Frauenleben im Weltkriege/Heilige Einfalt

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Industria Frauenleben im Weltkriege
von Aurel von Jüchen
Der Ruf aus Tsingtau
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Heilige Einfalt


Mein Freund Max hatte etwa ein Jahr vor Ausbruch des Krieges seine geliebte Anita heimgeführt, ein schlankes, zartes, feines Geschöpfchen, man hätte sie wohl mit einem Rosaseidenzwirn vergleichen können oder einem jener süßen hohen Geigentöne der E-Saite, die sich langgezogen aus dem Dasein heraussingen. Max, der wohlbeleibte Recke, nahm sich schwerfällig aus neben seiner Prinzessin, aber beider Herzen klangen so gut zusammen, wie ein gewichtiges Römerglas und ein feiner Sektkelch, trotz aller äußeren Verschiedenheit.

Max hatte bei der Matrosen-Artillerie gedient und mußte sich als Maat in Cuxhaven stellen, so war für sein Leben vorläufig nicht viel zu befürchten. Ende September erfuhr ich jedoch von seiner Gattin, daß er sich schon vor einem Monat freiwillig zu dem von der Marine gebildeten Expeditionskorps gemeldet habe, das zu Land auf belgischem Boden an dem Kampf teilnahm. Sein letzter Brief, den die junge Frau mir zu lesen gab, war voll Zuversicht, aber dennoch und trotz ihres Leugnens schien mir, daß Anita sich Sorge machte. Müdigkeit dämmerte aus ihren Augen, ihre sonst so lebhafte Beweglichkeit war wie gelähmt, sie schien mir bedrückt, wie eine Apfelblüte unter der Schneelast des März. Als ich bald darauf ihre Mutter traf, begann diese gleich zu klagen. „Anita wird täglich magerer“, sagte diese Dame, die in bezug auf Körperfülle geradezu einen Gegensatz zu ihrer Tochter bildete, „sie ist ja ohnehin nur ein Püppchen, und ich fürchte, daß sie von dem Krieg noch krank wird.“ Ich suchte die Mutter zu [69] trösten, mußte aber innerlich ihre Bangigkeit um Anita begründet finden. —

Am 9. Oktober kündete ein Privattelegramm den lang erwarteten Fall Antwerpens an, und am folgenden Tage bestätigte die Depesche aus dem Großen Hauptquartier die frohe Botschaft. Die Glockentöne rauschten wie feierlicher Lobgesang, Fahnengirlanden schlängelten sich hurtig an beiden Seiten der Straße entlang, und wer sich freimachen konnte, eilte zur Siegesfeier in der städtischen Festhalle, die durch Maueranschläge auf sechs Uhr abends angekündigt war. Ich hatte kaum eine Stunde übrig, aber an solchem Tage, wo das Rad der Weltgeschichte knarrend um einen Zahn weitergerückt ist, will man doch nicht, wie Vogel Strauß, den Kopf in den Sand stecken; so eilte auch ich dorthin. Die Feier fand im Freien statt auf der Terrasse, die, von hohen Bäumen, wie von Tempelsäulen umgeben, von frohen Menschen dicht besetzt, einen weihevoll festlichen Anblick bot. Musik klang mir schon entgegen: Das Niederländische Dankgebet. Die vordere Reihe auf der Terrasse nach dem Park zu, gewissermaßen die Ehrenplätze, nahmen die Feldgrauen ein, die Verwundeten der Lazarette, hinter ihnen drängten sich die Bürger und zahlreiche Damen an weißgedeckten Tischen. Unter den Verwundeten bemerkte ich gleich einen Artilleristen, namens Jäger, den ich vor wenigen Tagen im Lazarett kennen gelernt, und der mir von den Kämpfen bei Maubeuge und dem Transport der großen Mörser von dort nach Antwerpen erzählt hatte. Ich winkte ihm grüßend zu, doch zugleich bemerkte ich an einem der hinteren Tische unter einem schwarzen Samthut Frau Anitas liebliches Antlitz zwischen dem breiten blassen ihrer Mutter und dem breiten purpurfarbenen ihres grauköpfigen Onkels Karl. Der jungen Frau wollte ich doch meine Freude darüber aussprechen, daß ihr Max jetzt in Antwerpen seinen Siegeseinzug gehalten, also schlängelte ich mich an ihren Tisch. Anitas Augen funkelten im Triumph, von dem müden Zug, der mich neulich erschreckt, war keine Spur mehr, wie junge, siegende Hoffnung sah sie aus. [70] „Max hat seine Sache gut gemacht“, rief ich, und sie übermittelte mir unter den Klängen eines neuen Musikstücks die besten Nachrichten und einen Gruß von Max, dann aber wurde unser Gespräch ernsthaft unterbrochen durch die Festrede. Worte wie Hammerschläge, denen wie klingendes Metall die erregten Herzen antworteten. Namentlich, wenn der Redner darauf hinwies, daß das einstige belgische Bollwerk Antwerpen jetzt für Deutschland ein Stützpunkt, eine Burg im Kampf gegen den Hauptfeind England werden würde, klangen die Herzen in lauten Zwischenrufen. Ich sah Anita an; ihre Augen sprühten von Begeisterung. Dann jubelten wir: „Heil dir im Siegerkranz“, stießen flammenden Herzens mit den Gläsern an und sanken dann langsam aus dem Sonnenreich der Begeisterung auf die Erde zurück.

