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kann als Berufsmensch die Arbeiter nicht als Herren titulieren, und sie würden sich sehr verbitten, wenn ich mich um ihre Feierstunden kümmerte.“ Frau Wilhelmi konnte im Gedanken an die rote Hanne ihrem Mann nicht unrecht geben, zugleich bat sie diesen: „Tu mir doch den Gefallen und telegraphiere an das Marineamt noch einmal wegen Christian Roth!“ Der Direktor ging hinaus, um gleich durch den Fernsprecher die Depesche aufzugeben. Alle Erdkräfte standen ja im Dienst des Verkehrs zu Gebote. Bei seiner Rückkehr fand er die Gattin wieder in Tränen, er nötigte sie, noch eine Flasche Sekt als Schlummertrunk mit ihm zu leeren, und dann suchten beide ihr Lager auf.

Am folgenden Morgen war Frau Wilhelmis erster Gang zur roten Hanne, um zu sehen, ob die Unglücksbotschaft ihr geschadet habe, und siehe da, das große Ereignis hatte sich schon abgespielt, im Kissen neben ihr atmete ein Junge, rosig, stark und mit lichtblonden Flimmerhärchen, sie selbst aber litt an heftigem Fieber. Die Frau Direktor ließ sofort ihren Arzt rufen, lüftete die Fenster der dumpfen Stube, und dann sah sie sich die Bücher an: „Das Buch der Erfindungen“ zwölf Bände mit den Quittungen über die Abzahlungen, Rechenbücher, Karl Marx: „Das Kapital“, „Die Kunst, Aufsätze zu machen“, „Englisch durch Selbstunterricht“ und andere. „Das studiert ein Kohlenarbeiter?“ frug sie sich verwundert. Die Zeitungsfrau kam und versicherte, daß Frau Roth von dem Unglück nichts wissen könne; dennoch spielte in deren Fieber der Untergang der Ariadne eine Hauptrolle. Als der Arzt kam, fand er zwei Kranke, der körperlich kranken Frau Roth verordnete er Medizin und Kompressen, der seelisch kranken Frau Direktor eine Erholungsreise. „Nein“, sagte diese fest, „ich bleibe hier, um Frau Roth zu pflegen“, und alle Gegengründe waren fruchtlos. So wurde sie Krankenschwester zunächst im Nebenberuf; da aber schlechte Ernährung des Körpers sich bei Frau Roth heftig rächte, und die Erkrankung rasch lebensgefährlich wurde, forderte die Pflege immer mehr Frau Wilhelmis ganze Kraft. – Dem

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Aurel von Jüchen: Frauenleben im Weltkriege. Xenien-Verlag, Leipzig 1915, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:J%C3%BCchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/62&oldid=- (Version vom 1.8.2018)