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Frauenleben im Weltkriege/Industria

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Der zweite Hindenburg Frauenleben im Weltkriege
von Aurel von Jüchen
Heilige Einfalt
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[49]
Industria


Dicker, schwarzer Qualm, der Atem des Riesenungeheuers Industrie, zeigt weit hinaus die Stelle, wo die große Zeche und in breitem Umkreise um sie herum ihre Geschwister, schwere Eisenwerke, sich angesiedelt haben, fernhin faucht der Atem über die junge Großstadt, die unter dem stickigen Dunst aufgeschwollen ist, wie eine Treibhausblüte.

Durch eine der vornehmsten Straßen, die die Stadt mit jenem Wald von Schloten verbinden, wandelt Frau Richter, die Zeitungsausträgerin, einen Packen Morgenblätter auf dem Arm, und indem sie diese von Haus zu Haus auf beiden Seiten der Straße verteilt, schweift ihr Blick träumend nach den Rauchwolken. „Wie das brodelt aus den schwarzen Schlünden! Genau so“, denkt sie, „als wollten die Rauchwolken die Sonne fressen und die Erde mit Finsternis bedecken. Aber die Sonne leuchtet doch, die Rauchwolken zerflattern, zergehen in der Luft.“ „So geht es auch mit der Sorge“, grübelt die alte, nachdenksame Witwe weiter, „so ist es auch wieder mal mit der Kriegsnot gegangen. Das brodelte auch anfangs wie eine schwarze Wolke heraus. Jetzt hat sie sich zerfasert, aufgelöst. Alle, arm und reich, teilen die gleiche Not, und für den einzelnen wird sie dadurch erträglicher. Anderseits sprudelt der schwarzen Quelle eine sonnige Quelle entgegen: die Allgemeinheit sorgt für die Bedürftigen, und auch die ärmste Kriegerfrau ist in ihrem Leid nicht ganz verlassen. Anstatt daß die schwarzen Wolken die Sonne fressen, verschlingt die Sonne den schwarzen Dunst.“

[50] Inmitten der vornehmen, an beiden Seiten mit Ulmen bestandenen Straße lag die Villa des technischen Direktors der Zeche, des höchsten Herrschers in diesem Fürstentum der Arbeit, und als Frau Richter durch den mit buntem Glas bedeckten Torweg hier eingetreten war, wurde ihr vom Dienstmädchen die überraschende Mitteilung, daß Frau Direktor Wilhelmi sie zu sprechen wünsche. Die alte Frau Richter wurde rot wie eine Pfingstrose ob solcher Auszeichnung, und nachdem sie ihre Schuhe abgekratzt, als träte sie mindestens in den Vorhof des Himmels, ging sie behutsam in das Zimmer hinein. — „Was man nicht alles im Krieg erlebt!“ war ihr Gedanke. Obwohl sie seit zehn Jahren die Zeitung brachte, hatte sie Frau Wilhelmi nie persönlich gesehen, um so mehr erschien sie ihr wie ein höheres Wesen. Ein Zimmer des Direktors hatte sie sich eigentlich viel prächtiger vorgestellt; die Möbel waren ja ganz hübsch, aber aus guter alter Zeit, da sah man doch im Warenhaus ganz andere feinere Sachen, und die vielen Bilder an den Wänden fanden ebensowenig Bewunderung bei Frau Richter, denn sie ahnte doch nicht, daß selbst das kleinste von ihnen ein kleines Vermögen wert war. Endlich erschien Frau Wilhelmi, ein Papier in der Hand, eine schlanke, hochgewachsene Dame, die trotz ihres Alters — sie mochte wohl an die Fünfzig reichen — eine gewisse anmutvolle Jugendlichkeit der Bewegungen, und deren Gesichtsfarbe eine zarte, frische Heckenrosenröte bewahrt hatte. Frau Richter knickte fast zusammen vor ihrer Vornehmheit, sie aber sprach leise, doch mit dem eigentümlich festen Ton, den die Gewohnheit des Befehlens gibt: „Ich habe von unserem Frauenverein den Auftrag übernommen, mich nach den Verhältnissen einiger Familien, die Kriegsunterstützung beziehen, zu erkundigen. Ich werde sie persönlich aufsuchen, möchte mich aber vorher unterrichten, damit ich nicht auf die Angaben der Unterstützten allein angewiesen bin.“ Dann breitete sie ihre Liste auf dem Tisch aus, und indem sie mit einem Blick Frau Richter zum Sitzen nötigte, begann sie ihre Fragen: „Wie viele Kinder hat diese [51] Frau?“ „Ist sie ordentlich?“ „Wie alt sind die Kinder?“ usw. Frau Richter erwies sich als ein unergründlicher Weisheitsborn, und die Frau Direktor machte fleißig Notizen, wenn aber die Weisheit allzu stark sprudelte, und Frau Richter von den Verhältnissen der heutigen Frauen auf die ihrer Eltern und Großeltern, die sie bisweilen auch noch gekannt hatte, zurückschweifte, dann sagte Frau Wilhelmi sanft, aber bestimmt: „Schluß!“ und ging zum folgenden Namen über. So kamen sie zum letzten Namen: „Frau Christian Roth.“ „Haha“, rief Frau Richter, „die wohnt bei mir im Haus. Das ist die rote Hanne und ihr Mann hieß schon vor der Verheiratung der rote Christian. Herr Direktor wird das wohl wissen. Er heißt Roth, aber er ist auch rot, ein Sozialdemokrat, in der Wolle gefärbt. Vor etwa einem Jahr hat er die Hanne geheiratet, die denkt genau wie er und heißt drum die rote Hanne. Er ist ein ganz tüchtiger, fleißiger Mann, aber sie ist eine Luftige. Die hätte einen Flieger heiraten müssen, der viel Geld hat, denn sie ist eine Fliege, und vom Haushalt versteht sie gar nichts. Ich glaube sicher, sie hat noch nie gekocht, und wenn sie gekocht hat, hat man es gewiß nicht essen können.“ „Wovon nähren sie sich denn?“ unterbrach Frau Wilhelmi. „Na, von Butterbroten mit Aufschnitt, und bisweilen wird im Wirtshaus etwas Warmes gegessen. So ein Kohlenhauer verdient ja Millionen. Der rote Christian weiß es nicht besser, er ist im Waisenhaus erzogen und hat nie einen gemütlichen Familienstand kennen gelernt.“ „Gibt es denn viel Streit unter den beiden?“ forschte die Frau Direktor. „Ich bitte Sie, Streit? Nein, die sind noch immer in den Flitterwochen. So ein Liebesverhältnis habe ich nie gesehn, die schnäbeln sich wie die Turteltauben. Ich sage ja nichts über fremde Leute, aber Frau Direktor würden lachen, wenn Sie die beiden bisweilen beobachten könnten; wenn sie nicht so rot wären, müßten sie Grün heißen. Nun wird sie jetzt, wo der Mann fort ist, ihr erstes Kindchen bekommen. Es kann gar nicht mehr lange dauern. Na, das arme Wurm ist [52] von vornherein ein Pechvogel. Ich sage Ihnen, Frau Direktor, wenn ich solche Wirtschaft geführt hätte, wie die rote Hanne, mein Mann würde mir heimgeleuchtet haben, aber bei mir …“ — „Schluß“, sagte Frau Wilhelmi, und indem sie aufstand, veranlaßte sie Frau Richter, dasselbe zu tun. Diese wurde mit bestem Danke entlassen, beim Hinstrecken ihrer Hand machte Frau Wilhelmi eine leichte Bewegung, wodurch sie dem Händedruck entging, und das Dienstmädchen führte die etwas überraschte Zeitungsfrau zur Türe hinaus.

