der Leib deutlich aus vier Ringeln zusammensetzt, der Schwanz aus dreien und seine Anhänge weit länger. In dieser Gestalt haben sie etwa eine halben Millimeter Länge und bis auf die Zahl der Ringel, welche bei dem Männchen bedeutender ist, gleicht ihnen dieses in Gestalt und Größe vollkommen. Beide Geschlechter besitzen also in dem Jugendzustande eine gemeinsame Grundgestalt, und während diese bei dem Männchen erhalten bleibt, artet sie gewissermaßen bei dem Weibchen mit dem zunehmenden Alter aus. Die Ringel heben sich in dem Nacken ab, stehen bald zipfelförmig hervor, und sobald diese Ausbildung begonnen und das Weibchen einen Millimeter Länge erreicht hat, schlüpft das Männchen mit seinem Kopfe unter den dritten Zipfel, hakt sich fest und läßt sich nun von dem Weibchen ruhig herumschleppen (Fig. 3). Bis zu diesem Zeitpunkte habe ich in dem freilich ziemlich undurchsichtigen Leibe des Weibchens keine Spur von Eierschnüren entdecken können; sie sind gewiß in der Anlage vorhanden, aber zu zart, um leicht sichtbar zu sein. Bald findet man die Geschlechter wieder getrennt, das Männchen unverändert, das Weibchen dagegen krümmt sich; das Auge wird kleiner; die Zipfel wachsen zu Flügeln aus, und die Eierschnüre füllen den Leib an, bis endlich in ganz erwachsenem Zustande, wo das Weibchen vier Millimeter lang geworden ist, die Eier gelegt werden.
Aus diesen aber schlüpft ein nicht minder seltsames Wesen (Fig. 4) aus – ein elliptischer Körper mit schwach angedeuteten Querringeln, einem ungeheuren, rothen, aus zwei Hälften zusammengesetzten Stirnauge; dahinter, auf der Bauchseite, eine gewaltige, dreilappige Oberlippe; der Leib erfüllt mit dunkelgrünen Dotterkugeln, die den geraden Darm verhüllen. An diesem Leibe sind drei Paar Schwimmfüße seitlich und vorn befestigt; das erste Paar einfach mit langer Endborste, die beide hinteren Paare mit doppelten Endgliedern und langen Schwimmborsten daran. Dieses Wesen entspricht der Grundform der Krebsthiere, welche der berühmte dänische Zoologe Otto Friedrich Müller „Nauplius“ genannt hat. Unser Nauplius schwimmt behende umher, während alle anderen beobachteten Formen nur langsam kriechen. Ohne Zweifel verläßt er die Seescheide mit dem von ihr ausgepreßten Wasserstrahle, tummelt sich eine Zeitlang in dem Wasser umher und schlüpft, wenn die Zeit seiner Verwandlung naht, in eine andere Seescheide ein, um dort alle jenen Phasen der Ausbildung zu durchlaufen, die man bei den Einsassen der Seescheide findet. Nur ein glücklicher Zufall wird die Zwischenformen zwischen diesen Nauplius und den jüngsten von mir beobachteten Männchen und Weibchen entdecken lassen – bis jetzt habe ich mich vergebens abgemüht, sie zu finden. Wahrscheinlich spielen sie sich theilweise im Freien ab. Wie aber in dem unendlichen Meere ein Wesen suchen, das mit dem bloßen Auge nicht sichtbar ist und durch kein noch so feines Netz in dem Aquarium zurückbehalten werden kann? Bei einer andern Gattung, welche dieselbe Seescheide bewohnt, habe ich Andeutungen der am Nauplius sprossenden Füße gesehen, aber nicht mehr.
Diese Gäste der Seescheiden sind schon lange bekannt. Thorell, ein schwedischer Naturforscher, hat eine vortreffliche Abhandlung darüber veröffentlicht; Hesse in Brest hat eine große Menge neuer Gattungen und Arten, nur in der Umgegend von Brest gesammelt, hinzugefügt, von welcher viele freilich nicht stichhaltig [813] sein mögen – ich zähle jetzt neunzig Arten in dreißig Gattungen vertheilt. Aber damit sind die Fragen, welche sich an sie knüpfen, nicht gelöst.
Ich sagte in der Ueberschrift: Gäste oder Schmarotzer? Gäste, welche Wohnung und Kost haben, welche sich zwar nicht, wie echte Schmarotzer, auf Kosten des Leibes ihres Wohnherrn nähren, die aber vielleicht auf dem besten Wege sind, es zu werden. Alle diese Gattungen und Arten zeigen eine stufenweise Rückbildung der Sinnesorgane und der Bewegungswerkzeuge. Die Jungen haben ausgebildete Schwimmfüße und große Augen – alle bis jetzt beobachteten Nauplius schwimmen lebhaft umher. Die Alten kriechen oder hüpfen höchstens – die Schwimmbeine, wenn auch zahlreicher und nach demselben Plane gebildet, taugen dennoch nur zum Kriechen und Krabbeln; bei dem Weibchen namentlich wird der Körper durch die Entwickelung der zahlreichen Eier zu schwer. Die Augen der Alten verschwinden zuweilen ganz; bei den meisten sind sie auffallend kleiner, als bei dem Nauplius. Dieses Schwinden der Bewegungs- und Sinnesorgane ist aber charakteristisch für festsitzende und schmarotzende Thiere, bei denen sie schließlich vollkommen zu Grunde gehen.
So stehen denn diese kleinen Krebsthiere mitten inne zwischen den beiden Endpolen der Bildung: hier Freiheit, dort Schmarotzerthum. Sie leben in der dunklen Eingangshöhle des Wirthes, wo sie weder viel zu sehen brauchen, noch große Bewegungen ausführen können, aber sie haben noch so viel Bewegungsfähigkeit, um in dem wechselnden Wasserstrome, der sie umspült, sich ihre mit eingespülte Nahrung verschaffen und sie der Seescheide vor dem Munde wegschnappen zu können. Gerade dieses Verhältniß aber, dieses Schwanken zwischen zwei Extremen verleiht dem Studium der seltsamen Sackbewohner einen erhöhten Reiz; denn es handelt sich jetzt nicht mehr darum, theoretische Gebäude auf einigen wenigen Thatsachen aufzurichten und mit einigen Schlagwörtern ganze Entwickelungsprocesse abzuthun, es handelt sich vielmehr darum, im Einzelnen die Wirkungen zu verfolgen, welche die Anpassung an gewisse Lebensbedingungen hervorgerufen hat. Hier hat man es mit Thieren zu thun, die eine bleibende Wohnstätte gefunden haben, welche sie nicht mehr verlassen, aber die Wohnstätte ist eine Dunkelkammer, von heftigen Wasserstrudeln durchströmt, welche ihnen zwar Nahrung zuführen, aber zugleich auch sie fortzureißen drohen. Das schwächere Männchen klammert sich an das stärkere Weibchen an – es ist auf dem besten Wege, dessen ewiger Beisasse zu werden, wie dies bei vielen anderen Schmarotzerkrebsen der Fall ist; die drei Schwimmfüße des Nauplius sind Fühlhörner, Klammerhaken und Kauwerkzeuge bei beiden Geschlechtern geworden; die später gesproßten vier Beinpaare gestatten nur humpelndes Kriechen und Festhalten; die Augen stehen auf dem Punkte zu verschwinden – alle diese im Zuge befindlichen Veränderungen können wir bei anderen Gattungen, die aus Insassen wirkliche Schmarotzer geworden sind, verwirklicht sehen.