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Frauenleben im Weltkriege/Der Ruf aus Tsingtau

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Heilige Einfalt Frauenleben im Weltkriege
von Aurel von Jüchen
Unentbehrlich
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Der Ruf aus Tsingtau


Frau Hermine, die schöne, geistreiche, verwöhnte Gattin des Rechtsanwalts und Landwehrhauptmanns Gärtner, saß an ihrem zierlichen Schreibtisch und las mit fast feindlich blickenden Augen folgenden, monatealten Brief an ihren Mann:

„Liebster Hugo! Ich wollte tapfer sein, aber ein heute über uns hereingebrochenes Unglück schlägt alle guten Vorsätze in Scherben. Denke Dir, unser Felix soll vom Besuch der Schule ausgeschlossen werden, weil er und Hans Ostwald die Arbeitshefte früherer Tertianer zum Abschreiben ihrer Arbeiten benutzt und auch anderen Schülern geliehen haben. Ich besuchte seine Lehrer, die ihn rücksichtslos als den fahrlässigsten, zerstreutesten, pflichtvergessensten Schüler bezeichnen. Vergebens wies ich darauf hin, daß Felix ein zartbesaiteter Junge ist, mit dem man Nachsicht üben muß. Man lächelte, der Direktor machte sogar seine Witze über den Vorfall. In halb Europa, fagte er, werden alle Brücken scharf bewacht, und wir dürfen bei den Eselsbrücken Ihres Sohnes die Augen nicht zudrücken. Oh, wie ich diese Professoren verabscheue, aber wie machtlos stehe ich als Kriegersfrau ihnen gegenüber! Du opferst Dich für Deutschlands Zukunft, und derweil zerschellt unsere eigene Zukunftshoffnung, denn was soll aus Felix werden, wenn die Drohung wahrgemacht, und er von der Schule geworfen wird? Warum mußtest Du mich gerade vor einem solchen Schicksalsschlag im Stich lassen? Ich bitte Dich dringend, Urlaub zu nehmen, damit Du die Sache bei den Lehrern in Ordnung bringst.“ [75] Frau Gärtner lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Wie fremd, wie erbärmlich erschien ihr die Frau, die vor einigen Monaten diesen Brief schrieb, und doch, diese fremde, erbärmliche Frau war sie selbst. Die Vorfälle jenes Unglückstages schwebten nochmals an ihrem Geist vorüber. — Als sie den Brief geschrieben, wollte sie ihn persönlich zur Post bringen. Unterwegs sprach sie eben bei Frau Ostwald, ihrer Freundin und Leidensgenossin, vor. Diese saß im Zimmer, ein Waschbecken und Salbentöpfchen vor sich. „Bist du krank?“ „Nein, Hermine, aber ich habe meinen Hans verprügelt.“ Dann hatten sie beide ihre Klagen ausgetauscht über die Schule, die Lehrer, den Krieg, der auch Herrn Ostwald entführt hatte, und schließlich über die edlen Spießgesellen Hans und Felix. „Du kannst nichts Besseres tun, als Felix ebenfalls verprügeln“, hatte Frau Ostwald gesagt. „Kloppstock ist das einzige Mittel; und wenn dich danach die Hände schmerzen, ist dies das einzige Mittel: du nimmst Schwanencreme und reibst ein.“ Mit diesem Rat war Frau Gärtner gegangen. Jackenfett für den Jungen, Schwanenfett für sie. Fast mußte sie darüber lachen, daß durch die zwei Fette das gesunkene Pflichtgefühl bei Felix gehoben werden sollte. Sie wußte ja selbst, daß ein frischer, fröhlicher Klaps bei Unarten gut am Platze ist, aber je mehr sie über Felix nachdachte, um so tiefer schien ihr das Übel bei ihm zu stecken. Wo hatte sie nur einst gelesen von jungen Menschen mit krankem Hirn und morschem Herzen? Wenn sie so manches bedachte, sein schweigendes, träumerisches, zurückgezogenes Wesen, die oft hervorspringende Lieblosigkeit, die Verachtung seiner Pflichten, all dies Unmännliche in seinem Charakter, dann paßte gerade für Felix das Bild vom kranken Hirn und morschen Herzen.

In finsterem Sinnen ging sie weiter. An einem Laden sah sie eine Gruppe Menschen vor einem neuen Extrablatt versammelt. Neugierig trat sie hinzu und las die strotzenden Zeilen: „Einstehe für Pflichterfüllung bis zum Äußersten“, hatte Mayer-Waldeck aus Tsingtau telegraphiert. [76] Wie ein eherner Schlag pochte jedes dieser Worte an ihr Herz, Worte aus einer fernen Welt, nicht nur räumlich, auch geistig fern, komprimierte Worte, die sich in ihrer Seele zu Gestalten und Gedanken lösten. Sie sah im Geist das Häuflein Getreuer auf der fernen Wacht, das hier gelobte, Blut und Leben zu verspritzen, um seine Pflicht zu erfüllen. Wie stolz konnte Deutschland auf solche Söhne sein. Und sie selbst hatte einen pflichtvergessenen Sohn. Hastiger eilte sie vorwärts, als wollte sie diesem Gedanken entrinnen; jetzt war sie an der Post, jetzt rief sie ihren Mann zurück zum Beistand gegen ihren eigenen Gedanken. Langsam schob sie den Brief unter die metallenen Zähne des Briefkastens, da war es ihr, als ob ihr Gedanke körperlich neben ihr stehe, leise ihre Hand faßte, und diese zurückzöge mitsamt dem Brief.