Als Direktor Wilhelmi zum Mittagessen kam, empfing ihn seine Gattin mit der Frage: „Noch keine Nachricht?“ die er mit stummem Kopfschütteln verneinte. Ihr einziger Sohn Viktor schwamm als Leutnant zur See auf der Ariadne vor Helgoland, und die Tischunterhaltung der Eltern drehte sich ausschließlich um maritime Fragen und die Aussichten für Deutschlands ungleichen Kampf um das Meer. Wie vieles wußten die beiden zum Preise unserer neuzeitlichen Marine zu sagen, wie viele Erlebnisse und Hoffnungen bauten ihnen die Brücke von dem schwarzen, toten Land, das sie umschloß, zu dem blauen, atmenden Meer. Sie war ein Kind der Waterkant, er war Schiffsingenieur gewesen, bevor ihn ein guter Stern in den Bergbau führte, der dem jungen Mann eine unerwartet glänzende Laufbahn geöffnet hatte. Trotz dieses Erfolges war das Meer beider alte Liebe geblieben, nach der geheime Sehnsucht immer zieht, und wie leuchtete ihr Stolz, daß ihr Sohn die zerrissenen Fädchen neu geknüpft hatte und jetzt berufen war, des Deutschen Reiches Ehre auf den Fluten zu verteidigen, auf die der Deutsche Anspruch hat, so gut wie England, und die er für sich urbar machen wollte und mußte. — Dann wieder krampften sich ihre Herzen zusammen, wenn die Rede auf die Zehnminutenhölle der Seeschlacht kam, die ja doch eines Tages geschlagen werden mußte, doch dann zauberte ein neues Glas Wein bei Herrn Wilhelmi wieder neuen kühnen Mut hervor. „Für die Ausland-Kreuzer liegt die Sache ja [53] schlimm“, war sein Schluß, „aber für Viktor ist die Todeswahrscheinlichkeit, genau berechnet, gering.“ — Und von neuem schwebte im Gespräch der beiden der Bilderreigen vorüber, zu dem ihrem geistigen Ohr das Orgelbrausen der Wogen klang, wieder sahen sie die stolzen, grauen Kolosse sich wiegen, wieder schauten sie die sturmgefeiten, straffen Gestalten der Führer, von denen sie manche persönlich kannten, wieder ein entsetzlicher Schatten, und wieder kam er zu dem Schluß: „Man kann ja eher ein Jahrhundert vorhersagen, als den nächsten Tag, aber ich habe das sichere Gefühl, daß wir Viktor als Sieger wiedersehen werden.“ „Wir wollen es hoffen“, stimmte sie ein; dann erzählte sie lächelnd, daß man ihr die unangenehme Aufgabe aufgeladen habe, einige Arbeiterfamilien zu besuchen, und machte sich zu diesem Kreuzgang, wie sie ihn nannte, bereit. „Na, weißt du, dazu hätte man doch auch irgendeine Lehrerin oder Pastorin bestimmen können“, rief er ihr zu, „die machen das weit besser, als du.“ Sie lächelte, und indem sie die langen dänischen Handschuhe, die sie draußen fast immer trug, glättend über die Taillenärmel zog, er widerte sie: „Du hast ganz recht, aber in Kriegszeiten kann man sich solchen Aufgaben nicht entziehen, wenn sie einem aufgedrängt werden.“