Die Mutter erinnerte sich ihres letzten Gespräches mit mir. „Anita sieht heute viel besser aus, als sonst“, sagte sie, „aber erst seit heute morgen. Sie hat vorige Nacht einmal gut geschlafen; nun frage ich nur: Weshalb schläft sie nicht immer gut?“ Onkel Karl bemerkte: „Gestern abend habe ich ihr mitgeteilt, daß Antwerpen gefallen sei.“ „Ihre Frau Mutter hat recht“, bemerkte ich, zu Anita gewandt, „Sie sollten immer gut schlafen. Schlaf ist das beste Lebenselixier.“ „Aber wenn ich nicht kann!“ trotzte Anita. „Weshalb kannst du denn nicht?“ frug gutmütig Onkel Karl. „Das ist mein Geheimnis“, war die Antwort. „Nun rück aber mal heraus mit diesem Geheimnis!“ befahl barsch die Mutter. Die junge Frau sträubte sich nicht wenig, aber unser Zureden und ihre eigene gehobene Stimmung brachen den Bann. Endlich kam es heraus: „Ich helfe nachts die großen Kanonen schieben“, sagte Anita. Onkel Karl lachte laut auf. Die Mutter sah starr ihre Tochter an und faßte ihr Urteil in die lapidarischen Worte: „Du bist verrückt!“ Ich bezwang meinen Lachreiz und bemühte mich, wie ein Untersuchungsrichter, dem Sinn der Worte auf den Grund zu kommen. Anita schien Vertrauen zu mir zu fassen, unter wiederholtem Zögern machte sie folgendes Bekenntnis: „Wenn ich müde und matt die Augen schließe, kommt mir [71] plötzlich der Gedanke, ob draußen auch die großen Brummer zur Stelle sind, und der Gedanke läßt mir keine Ruh. Ich denke mir, diese oder jene Festung muß bestürmt werden, die Brummer würden sie leicht zusammenschießen, aber weil sie noch nicht eingetroffen sind, wie zum Beispiel in Lüttich, müssen um so mehr Soldaten geopfert werden. Eine furchtbare Angst faßt mich an. Ich sehe die großen Kanonen auf dem Marsch, langsam rücken sie weiter, ich fasse mit an, greife in die Speichen, ich drücke, schürge, schiebe mit all meiner Kraft, die Dinger sind so schwerfällig, Hindernisse halten uns auf, aber wir lassen nicht nach, denn tausende Leben stehen auf dem Spiel, so kommen wir vor der Festung an, und dann erst, wenn die großen Brummer schießen, kann ich schlafen.“ „Kein Wunder“, warf ich ein, „wenn Sie danach am Tage müde aussehen.“ „Ich weiß ja, daß es eine fixe Idee, daß es Unsinn ist“, fuhr Anita fort, „daß ich leider, leider von hier aus keine Kanonen schieben, daß ich gar nichts nutzen kann. Aber was hilft das? Ich muß. Nur gestern abend, nachdem Onkel Karl mir gesagt, daß Antwerpen gefallen sei, bin ich gleich traumlos eingeschlafen.“ Die Musik begann zu spielen und schnitt eine weitere Unterhaltung ab, nur von der treuen Mutter Mund klangen nochmal, wie das Rasseln eines Fallbeils, die Worte: „Du bist verrückt.“ Ich hätte der Mutter fast recht gegeben; solche Ansichten von den Kruppschen Knalldroschken waren doch zu kindlich, aber anderseits stand ich staunend vor der Tiefe des Gemüts, der Weichheit der Empfindung, mit der diese junge Frau an dem Schicksal unserer Krieger teilnahm. Meine Augen ruhten auf ihrem Händchen. Wie ein zierliches Kunstwerk von Elfenbein erschien es mir, die Fingerchen waren so dünn und zart, wie Spinnweben und Mondesschimmer, und mit diesen griff die Prinzessin im Traum in die Speichen der großen Brummer und schob und schürzte! Da fiel mir der verwundete Artillerist ein, Herr Jäger, ich ging zu ihm und konnte den Feldgrauen gleich nach Beendigung des Musikstückes an unserem Tisch vorstellen. „Ein kölnischer Junge“, fügte ich hinzu, „der [72] zwei 42-Zentimeter-Mörser von Maubeuge nach Antwerpen begleitet hat.“ „Bitte, Herr Jäger“, fuhr ich fort, „er zählen Sie doch den Damen mal etwas von den Riesenkanonen!“ Und Herr Jäger begann: „Wir hatten ein Pärchen dieser Mordinstrumente von Maubeuge nach Antwerpen zu befördern. Die Mörser treten nämlich auch paarweise auf, wie die Frankfurter Würstchen, oder die Menschen: Es müssen immer zweie sein. Aber dieses Pärchen ist von einer abgeschmackt unbehilflichen Leibesbeschaffenheit, drum wird jede Kanone in acht Stücke zerlegt, und jedes Stück von drei Motorwagen gezogen. Wir hatten 26 solche Maschinen, die einer Dampfwalze glichen, wie eine Schwester der anderen. Zwei Maschinen waren in Reserve, um bei Steigungen nachzuhelfen. Mit 400 Mann Bedeckung haben wir die Monstren nach Antwerpen gebracht.“ Dann schilderte er das Zusammensetzen der Mörser, ihre Einzementierung, ihr Laden bis zu dem Augenblick, wo der Leutnant Feuer kommandiert, und der Gruß von der Frau Berta aus Essen, die gewaltige Granate, unter Flammen und ohrenbetäubendem Knall, der in hundert Meter Entfernung die Scheiben zertrümmert und die Dächer abdeckt, in die Wolken fliegt, federleicht, wie der Gummiball eines Kindes.

