Frauenleben im Weltkriege/Unentbehrlich

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Der Ruf aus Tsingtau Frauenleben im Weltkriege
von Aurel von Jüchen
Gott strafe England!
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Unentbehrlich


Der grausame Wirbelsturm Krieg hatte das üppige Ahnenschloß des französischen Grafen Lapierre in ein Lazarett umgewandelt. Vor den vergoldeten Eingangsgittern standen feldgraue Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten, und die langen Gänge mit getäfelten Wänden durcheilten Ärzte, Johanniter, Krankenwärter. Fast ausschließlich Schwerverwundete lagen in dem Schloß, und es verdiente redlich den ihm von den Soldaten beigelegten Namen „Totenschloß", denn fast täglich bewegte sich beim dumpfen Schall der Trommel ein kleiner Leichenzug hinaus, und das gemeinsame Kriegergrab wölbte sich immer länger.

In einem der Krankenzimmer war eine hohe, schlanke, noch jugendliche Frauengestalt, vom schwarzen Schwesternkleid umflossen, fast erschöpft in einem der Sessel mit vergoldeter Grafenkrone niedergesunken. Schrecklich war die Nachtwache gewesen, die hinter der Krankenschwester lag. Ein schlesischer Landwehrmann, eine Art Goliath, hatte stundenlang gefiebert. Mit Kompressen und kühlender Arznei war die Schwester die ganze Nacht bei ihm tätig gewesen, und als der langbärtige Krieger tobend nach seiner Frau schrie, als er aus dem Bett springen, als seine arme, fiebernde Hand den Verband fortreißen wollte, hatte sie diese in ihre Hände genommen und wohl eine Stunde lang ihn durch liebevolle Worte zu beruhigen gesucht. Danach war sie den Feldpater holen gegangen, der dem Mann die Sakramente gab, und dann drückte, — o Wunder! — anstatt des erwarteten Todesengels sein holder Bruder Schlaf dem müden Kämpfer die Augen zu, sein dünner Lebensfaden [82] faden war der Schere der Parze vorläufig entrückt, mit ruhigen Atemzügen sank der Goliath unter den lateinischen Gebeten des Paters, mit dem Kopf noch auf dem Arm der Schwester ruhend, in einen sanften Schlummer, der vielleicht seine Rettung wurde, „S'ist ein schwerer Beruf hier, Schwester Helene!“ hatte ihr der Geistliche mit herzlichem Händedruck zum Abschied gesagt. „Aber heute schien Segen darauf zu ruhen, es ist ein erhabener Beruf“, war ihre Erwiderung.

Wie oft hatte sie dieses Wort vom schweren Beruf schon gehört! Noch dachte sie darüber nach, während die Morgensonne hell und golden durch die hohen Bogenfenster mit den feinen weißseidenen Gardinen lachte und die lieblichen Malereien der Zimmerdecke beleuchtete. Da waren Amoretten, die auf Rosenwölkchen schwebten und hinter Blumen Verstecken miteinander spielten; welch bunte Phantasie hatte sich hier durch Künstlerhand verewigt! Auch Schwester Helene hatte einst Malerei erlernt. Sie mußte lächeln: „Was lernte ich nicht alles in der Jugend!“ dachte sie. „Malen, Musizieren, fremde Sprachen, sogar stehend Reiten, und jetzt an dieser Jammerstätte! ... Früher glich ich jenen Amoretten und habe wie sie viel Lust und Freude gesehen; jetzt sehen wir nichts als Jammer. Doch ich kann mich nützlich machen, indem ich Jammer lindere“, sprach sie tröstend zu sich selbst. Vor ihrer träumenden Seele schwebte in flüchtigen Bildern ihr Leben vorüber: Ihr Kinderland mit dem schimmernden Elternhaus als Mittelpunkt, das Frühlingsgefild ihrer Mädchenjahre, ihr Eintritt ins Leben durch die goldenen Pforten feiner Gesellschaft als lachende Prinzessin an der Hand ihres Vaters, des glänzenden Offiziers, dann kam ein ihr Dasein umwälzender Schicksalsschlag, — ihr fröstelte, — ihr Vater verlor durch einen Jagdunfall jäh das Leben, ihr Mütterchen folgte ihm bald, und dann kam für sie ein Dornenweg. Sie hatte sich nützlich machen wollen, ihre Kenntnisse verwerten durch Kindererziehung und Musikunterricht. Ernsthaft war sie bemüht gewesen, doch ihre [83] stolze Seele konnte nicht das Gefühl verwinden, daß alle Arbeit ihr nur aus Gunst übertragen wurde, daß sie ihren Erwerb anderen entzog, die nicht minder bedürftig waren, als sie, und ihr munterer Sinn war fast untergegangen in dem düsteren Gefühl, daß sie und ihre Arbeit in der überwogenden Menge überflüssig und entbehrlich seien.