Die Frau Direktor ging längs der, die Zechenanlagen umschließenden, endlosen Mauer dahin, über welche düstere Gebäude, Maschinenhallen, Kesselanlagen, Materialienhäuser, die plumpen Kühler und das hochstrebende, zierliche, eiserne Schachtgerüst mit seinem rollenden Rad empor ragten, dann kam die unabsehbare Reihe von Koksöfen, die ihre düstere Glut entsandten, und dann weitere Fabrikgebäude. Welch häßliche Umgebung! O schönes, grünes Meer! Nun war sie am Ziel: in der Arbeiterkolonie, wo die kleinen Häuschen wie Soldaten von ganz gleichem Aussehen in Reih und Glied nebeneinander stehen. Sie mußte sich einen Ruck geben, um die Abneigung zu überwinden und in das erste Häuschen einzutreten. Die Frau Direktor wurde wie eine Fürstin empfangen, sie erledigte ihren [54] Fragebogen und plauderte noch einige Worte über den Krieg, die allgemeine Tagesfrage, die alle Unterschiede für den Augenblick überbrückte. Die erste Arbeiterfrau, die sie besuchte, war eine rauhe Kriegermutter ohne Angst und Zagen. „Pah, so ein Krieg“, rief die Alte übermütig, „das soll auch was sein. Wir werden sie schon verdreschen. Am liebsten“, sie streifte ihr Kleid vom Ärmel zurück, „zög ich selbst noch 'ne Hose an und klopfte mit drauf.“ Frau Wilhelmi erwähnte, daß ihr Sohn bei der Flotte sei. „Ha“, rief die Alte, „den jungen Herrn kenne ich, der ist wie Blücher, der haut drauf.“ Frau Wilhelmi lächelte geschmeichelt, ging zur nächsten Tür und dann weiter von Haus zu Haus. Sie vergaß ihre Abneigung vor Schmutz und Dunst, vor den bleichen Gesichtsfarben und trüben Augen, denn es fesselte sie, die vielerlei Trostgründe der Frauen zu hören. Die eine fand Trost im Beten, die andere darin, daß der Krieg für Deutschland eine unumgängliche Selbsterhaltungspflicht war, diese war überzeugt, daß ein bestimmter Heiliger ihre Angehörigen beschützen würde, jene rechnete schon mit deren Tod und fand es, auch ohne Horaz gelesen zu haben, süß und ehrenvoll, für das Vaterland zu sterben; die meisten huldigten dem Fatalismus: „Wenn es bestimmt ist, daß er sterben soll, würde er auch hier sterben, denn auch im Bergwerk steht der Mann jederzeit mit einem Fuß im Grab.“ Fast alle schlossen ihre Betrachtungen mit den Worten: „Wenn nur Deutschland siegt!“ Die Frau Direktor war von solcher Vaterlandsliebe verblüfft, sie zeigte sich auch insofern als Fürstin, als sie recht oft ihr Täschchen öffnete und kleine Geldscheine austeilte, die mit größtem Dank angenommen wurden, sie war recht zufrieden mit sich selbst und allen anderen, als sie gegen fünf Uhr die Treppe einer häßlichen Mietskaserne außerhalb der Kolonie emporstieg, zu Frau Roth, deren Name als letzter in ihrer Liste stand; zur „roten Hanne“, dachte sie lächelnd. Auf dem ersten Treppenabsatz sah sie die Tür mit dem Schildchen der Frau Richter, noch zwei Treppen höher, und sie klopfte bei Christian Roth an. Eine [55] blutjunge, hübsche Frau in Hellem baumwollenem Kleid trat ihr entgegen, der man sofort ansah, wie es um sie stand. Frau Wilhelmi erledigte ihre Fragen, während sie sich im Zimmer umsah. Viel war da nicht zu sehen: ein armseliges Bett, ein Tisch, zwei Stühle, eine Wurstpelle auf dem Fensterbrett, an der Wand ein offenbar selbstgefertigtes Regal mit verhältnismäßig vielen Büchern. Frau Roth bemerkte den Blick und den schlechten Eindruck, den er offenbar der Besucherin vermittelte.

„Bei welcher Truppe ist denn Ihr Mann?“ begann diese zu plaudern.

„Der ist Mariner“, antwortete stolz das Frauchen.

„Auf welchem Schiff?“

„Auf der Ariadne.“

„Das ist ja das Schiff meines Sohnes!“

„Jawohl, aber dem wird es doch wohl nicht allein gehören.“

Frau Roth hatte es lächelnd gesagt, aber es lag doch ein so spöttisch hochmütiger Ton in den Worten, daß Frau Wilhelmis Herz sich wie eine Mimose zusammenzog. Welch freche Person! dachte sie, aber sie wollte ihr heimzahlen. „Ich sehe, daß Sie ein Kindchen erwarten, haben Sie denn alle Sachen bereit?“ Der jungen Frau schoß das Blut in den Kopf. „Ich werde schon fertig werden“, erwiderte sie mit erkünstelter Gleichgültigkeit. „Ich sehe, Sie haben nicht einmal einen Ofen“, fuhr die Frau Direktor mit scharfem Tone fort, „wo kochen Sie denn?“ „Gegenwärtig hole ich mir das Essen in der Kriegsküche“, war die Antwort. „Wenn Sie jetzt bettlägerig werden, können Sie doch nicht Ihr Essen in der Kriegsküche abholen, und überhaupt haben Sie doch unter diesen Umständen unbedingt einen Ofen nötig; es ist sträflicher Leichtsinn von Ihnen, wenn Sie sich darum nicht bekümmern.“ Die Frau Direktor war ernsthaft empört, zugleich aber entnahm sie ihrem Täschchen einen Geldschein: „Hier!“ rief sie befehlend, „nun beschaffen Sie sich sofort einen Ofen und die anderen erforderlichen Sachen!“ Die junge Frau stand am Fenster, und die letzten Strahlen der [56] Sonne zitterten über ihr blondes Haar, aber sie machte keine Bewegung, um das Geld zu nehmen. Jetzt reckte sie sich hoch und warf den blonden Kopf in den Nacken: „Ich nehme kein Geld von Ihnen“, sprach sie trotzig, „wenn mein Mann hier wäre, würde er schon für den Ofen sorgen.“ „Aber er ist doch nicht hier“, rief Frau Wilhelmi, im höchsten Grade aufgebracht. „Dann nehme ich trotzdem kein Almosen, dazu sind wir viel zu stolz.“ – In Frau Wilhelmi kochte das Blut, sie hätte leicht eine scharfe Erwiderung darauf geben können, aber nein, sie durfte sich doch nicht in Streit einlassen mit der Frau eines Kohlenarbeiters. „Dann ist Ihnen nicht zu helfen. Guten Tagl“ sagte sie mit harter Stimme und verließ mit stolzer Würde das Zimmer.