„Nein“, sagte der Gedanke, „sende den Brief nicht ab! Dein Mann erfüllt draußen seine Wehrpflicht, und du zeigst dich wehrlos deinem Knaben gegenüber, hast denn du deine Pflichten erfüllt?“

„O gewiß“, verteidigte sie sich, „meine Mutterpflichten. Habe ich meine Kinder nicht einst betreut bei Tag und Nacht, war nicht die Kinderstube meine Welt?“

„Und heute?“ fragte der Gedanke streng.

„Je nun, ich erfülle doch meine Pflichten, ich verwalte mein Hauswesen, kleide mich geschmackvoll, man bewundert mich als liebenswürdige Wirtin.“

„Und das hältst du für wichtiger, als die geistige Entfaltung einer Menschenblüte, deines Sohnes?“ —

„Ich kann doch nicht seine lateinischen und griechischen Arbeiten prüfen.“

„Das ist nebensächlich“, trotzte der Gedanke, „die Zweige wachsen von selbst, wenn die Wurzel gut ist, du hast die Wurzel, sein Pflichtgefühl, verkommen lassen.“ —

Immer heftiger setzte der Gedanke ihr zu: „Unsere Soldaten trotzen allen Entbehrungen, trotzen dem Tod, lassen sich zu Krüppeln schießen in Erfüllung einer idealen [77] Pflicht. Was aber nutzen alle Opfer, wenn das künftige Geschlecht nicht ebenso stark und pflichttreu ist?“ —

„Wie Deutschland von Feinden umringt ist, so umlauern jeden im Leben feindliche Tücken. Was wäre aus Deutschland geworden, wenn es nicht stark war, und deinen Sohn läßt du zum Schwächling entarten?“

„Ich glaube, es ist zu spät“, klagte Frau Gärtner kleinlaut; aber der Gedanke gab keine Ruhe:

„Du mußt es versuchen, so gut wie das kleine Häuflein Getreuer in Tsingtau auf verlorenem Posten seine Pflicht erfüllt bis zum Äußersten.“

Sie hatte das Extrablatt gekauft und las nochmal die Worte. Ihr war, als ob sie geheimnisvolle Kräfte ausströmten, und tief holte sie Atem, um alle diese Kraft in ihre Brust zu saugen. Auch ihr Herz drängte sie zu ihrem Jungen; er war ja krank, sie wollte ihn heilen. Es war ihre Pflicht. Immer entschlossener, mutiger wurde sie. Die Helden von Tsingtau waren doch von ihrem Volke, warum sollte sie nicht ebensogut ihre Pflicht erfüllen können bis zum Äußersten.

Sie kam nach Hause. „Felix!“ Trotzig schlich der Junge herbei, er machte ihr die Unterredung anfangs schwer. Mit Schrecken gewahrte sie, wie fremd er ihr schon geworden war. Sie gab nicht nach. „Bis zum Äußersten!“ dachte sie. Wie sehr er sein Herz verschloß, ihre Liebe erzwang sich den Zugang, und sie erkannte unter der Schale des Trotzes, der Mißachtung doch noch einige Fädchen der Liebe, an die sich anknüpfen ließ. Dann legte sie ihm die Depesche aus Tsingtau vor und rief alle Knabenträume von Kraft und Heldentum in ihm wach. „Deutschtum heißt Pflichterfüllung“, sagte sie mit liebewarmem Ton, „komm, Felix, wir beide wollen unseres Volkes würdig werden!“ Gott Dank! auch diese Saite begann zu klingen, um den Hals fiel ihr Felix und weinte, aber sein finsterer Blick leuchtete aus unter den Tränen, und seine Mutter hätte am liebsten Hurra gerufen. Dann wurde ein Plan gemacht, und die Arbeit begann. Keine Grammatik, [78] matik, kein Mathematikbuch war mit soviel Siegeln verschlossen, daß die schöne Frau Hermine nicht eindrang. Sie hatte viel zu tun, Frauendienst, Liebesdienst, — aber sie lief mit der galoppierenden Zeit um die Wette, um für ihren Sohn und das gemeinsame Studium Muße zu gewinnen. Sie hatte sich immer einmal eine größere Aufgabe für ihr Leben gewünscht, jetzt glaubte sie eine solche gefunden zu haben, die sie befriedigte, die Schwung in ihr Leben brachte. Auch Felix leuchtete auf.

