Fluthwellen und Sturmfluten
[71] Fluthwellen und Sturmfluthen. Selten ist Blick und Theilnahme unseres Volks so anhaltend und lebhaft nach unseren Nordmeeren gerichtet gewesen, als seit der November-Sturmfluth, die unsere deutschen Landsleute am ganzen Saum der Ostsee so furchtbar heimgesucht hat. Daß mit der Theilnahme für die See-Anwohner auch die Wißbegierde sich regt und den Wunsch erzeugt, vom Leben und Weben der Fluth in Ruhe und Sturm einige Kenntniß zu erlangen, ist natürlich, und so glauben wir einem ziemlich allgemeinen Verlangen der Binnenländler nachzukommen, wenn wir die nachfolgende kurze Skizze mittheilen.
Die Gewässer des Meeres werden durch vier Ursachen in Bewegung gesetzt: durch die Strömungen, durch die Gezeiten (Ebbe und Fluth), durch die Erdbeben und durch die Winde. Die Strömungen erhalten das Wasser in beständigem Umtriebe vom Aequator nach den Polen und zurück; sie werden bedingt durch Verschiedenheiten an Salzgehalt und Temperatur der einzelnen Meerestheile und bewirken einen steten Ausgleich derselben. – Die Gezeiten sind weitreichende, durch die Anziehungskraft von Sonne und Mond bewirkte, langsame Schwingungen des flüssigen Elementes, welche im periodischen Wechsel von fast zwölf und einer halben Stunde wiederkehren. In Binnenmeeren sind sie kaum fühlbar; an den langgestreckten Küstenlinien der Continente beträgt der Unterschied zwischen Ebbe- und Fluthmarke nur einige Fuß, vergrößert sich aber bedeutend in den einspringenden Winkeln der Küsten und wächst in tief einschneidenden, sich verengenden Buchten bis zu vierzig, sechszig und siebenzig Fuß. In einzelnen Strömen wälzt sich oft die rückkehrende Fluth in Form einer flüssigen Mauer viele Meilen weit mit großer Schnelligkeit landeinwärts.
Diese Erscheinungen finden jedoch regelmäßig statt; mit ihnen ist der Mensch vertraut; er kennt ihre Zeit und ihre Macht und weiß sich zu schützen. Anders steht er den ungeheuren Fluthwellen gegenüber, welche durch Erdbeben oder Stürme erzeugt werden und welche plötzlich hereinbrechen. – Wenn Erdbeben den Boden der Oceane erschüttern und plötzliche Hebungen oder Senkungen ausgedehnter Strecken verursachen, sucht das Meer sein dadurch gestörtes Gleichgewicht wieder herzustellen und fluthet in ungeheurer Bewegung hin und zurück. Auf offener See werden die entstehenden, weniger hohen als außerordentlich breiten Fluthwellen kaum verspürt; erreichen sie aber Untiefen, treffen sie auf Widerstand, wie die Küsten ihn bieten, so thürmen sich die pfeilschnell und mit furchtbarer Wucht heranrollenden Wassermassen zu unglaublicher Höhe, oft bis weit über hundert Fuß hoch, auf. Schiffe werden von ihren Ankern gerissen und hoch auf’s Land geschleudert, die mächtigen Steindämme der Hafenbauten, Häuser, ganze Ortschaften im Nu hinweggewaschen, Inseln gänzlich überfluthet. Selten erhalten die Bewohner der Küsten rechtzeitige Warnung; Flucht ist kaum möglich. Zuweilen strömt das Meer erst von der Küste hinweg, oft für Stunden meilenweit den Grund bloßlegend; dann kehrt es mit ungeheurer Gewalt zurück; drei, vier mächtige Wogen stürzen sich in rascher Folge hoch über das Land – und das Schreckliche ist geschehen.
Die Cyclone (siehe meinen Aufsatz im Jahrgang 1870, Seite 153) verursachen ähnliche Fluthwellen. Im Centrum des Sturmes werden große Wassermassen aufgehäuft und üben, sobald sie vom Druck befreit sind, eine entsprechende Gegenwirkung aus. Von solchen Fluthwellen wurde in Ostindien, im December 1789, die Stadt Coringa mit zwanzigtausend Einwohnern verschlungen; im Juni 1822 am Ganges die Stadt Burisal mit fünfzigtausend Einwohnern; im Mai 1833 an der Bai von Bengalen dreihundert Dörfer und zehntausend Menschen; im October desselben Jahres an der nämlichen Bai (Hugly-Mündung) sechshundert Ortschaften mit fünfzigtausend Menschen. Der berüchtigte Orkan von 1780, welcher die Westindischen Inseln in entsetzlicher Weise verheerte, vernichtete Hunderte von Schiffen und trieb die Gewässer des Golfstromes in den Busen von Mexico zurück, so daß das Meer dreißig Fuß über die Fluthmarke stieg. Wohl über hunderttausend Menschen verloren dabei ihr Leben.
Doch nicht nur die Tropengegenden leiden durch solche Unglücksfälle, aus deren langer Reihe hier nur einige herausgegriffen sind, auch die gemäßigten Zonen werden, wenn auch seltener, von ihnen heimgesucht. Im Jahre 1282 durchbrachen Fluthwellen die mächtigen Deiche, durch die sich Holland gegen die Uebergriffe des Meeres schützt, und bildeten die Zuider-See; 1421 fielen dort einer andern Fluth zweiundsiebzig Dörfer und hunderttausend Menschen zum Opfer; 1686 vernichtete eine dritte Fluth fünfundzwanzig Dörfer und zehntausend Menschen.
Das letzte schreckliche Ereigniß dieser Art ist die Stumfluth vom 13. November vorigen Jahres, welche einen Theil der Ostseeküste Deutschlands und die dänischen Inseln heimsuchte. Dort waren es nicht durch Erdbeben oder Cyclone erzeugte Fluthwellen, welche plötzlich über jene Küsten hereinbrachen, es war eine wirkliche, allmählich steigende Sturmfluth, welche durch einen lange aus derselben Richtung blasenden Sturm verursacht wurde. Ein Blick auf die Karte lehrt, daß dieser Sturm aus Nordost das Becken der Ostsee in seiner ganzen Länge bestrich; bei seiner Stärke und langen Dauer mußte er große Wassermassen vor sich hertreiben und im westlichen Theile des Beckens um so mehr anhäufen, als die dort plötzlich nach Norden ausspringende Küste und die nach Norden vorgelagerten dänischen Inseln ein rasches Abfließen unmöglich machten. Die sich immer höher stauenden Gewässer mußten endlich die meist flachen Ufer überschreiten. Durch den furchtbaren Anprall der Wogen wurden die vorhandenen Dämme zerstört, die langgestreckten Dünenreihen durchbrochen, und die tosenden Wasser ergossen sich über die schutzlosen Ländereien, in Verbindung mit dem rasenden Sturm alle Gräuel der Verwüstung über den Menschen und seine Werke bringend. Von welcher furchtbaren Art die Verheerung – das haben alle Zeitungen geschildert.