Noch ganz empört, klopfte Frau Wilhelmi bei der Zeitungsfrau an, denn sie fühlte, sie könne sich nur durch eine Erzählung dieses widerwärtigen Erlebnisses das Herz erleichtern. „Ja, ja, Frau Direktor“, sagte diese, „die rote Hanne ist ein grüner Apfel, ein leichtsinniges, stolzes Weib. Überhaupt, wer einmal mit den Sozialen geht, den hat der Teufel schon beim Haken. Es ist eigentlich schade für solchen fleißigen Mann, wie den Christian; aber jede freie Minute hockt er über seinen Schriften, und dann schwelgen die beiden in der Hoffnung auf den großen Kladderadatsch, auf die Zeit, wo die Arbeiter die Herren sein werden, und nur die Arbeit ein Recht auf Essen gibt.“ „Wie kann denn solch ein Roter ein guter Soldat sein?“ forschte Frau Wilhelmi. „Oh, das geht diesmal besonders gut, die Leute hassen doch hauptsächlich nur den Kapitalismus, und gerade dieser Krieg ist doch vom englischen Kapitalismus gemacht.“ „Sie sind ja eine politisch beschlagene Frau“, sagte Frau Wilhelmi bewundernd, und ihr Blick wandte sich zufällig nach einem schweren Pack Zeitungen auf dem Tisch. „Sie studieren wohl fleißig die Zeitungen, die Sie austragen?“ „Ja gewiß, ich lese sehr gern, es ist fast mein einziges Vergnügen, ich habe nur zu wenig Zeit. Auch heute müßte ich längst unterwegs sein, es ist Zufall, daß Sie mich angetroffen [57] haben.“ „Was gibt's denn heute Neues in der Zeitung?“ frug Frau Wilhelmi. „Heute sind schlechte Nachrichten“, erwiderte Frau Richter, „ehrenvolle Verluste zur See, ein Torpedoboot und ein Kreuzer sind untergegangen, die Ariadne.“ – Ein gellender Schrei. „Ariadne?“ ächzte Frau Wilhelmi, indem ihre Augen übergroß Frau Richter anstarrten. Diese hätte gern ihr Wort zurückgenommen, doch da stand es ja in der Zeitung; sie reichte Frau Wilhelmi das Blatt. – Diese war aufgesprungen, einen Blick warf sie auf die schreienden Buchstaben, dann sank sie auf die Knie vor ihrem Stuhl nieder, streckte die Hände empor, wie ein Ertrinkender, und in unklaren Lauten schluchzte ihre Seele: „O Gott, warum hast du mich verlassen?“ Frau Richter wußte nicht, was zu beginnen. Sie hätte Leute zu Hilfe geholt aus dem Hause; aber es ging doch nicht, sie waren doch zu unfein für solche stolze Dame. „Soll ich Ihren Wagen bestellen?“ „Soll ich den Arzt holen?“ Keine Antwort; doch plötzlich fragt Frau Wilhelmi: „Was ist das für Blut auf dem Fußboden?“ Frau Richter schaudert und sagt wie empört: „Aber das ist doch der Widerschein vom Hochofen, sehen Sie nur mal zum Fenster hinaus!“ Die andere hob den Kopf: „Ha, wie das brennt! Die Ariadne!“ schrie sie beim Anblick der wabernden Glut vor dem dunkelblauen Abendhimmel. „Aber, ich bitt' Sie“, widersprach Frau Richter, allmählich ermutigt, „das ist doch kein Schiff. Sehen Sie sich nur mal die Sache genauer an!“ Sie richtete Frau Wilhelmi mit fester Hand auf und führte sie ans Fenster. „Sehen Sie, dort ist das Bureau, dort das Materiallager, dort laufen die Kohlenwagen an der Seilbahn durch die Luft, und hinten sehen Sie die Bäume von Ihrem Park.“ Der Anblick der gewohnten Umgebung brachte Frau Wilhelmi zu sich, der feste Entschluß, sich stark zu zeigen, reckte sich in ihrer Seele auf. Sie nahm ein Zeitungsblatt, und, das Schluchzen gewaltsam niederringend, las sie laut den „Bericht eines Augenzeugen“: „Ariadne eilte, von dem Kanonendonner der Vorpostenkräfte angerufen, diesen zu Hilfe. Verfolgen und Fühlung [58] mit dem Feind nehmen, ist die Losung. Nebel verhüllen die Stärke des Feindes. Schon stößt die Ariadne auf einen der Unsern, der mit zwei englischen Kreuzern der Lionklasse im Kampf liegt. Mutig springt die Ariadne dem Bedrängten bei, aber in diesem Augenblick wird sie beschossen. Ein Treffer in den Kesselraum setzt die Hälfte der Kessel außer Betrieb, noch eine halbe Stunde dauert der ungleiche Kampf, das Achterschiff brennt, doch die übrigen Geschütze feuern weiter. Der Feind hat inzwischen nach Westen abgedreht. Auch auf das Vorderschiff dehnt sich der Brand aus. Die tapfere Ariadne ist dem Untergange geweiht. Treu der Überlieferung mit drei Hurras auf den allerhöchsten Kriegsherrn.“ ... Hier konnte Frau Wilhelmi sich nicht mehr halten, und es dauerte wieder eine Weile, bis sie ihre Tränen gehemmt und ihre Kräfte gesammelt hatte. Dann wusch sie ihr Gesicht und nahm Abschied. „An die Mutter haben sie nicht mehr gedacht, nur an Kaiser und Reich“, sagte sie. Frau Richter widersprach, doch Frau Wilhelmi bestand auf ihrem Gedanken: „Ich kenne meinen Sohn, und so groß mein Schmerz ist“, fügte sie mit schluchzender, aber gehobener Stimme hinzu, „noch größer ist mein Stolz.“ Kaum hatte sie das Zimmer verlassen, da öffnete sie noch einmal die Tür. „Frau Richter“, sagte sie, „um Himmels willen, verstecken Sie die Zeitung vor der Frau Roth, sorgen Sie, daß sie nichts erfährt! Es würde ihr und dem Kinde schaden. Ich komme morgen nochmal wieder.“ Dann ging sie den Weg nach ihrer Villa, immer hastiger wurde ihr Gang, sie erkannte niemanden auf der Straße, sie sah das Meer, aber nicht mehr in bezauberndem Reize, sondern als schauerliches Grab.