Wieder einmal hatte Frau Gärtner heute die Lehrer besucht. Sie kam nicht mehr als Bettlerin, man war sehr zufrieden mit Felix. „Eine ganz merkwürdige Metamorphose ist mit Ihrem Jungen vor sich gegangen“, sagte der Direktor, „ich staune ihn oft an wie ein Welträtsel.“ Ihr Gatte hatte dieses Mal in sehr nachdrücklicher Weise wegen der Kinder, besonders wegen des Filius angefragt, nun wollte sie ihm einmal einen ausführlichen Bericht schreiben. Wieder begann sie:

„Liebster Hugo!“ Und nachdem sie die ersten Punkte seines Briefes beantwortet, kam sie an die Frage nach den Kindern und schrieb:

„Das Vaterland, wie wir es von den Vätern ererbten, ist sicher der höchsten Opfer wert, daß es aber zu gleich das Land der Kinder ist, wiegt noch schwerer. Es bietet uns insofern ein Stück Himmel auf Erden, als wir in Deutschland etwas ewig Dauerndes sehen und so unser irdisches Tagewerk mit einem unvergänglichen Werk, dem Vaterland, verflechten dürfen. Wenn Du nun im Feld für die Erhaltung Deutschlands kämpfst, kannst Du es mit dem Bewußtsein tun, daß Deine Kinder sich nach menschlicher Voraussicht der hohen Opfer einst wert erweisen werden, und daß namentlich Felix, auf den es ja im allgemeinen und bei Deiner Anfrage besonders ankommt, sich bis heute zu einem tüchtigen, pflichtbewußten deutschen Jüngling entwickelt. Ich selbst habe mich, seitdem Du im Feld bist, um seine Studien mehr als früher bekümmert, und ich danke Gott für diese Tätigkeit, die mir über die Qualen [79] der Trennung von Dir hinweghilft und meinem Leben als Kriegersstrohwitwe einen edlen Inhalt gibt. Also sorge Dich nicht um uns, liebster Hugo, ich könnte, wie Meyer-Waldeck aus Tsingtau Dir antworten: Einstehe für Pflichterfüllung bis zum Äußersten; und mir ist die Pflichterfüllung besonders süß, weil sie mich Dir näher bringt, mich Deiner würdiger macht, und ich sie auch aus Liebe zu Dir verrichte. Du sollst bei Deiner Rückkehr Freude an den Kindern haben.“

Hier wurde die Briefschreiberin unterbrochen, denn Felix, ein frischer, fröhlicher Junge, trat ein. „Mutting, Tsingtau ist gefallen“, rief er mit schmerzlichem Ton, und auch dem Herzen der Mutter entpreßte die Nachricht ein stöhnendes „O Gott!“ „Aber Mutting“, fuhr Felix fort, „unsere Besatzung hat drei Monate lang, zuletzt gegen eine fünfzehnfache Übermacht, Widerstand geleistet; erinnert das nicht an die Tat des Leonidas und seiner dreihundert Unsterblichen?“ „Es ist ein leuchtendes Beispiel von deutscher Kraft und Pflichttreue“, erwiderte die Mutter, „wie stolz müssen wir auf ein Volk fein, das solche Männer hat.“ „Bin ich auch, Mutting“, rief Felix, und aus seinen Augen blitzte Feuer, wie es der Stahl aus dem Stein schlägt. Dann wandte er sich zur Tür, doch bevor er das Zimmer verließ, fügte er mit verhaltener, herber Kraft hin zu: „Mit dem Stolz ist's nicht genug. Der Name Tsingtau soll mir wie ein Stern auf dem Weg der Pflicht leuchten, und das Stück Erde erobern wir auch noch mal zurück.“

Die schöne Frau Hermine lehnte sich in den Sessel und schloß die Augen. Wie mochte die Zukunft ihres Sohnes sich gestalten? Greuliche Nebelgestalten, lichte Bilder wechselten vor ihrem Blick. Dann schalt sie sich: „Welch müßiges Träumen! Das Schicksal ruht in Gottes Hand.“ Jedenfalls war Felix auf dem Weg, ein Charakter, ein deutscher Mann zu werden, er war nicht mehr krank und morsch im Herzen. Als sie ihren Brief vollendet hatte, trat sie an das flackernde Feuer im Ofen und warf den alten, nicht abgesandten Brief hinein. Wie ein Freudenrausch [80] kam es über sie, als sie ihn in der Glut verschwinden sah. „So“, dachte sie, „verbrenne all unser undeutsches Wesen in den Flammen des Krieges!“ Dann ging sie zur Post, und während sie den neuen Brief an ihren Gatten nun wirklich in den Briefkasten versenkte, flüsterten ihre Lippen nochmal leise, wie einen Liebesgruß, die ehernen Worte: „Einstehe für Pflichterfüllung bis zum Äußersten.“