War es jetzt anders? Als sie sich vor zwei Jahren bei den Schwestern des Roten Kreuzes melden wollte, hatte man sie dringend gewarnt: „Es ist ein zu schwerer Beruf!" Aber gerade in dem schweren Beruf war ihr Herz leichter und heller geworden. Dann kam der Krieg. Das Soldatenblut ihres Vaters wallte in ihr auf, alle Kräfte ihrer Seele vermählten sich in dem Bestreben, durch Pflege der verwundeten Krieger dem Vaterlande zu dienen, sie drängte sich aus innerstem Triebe zu immer neuen Pflichten, die niedrigsten Handreichungen der Pflege wurden ihr eine heilige Arbeit, sie frug nicht mehr, ob auch andere an ihrer statt diese verrichten könnten, ja, auch das rosige Amorettendasein ihrer Jugend schien ihr fade gegen die Süßigkeit dieser Opferlust im Dienste des Vaterlands und der Menschenliebe. So war sie von Deutschland nach Frankreich, nach dem „Totenschloß“ entsandt worden. Der Chefarzt hatte ob ihrer Jugend zunächst allerlei Unfreundliches in den Bart gebrummt, doch bei ihr stand der Entschluß fest: Hier wich sie nicht mehr, denn hier winkte ihr der köstlichste Lohn, unentbehrlich zu werden. Würde sie ihn erreichen?