Als sie ihr Zimmer betreten, wurde ihr von dem Mädchen ein Brief ihres Sohnes überbracht. „Vielleicht das letzte Schreiben eines Toten“, dachte sie schaudernd und konnte vor Tränen kaum lesen. Nach dem Brief ging es ihrem Sohn vorzüglich. Nur daß sie auf der Ariadne zu entnervender Tatenlosigkeit verurteilt wären, bekümmerte ihn und die ganze Mannschaft. Der Brief schloß: „Wir [59] haben einen prächtigen Menschen an Bord, der auf Eurer Zeche arbeitet, Christian Roth heißt er, ein Mann von unversieglicher Arbeitskraft und außerordentlichem Geschick, dabei ein Draufgänger, der ebensowenig die Stunde erwarten kann, wo wir mit dem ruchlosen Engländer abrechnen.“ Wie ein Stachel ging der Frau Direktor die Erinnerung an die Frechheit der roten Hanne ins Herz.

Ihr Gatte kam, hatte schon mit dem Reichsmarineamt telephonisch gesprochen. „Nur siebzig sind tot“, tröstete er, „Viktor kann unter den Lebenden sein, ich flagge noch nicht halbmast.“ Der Brief wurde nochmal gelesen, und der Schlußsatz führte auf den roten Christian. Der Direktor kannte ihn, sie aber verschwieg ihr Erlebnis mit seiner Frau. „Ja, die Kerle geben ihr Leben mit Todesverachtung hin, vielleicht ist es auch Lebensverachtung, denn mit ihrer Sozialdemokratie verbittern sie sich ja selbst die Lebensfreude“, sagte der Direktor. „Warum ist nur diese Ungleichheit unter den Menschen?“ fragte sie. „Dumme Frage! Wer soll denn Kohlen hacken? Und Kohlen sind doch kein Luxus, sie sind die treibende Kraft unseres Lebens. Wenn alle gleich sein sollten, müßte jedes Streben nach Vervollkommnung verboten werden, alle müßten auf der niedrigsten Stufe verharren. Übrigens haben die Arbeiter selbst dies Bestreben. Einige arbeiten sich selbst empor, andere in ihren Kindern, aber auch die Lage des gewöhnlichen Arbeiters ist bedeutend gebessert. Gesetzgeber und Arbeitgeber haben in der Fürsorge gewetteifert.“ Er erklärte ihr die sozialen Fürsorgeeinrichtungen, wies darauf hin, daß kein anderer so rechte Feierstunden habe, wie der Arbeiter, und kam nochmal zu dem Schluß: „Die Kerle vergällen sich selbst das Leben durch ihre rote Weisheit.“ „Ich kann nicht leiden“, warf sie ein, „daß du die Arbeiter Kerle nennst, sie tun ihre Arbeit, sowie ihre Kriegspflicht, und haben deshalb Anspruch darauf, auch äußerlich anerkannt zu werden; von ihren Feierstunden würden sie vielleicht mehr haben, wenn gebildete Menschen mehr mit ihnen verkehren möchten.“ „Liebste“, erwiderte er ernst, „ich [60] kann als Berufsmensch die Arbeiter nicht als Herren titulieren, und sie würden sich sehr verbitten, wenn ich mich um ihre Feierstunden kümmerte.“ Frau Wilhelmi konnte im Gedanken an die rote Hanne ihrem Mann nicht unrecht geben, zugleich bat sie diesen: „Tu mir doch den Gefallen und telegraphiere an das Marineamt noch einmal wegen Christian Roth!“ Der Direktor ging hinaus, um gleich durch den Fernsprecher die Depesche aufzugeben. Alle Erdkräfte standen ja im Dienst des Verkehrs zu Gebote. Bei seiner Rückkehr fand er die Gattin wieder in Tränen, er nötigte sie, noch eine Flasche Sekt als Schlummertrunk mit ihm zu leeren, und dann suchten beide ihr Lager auf.