Frau Anita lauschte mit größtem Erstaunen diesen Enthüllungen, noch mehrere Freunde Onkel Karls hatten sich an den Tisch gesellt und freuten sich ebenfalls an den munteren Erzählungen des Feldgrauen, ich aber mußte mich verabschieden. Frau Anita drückte ich zuletzt die Hand. „Jetzt halten Sie mich sicher für bodenlos dumm“, flüsterte sie errötend. „Für dumm? Bewahre, für heilig!“ rief ich zurück und eilte fort.

Das Wort war vielleicht etwas überschwenglich, aber ich fand im Augenblick kein anderes. Gehört hatte es ja niemand, aber, wenn auch, ich wollte es schon vertreten. Heilige Einfalt! Es zeugte von großer Unkenntnis, daß Anita glaubte, mit ihren Händchen 42-Zentimeter-Mörser schieben zu können; aber daß sie keine Ruhe findet, bis sie [73] im Geist die Mörser geschoben hat, weil sie weiß, daß durch die Arbeit der Mörser teueres deutsches Soldatenblut gespart wird, darin offenbart sich die edelste, feinste Kultur des Gefühls und des Willens, die mehr gilt, als alle Kenntnis und Geisteskultur. Ja, das ist heilige Einfalt. Mein Freund Max hat mit seiner schmächtigen, zarten Prinzessin einen Haupttreffer gemacht; aber auch für das Vaterland, dessen Frauen so innig für sein Wohl fühlen, ist schon dieses eine Bürgschaft des Bestandes. Wenn es eine magnetische Fernwirkung des sehnenden Wunsches gäbe, würden schon allein die deutschen Frauen ihr Vaterland zum Siege führen.