Ihren Gedankengang unterbrach der Eintritt des Chefarztes und ihrer Ablösung. „Schwester Helene“, sagte der Arzt, nachdem sie Bericht erstattet, „ich darf es Ihnen nicht zumuten, aber ich muß. Der Wärter von Zimmer 7 ist erkrankt, und nur Sie können ihn vertreten. Wollen Sie auf Ihren Schlaf verzichten?“ „Mit Freuden“, rief Schwester Helene und machte sich auf den Weg. „Brauen Sie sich einen steifen Kaffee als Lebenselixier!“ rief der Arzt ihr nach. Schwester Helene lachte nur. Ihr Lebenselixier war doch der Gedanke, hier unentbehrlich zu werden. Nachdem [84] sie sich in ihrem Schlafzimmer mit dem müßig harrenden Bett durch eine Waschung erfrischt und die Fülle ihrer hellblonden Seidenhaare wieder sorgfältig unter der weißen Stirnbinde zurückgestrichen hatte, schimmerte ihr hübsches, zartes Gesicht wie ein Rosenblatt, und aus ihren blauen, klaren und doch so tiefen Augen funkelte Menschenliebe, wie die Sonne aus Tautropfen. Doch auch ihre Seele pflegte sie jeden Morgen in die richtige Verfassung zu bringen. „Stimmung!“ rief sie sich selbst zu. „Alles, was an Frohmut in mir ist, heraus an die Oberfläche! Licht soll aus mir in das trübe Leben der Kranken dringen!“ Mit diesen Vorsätzen ging sie die Treppe hinunter nach Zimmer 7. Hier lagen nur solche Kranke, bei denen die Lebensgefahr geschwunden war. „Nun, geht es euch allen gut?“ rief sie mit ihrer hellen Stimme ins Zimmer hinein, und frohe Antwort schallte ihr aus den zwanzig Betten entgegen. Dann öffnete sie die Jalousien, das Morgenlicht flutete herein wie ein Bergstrom, und sie begann ihre Arbeit. Es waren niedrige Verrichtungen, aber in ihren feinen Händen lebte die Liebe und adelte den unfeinen Dienst. Wie artige Kinder behandelte sie ihre Kranken, obwohl die meisten älter als ihre dreiundzwanzig Jahre waren. „Unteroffizier Hagemann“, rief sie, „wollen Sie wohl die Arme unter die Decke strecken!“ „Herr Reuter, da liegen Sie nun wieder auf der Seite, und der Doktor will doch, daß Sie auf dem Rücken liegen.“ Auch erzählen konnte sie. Die Kriegserlebnisse ihres Vaters von 1870/71 wurden in dem französischen Grafenschloß durch ihren Mund wieder lebendig und mischten sich mit den Erzählungen der Verwundeten von ihren Taten und Strapazen zu einer Unterhaltung, bei der jeder mit doppeltem Behagen empfand, wie geborgen er hier in treuer Pflege war. Die Schwester leitete die Unterhaltung. Dem fast ergrauten Schulmann von der Artillerie, der fast immer strategische Auseinandersetzungen brachte, entzog sie das Wort, wenn er kein Ende fand. Dem bayrischen Landwehrmann mit dem kindlichen Gemüt, der jeden Satz mit einem fürchterlichen Fluch beschloß, [85] klopfte sie bisweilen auf den Mund, und den kleinen Husar, auf den hundert Franzosen auf einmal geschossen, und der noch lebendig war, mahnte sie bisweilen: „Nun lügen Sie doch nicht so unverschämt, Sie sind doch kein englischer Minister!“ Gerade war die Unterhaltung im besten Fluß, da tönte es draußen: „Tati“, „Tata“, mehrere Autos fuhren vor. Schwester Helene stürzte ans Fenster. Ein Freudenschrei: „Unser Kaiser ist da!“ Noch einige Anordnungen, das Zimmer ist tadellos, alle Insassen sind erzbereit, und schon öffnet sich die Tür. Der Kaiser tritt ein. „Guten Morgen, Kameraden!“ ruft er mit warmer Stimme. Dann geht er von Bett zu Bett, hat für jeden ein labendes Wort, erzählt das Neueste vom Kriegsschauplatz, der frische Lenzhauch der Siegeszuversicht durchweht den Krankensaal und läßt die Gesichter der armen Märtyrer in Glanz und Glut höchster Lebensfreude blinken; endlich spricht der Kaiser: „Na, Kameraden, habt ihr nun noch irgend etwas zu wünschen?“ Mit leuchtenden Augen blicken alle zu ihm auf: Was kann nach solcher Huld noch zu wünschen bleiben? Doch einen jungen, rheinländischen Dragoner, dessen Humor trotz einer Schußwunde in der Brust und eines Bajonettstichs in der Schulter ganz unversehrt geblieben war, juckt der Schalk. „Zu wünschen haben wir eigentlich nichts, Majestät“, ruft er, „aber wenn wir durchaus was wünschen sollen, dann wünschen wir, daß Schwester Helene uns etwas öfter hier Gesellschaft leistet.“ Erstaunt blickt der Kaiser den Chefarzt an, der die vor Verlegenheit glühende Schwester herbeiwinkt. „Schwester Helene“, sagt der Arzt, „hat sich mir geradezu unentbehrlich gemacht, und durch ihr freundliches Wesen ist sie, wie Ew. Majestät hier hören, auch den Verwundeten unentbehrlich geworden.“ „Dann beglückwünsche ich Sie, Schwester", ruft heiter der Kaiser und drückt ihr herzhaft die feine Hand. „Wenn Sie so unentbehrlich sind, haben Sie ja mehr erreicht, als irgendein Mensch.“ „Na, euer Wunsch scheint mir begründet“, wendet er sich an die Soldaten, „er soll nach Möglichkeit erfüllt werden. Lebt wohl, [86] Kameraden!“ Noch einmal grüßt der hohe Herr Schwester Helene mit seinen gütigen Augen und verläßt den Saal. Der Rheinländer dämpft einen blitzenden Freudenschrei, der Bayer einen donnernden Fluch durch Überziehen der Decken, aus allen Betten quellt verhaltenes Frohlocken, Schwester Helene aber steht wie erstarrt in einem Wirbel glückseliger Gefühle. „Unentbehrlich!“ denkt sie, „und das soll ein schwerer Beruf sein, ein göttlicher ist's. Herrgott, ich danke dir!“ Dann aber poltert sie los: „Es ist wirklich zu arg mit euch ungeratenen Jungens, ich bin fast in die Erde gesunken. Jetzt geht's aber nicht anders, Kinder, und wenn wir die ganze Lazarettordnung in die Brüche brummern, wir singen: Heil dir im Siegerkranz!“ Volltönig in gemischtem Chor braust das Lied aus Zimmer 7 durch das „Totenschloß“.