Am folgenden Morgen war Frau Wilhelmis erster Gang zur roten Hanne, um zu sehen, ob die Unglücksbotschaft ihr geschadet habe, und siehe da, das große Ereignis hatte sich schon abgespielt, im Kissen neben ihr atmete ein Junge, rosig, stark und mit lichtblonden Flimmerhärchen, sie selbst aber litt an heftigem Fieber. Die Frau Direktor ließ sofort ihren Arzt rufen, lüftete die Fenster der dumpfen Stube, und dann sah sie sich die Bücher an: „Das Buch der Erfindungen“ zwölf Bände mit den Quittungen über die Abzahlungen, Rechenbücher, Karl Marx: „Das Kapital“, „Die Kunst, Aufsätze zu machen“, „Englisch durch Selbstunterricht“ und andere. „Das studiert ein Kohlenarbeiter?“ frug sie sich verwundert. Die Zeitungsfrau kam und versicherte, daß Frau Roth von dem Unglück nichts wissen könne; dennoch spielte in deren Fieber der Untergang der Ariadne eine Hauptrolle. Als der Arzt kam, fand er zwei Kranke, der körperlich kranken Frau Roth verordnete er Medizin und Kompressen, der seelisch kranken Frau Direktor eine Erholungsreise. „Nein“, sagte diese fest, „ich bleibe hier, um Frau Roth zu pflegen“, und alle Gegengründe waren fruchtlos. So wurde sie Krankenschwester zunächst im Nebenberuf; da aber schlechte Ernährung des Körpers sich bei Frau Roth heftig rächte, und die Erkrankung rasch lebensgefährlich wurde, forderte die Pflege immer mehr Frau Wilhelmis ganze Kraft. – Dem [61] Direktor war die Ablenkung für seine Frau nicht unwillkommen, weil die Nachricht über Viktors Schicksal noch immer auf sich warten ließ. Alle Erdkräfte standen im Dienst des Verkehrs zu Gebote, aber gerade im Krieg, wo man nach einer einzigen Nachricht mit Fieberdurst lechzte, versagte der Verkehr. So erklärte er: „Wenn ich nicht auf das Essen zu warten brauche wegen der Suppen, die du für Fremde kochst, ist es mir gleich.“ Frau Wilhelmi frug kaum mehr um Nachricht, sie hatte sich darin ergeben, daß der Kampf um das Meer ihr den Sohn geraubt. Wenn sie aber zu Hause darüber nachdachte, weshalb sie ihre eigene Behaglichkeit für eine Arbeiterfrau opfere, dann war es ihr, als ob eine unsichtbare Gestalt ihr winke; wie eine Lufterscheinung schritt diese vor ihr her zum Hause der Frau Roth, sie sah nur bisweilen den Zipfel ihres Kleides, der mit wunderbarem Glanze über die schwarze Straße glitt. Eines Tages kamen die amtlichen Mitteilungen: Viktor war als Gefangener in England, Christian Roth von einer Granate zerrissen, er hatte nicht gelitten. Frau Wilhelmis Herz wollte frohlocken, da hörte sie die Gestalt neben sich flüstern: „Wenn es nun umgekehrt wäre, Christian Roth gefangen und lebendig, Viktor Wilhelmi tot?“ Sie schämte sich.

Der kleine Junge gedieh prächtig, und eines Tages schaute auch das junge, bleiche Weib auf seinem Schmerzenslager zu Frau Wilhelmi mit einem staunenden Blick des Erkennens auf, der dann weiterwanderte nach dem neuen Lehnsessel, dem Ofen, den neuen Vorhängen am Fenster. – „Ist der Umsturz schon gewesen?“ frug die Kranke. „Ja“, lächelte Frau Wilhelmi, „und ich bin Wärterin bei Ihnen geworden.“ „Ist denn der Krieg aus?“ „Noch nicht ganz“, erwiderte Frau Wilhelmi, „aber nun sehen Sie sich mal Ihren prächtigen Jungen an!“ Hanne lächelte selig und sank in die Kissen zurück. Ihre wachen Augenblicke und ihr Interesse für das Kind nahmen zu. „Wenn Ihr Mann wirklich den Heldentod sterben müßte, mit solchem Jungen könnten Sie immer noch glücklich sein“, bemerkte einmal [62] Frau Wilhelmi. „Er wird doch auch nur Kohlenarbeiter werden können“, klagte Hanne. „Das kann man nicht wissen, ebensogut kann er Fabrikherr, Zechendirektor, ein Gelehrter werden.“ Frau Wilhelmi grübelte ordentlich darüber nach, wie sie das Herz der jungen Arbeiterfrau mit Mut und Hoffen erfüllen könnte, nachdem bisher der Zukunftsstaat ihre einzige Hoffnung gewesen. – Inzwischen waren wieder zwei Briefe angekommen, einer von Viktor aus dem englischen Gefangenenlager, – es ging ihm unglaubwürdig wohl –, ein anderer als Begleitbrief des Eisernen Kreuzes für Christian Roth. – Frau Direktor war entschlossen, ihrem Pflegling jetzt die Wahrheit zu sagen, als diese an einem Nachmittag flehentlich darum bat mit dem ehrenwörtlichen Versprechen, ganz stark zu bleiben. Frau Wilhelmi las ihr den Brief vor, der Christians Heldenmut und Pflichttreue in herzlichsten Worten pries, und als der erste Schmerz der Frau sich ausgetobt, heftete sie dieser lächelnd das Eisenkreuz an. „Sie haben ja auch mit Lebensgefahr fürs Vaterland gewirkt“, scherzte sie, „indem Sie den kleinen Ersatzmann da zur Welt brachten, und es fehlte wahrhaftig nicht viel, so hätten Sie Ihr Leben dafür geopfert, denn Sie standen mindestens schon auf der Schwelle des Jenseits.“ Frau Roth hob ihr tränenüberströmtes Gesicht, und ihre Lippen lächelten: „Ich habe es lange geahnt, und es ist gut so, daß mein Mann solchen Heldentod gestorben ist. Sein Leben wäre doch glücklos geblieben.“ Und als Frau Wilhelmi sie fast starr vor Staunen ansah, schüttete Frau Roth ihr Herz aus und erzählte, wie ihres Mannes Leben durch das Gefühl verbittert worden war, ein verachteter Kohlenarbeiter zu sein; durch die Erfahrung, daß diejenigen Menschen, zu denen er sich zählte und hingezogen fühlte, jede Berührung mit ihm abschnitten, sobald er sich als Arbeiter zu erkennen gab. Darum hatte er sich fortgesetzt bemüht, in andere Berufe einzudringen, aber jede Brücke brach zusammen, sobald er er sich als bisheriger Arbeiter entpuppte. „So würde er glücklos und unzufrieden weitergestrebt haben“, meinte [63] Hanne, „wenn nicht der Krieg ihm Gelegenheit geboten hätte, zu zeigen, was er wert war.“ – Frau Wilhelmi stutzte. Hatte sie nicht schon einmal mit ihrem Mann über solche Schäden der Gesellschaft gesprochen? Sie hätte ja allerlei erwidern können von der anerkannten Bedeutung des Arbeiters, aus dessen Mühsal alles Herrliche und Glänzende der Welt entkeimt, doch sie schwieg. Ein anderes Mal kam sie auf das Schicksal des toten Christian zurück. – „Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten“, sagte sie zu ihrer jungen Freundin, „aber ich möchte doch wissen, weshalb Sie es nicht fertigbrachten, Ihren Mann alle Mißachtung der Welt durch Ihre Liebe vergessen zu machen.“ „Ich hätte es vielleicht fertiggebracht“, erwiderte Hanne, und ihre Tränen rannen, „ich habe meine Pflicht als Frau nicht erfüllt, weil ich nicht dazu fähig war. Mein Mann führte mich, ich folgte ihm, was er begehrte, begehrte ich, was er verschmähte, verschmähte ich. Erst durch Sie habe ich erkannt, daß die Sonne für alle gemeinsam ist, und die Frau dem Mann den Kopf nach der Sonne drehen kann. Ohne Ihre Hilfe wäre ich aber dumm geblieben und hätte mich nicht zurecht gefunden in der verworrenen Menschenwelt, die dem Arbeiter durch den Zukunftsbilderschwindel nur noch mehr verwirrt wird. Aus Büchern kann man ja vieles lernen, mein Mann und ich haben bei ihnen unser Heil gesucht, aber wie viel besser ging es mir, als ich mich mit Ihnen einmal über die wichtigsten Dinge aussprechen durfte. Wäre ich früher mit Ihnen bekannt gewesen, meine Ehe wäre eine andere geworden, doch nur der Krieg konnte ja solches Opfer Ihrerseits bewirken.“ „Sie dummes Ding!“ entgegnete Frau Wilhelmi, „sprechen Sie nicht wieder von Opfer, aber selbst wenn es eins wäre, müßte ich mich dazu verpflichtet fühlen, denn ein kleines Opfer an Zeit bin ich wohl meinen Mitmenschen, den Kindern des gleichen Volkes, des gleichen Blutes schuldig, wenn ich ihnen helfen kann.“

Die Frau Direktor hatte sich, seitdem ihr Krankenwärterdienst überflüssig geworden, mit besonderem Eifer dem Kriegsliebesdienst gewidmet; man sah ihre hohe, ehrwürdige [64] Gestalt sehr häufig in den Lazaretten, bei allen Arbeiten der Kriegsfürsorge, aber auch in den Häuschen der Arbeiterkolonie sprach sie oftmals vor; ihre stete Begleiterin, Helferin, Adjutantin war die hübsche, temperamentvolle Frau Roth, flink und zweckvoll, wie ein Maschinchen, und begeistert, wie ein Dichter. Frau Wilhelmi entdeckte immer neue schätzenswerte Eigenschaften an ihr, ihre Rechtlichkeit, Gewissenhaftigkeit, ihr Bildungsdrang, ihre Empfänglichkeit weckten auf Schritt und Tritt ihre Bewunderung, auch der Herr Direktor erklärte sie für einen ganz „patenten“ Engel der Barmherzigkeit. Seine Frau hatte mit ihm inzwischen öfter über die Wandlung ihrer Ansichten gesprochen, sie war Feuer und Flamme dafür, daß es Sache der Frau wäre, den Arbeiterfamilien persönlich näherzutreten und so die bestehende Gegensätzlichkeit zu überwinden. Ihre Begeisterung drängte sieghaft alle Bedenken ihres Gatten zurück; wer wollte ihr widerstehen, wenn sie mit leuchtenden Augen rief: „Deutschland hat draußen so viele Feinde, daß sich die Klassen im Innern nicht mehr feindlich gegenüberstehen dürfen. Wie alle gemeinsam geblutet, so sollten alle Schichten des Volkes gemeinsame Sache machen, um einander zu helfen und zu fördern.“ Auch ihren Plan, zunächst die heranwachsenden Arbeitertöchter mit denen anderer Kreise zu einem Strickkränzchen zusammenzuführen, bei dem Vorträge gehalten werden sollten, hatte sie bereits mit ihrem Gatten besprochen. Gerade der Krieg bot Gelegenheit zu Vorträgen, die alle fesselten und zu einer gemeinsamen Unterhaltung anregten. Die vorhandenen Bildungsunterschiede würden bei diesem Stoff niemanden von der Unterhaltung ausschließen, und späterhin wollte sie schon sorgen, daß diese Unterschiede verschwänden. Oh, sie hatte noch große, schöne, beglückende Pläne für die spätere Friedenszeit.

Inzwischen war ihr etwas zu Ohren gekommen, was sie anfangs im tiefsten Innern empörte. Die jungen Damen der sogenannten besseren Gesellschaft wollten sich dem harmlosen Plan des Strickkränzchens widersetzen; ein Herr hatte [65] sich dahin geäußert, daß, wenn auch der rote Christian einmal auf demselben Kahn mit Viktor Wilhelmi gefahren sei und bei einem sogenannten Vorpostengefecht bei Helgoland den Tod erlitten habe, dies doch keinesfalls entschuldigen könne, daß die Frau Direktor mit der roten Hanne gewissermaßen verkehre; eine befreundete Dame hatte ihr Entsetzen darüber geäußert, daß die Frau Direktor kürzlich eine alte, etwas gelähmte Arbeiterfrau in ihrem Wagen mit in die Stadt gefahren und nachher wieder abgeholt habe. –

Der Direktor lachte von Herzen, als seine Gattin ihm dies erzählte. „Ja, mein Kind“, sagte er, „die wohlhabenden Kreise wollen eben keine Berührung mit den Arbeitern. Das ist einmal so, seitdem die Großindustrie sich entwickelt, und die große, dichte graue Masse der Arbeiterschaft sich gebildet hat. Großenteils sind auch die Arbeiter selbst schuld daran, weil ihr Benehmen nicht danach angetan war, daß andere Leute mit ihnen verkehren konnten.“

„Sie bilden eine große, dichte Masse“, erwiderte einmal seine Frau, „eine Masse, wie das Meer. Weißt du noch, wie wir einmal auf der Insel Föhr der Brandung zuschauten, und sie uns erschien, als ob die Meerfrauen ihre zerfließenden Schleier gegen den Himmel würfen. Da auf einmal klatschte uns etwas vor die Füße: ein toter Delphin. Das Tier machte einen scheußlichen Eindruck, und es war recht ungezogen vom Meer, uns so aus unserer schönen Schwärmerei aufzuschrecken. Aber haben wir wegen solcher Ungezogenheit das ganze Meer verdammt, oder ist es deshalb weniger wahr, daß die unergründliche Masse auch Muscheln und Perlen in sich trägt und uns diese ebensowohl zu Füßen werfen konnte? Siehst du, ebensowenig kann man die Arbeitermasse mißachten oder als feindlich ansehen oder leugnen, daß auch sie in ihrem unergründlichen Schoße viele, viele Perlen birgt, ebensogut wie Quallen und Delphine. Es ist ewig schade, wenn eine solche Perle sich selbst zerstört, weil niemand sich die Mühe geben will, sie als Perle zu erkennen. Denk' nur an Christian Roth!“

„Ich verstehe dich ganz gut, mein Lieb“, sagte der [66] Direktor, „doch mußt gerade du dir neben deinen Hausstandssorgen diese Perlenfischerei aufbürden? Da gibt es doch unverheiratete Frauen, die viel mehr Zeit haben, als du.“

„Ich werde sie mir schon heranholen“, versetzte sie mutig, „doch ich selbst muß vorangehen. Sieh mal, wir beide sind der gesellschaftlichen Achtung sicher, nach der andere noch streben. Andere können fürchten, sich etwas zu vergeben, wir brauchen nicht nach anderen zu schauen, weil niemand gesellschaftlich über uns steht.“

„Und trotz aller Achtung, die du genießest, werden die jungen Damen der Gesellschaft sich deinem Plan widersetzen, auch wenn sie an dem Kränzchen teilnehmen. Sie sind zu gefallsüchtigen Puppen erzogen, und in ihnen Gemeinsinn zu wecken, ist schwer.“

„Nun, man muß es versuchen. Übrigens sagte mir heute die Zeitungsfrau, ich hätte mich seit der Seeschlacht um zehn Jahre verjüngt, vielleicht kann ich den jungen Damen noch zeigen, daß ich jünger bin, als sie.“

„Ich wünsche dir von Herzen allen Erfolg, min Leev, aber vom Klatsch wirst du nicht verschont bleiben.“

„Mag es sein“, sagte sie, „unser Viktor ist in der Seeschlacht den klatschenden Meereswogen glücklich entronnen, es wird auch mir nicht ans Leben gehen, wenn die Wogen des Klatsches klatschend über mir zusammenschlagen. Du weißt doch noch, wie wir an der Waterkant sagen: Dor lach ick öwer.“

Frau Wilhelmi behielt recht. Während draußen Deutschland seinen Heldenkampf weiterfocht, führte sie siegreich einen kleinen Krieg gegen gesellschaftliche Vorurteile. Wie eine frische Seebrise blies Frau Wilhelmis Begeisterung in den trüben Dunst hinein. Die Erscheinung mit der leuchtenden Schleppe, jetzt kannte sie ihren Namen, sie war die Königin aller Tugenden: die Nächstenliebe. Frau Wilhelmi und Hanne Roth blieben die Leibtrabanten der Königin, doch ein Heer von Frauen scharte sich um ihren [67] Thron und fand, daß das eigene Leben seitdem reicher und heller geworden war. Freudlos und zwecklos wie die schwarzen Rauchwolken waren früher ihre Gedanken dahingeflattert, die der einen getrieben vom Streben, Macht und Besitz zur Schau zu tragen, die der anderen, aus der schwarzen Quelle des Neides und der Mißgunst sprudelnd. Wieviel schöne Herzenskraft wurde da in häßlichem Dunst verpufft! Jetzt schlugen die Herzen in freudiger Glut und Begeisterung für das gemeinsame Vaterland zusammen, und während droben wie immer die phantastischen Rauchwolken zerflatternd über die Industriestadt wehten, verschlangen sich unten die Gedanken der arbeitenden und der freien Frauen in dem beglückenden Gefühl bewußten Zusammenwirkens. Aus der geschwollenen Treibhausblüte der Industriestadt quoll allgemach ein lieblicher geistiger Duft und machte sie zu einer reichen natürlichen, zu einer wirklichen Blüte.