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Inmitten der vornehmen, an beiden Seiten mit Ulmen bestandenen Straße lag die Villa des technischen Direktors der Zeche, des höchsten Herrschers in diesem Fürstentum der Arbeit, und als Frau Richter durch den mit buntem Glas bedeckten Torweg hier eingetreten war, wurde ihr vom Dienstmädchen die überraschende Mitteilung, daß Frau Direktor Wilhelmi sie zu sprechen wünsche. Die alte Frau Richter wurde rot wie eine Pfingstrose ob solcher Auszeichnung, und nachdem sie ihre Schuhe abgekratzt, als träte sie mindestens in den Vorhof des Himmels, ging sie behutsam in das Zimmer hinein. — „Was man nicht alles im Krieg erlebt!“ war ihr Gedanke. Obwohl sie seit zehn Jahren die Zeitung brachte, hatte sie Frau Wilhelmi nie persönlich gesehen, um so mehr erschien sie ihr wie ein höheres Wesen. Ein Zimmer des Direktors hatte sie sich eigentlich viel prächtiger vorgestellt; die Möbel waren ja ganz hübsch, aber aus guter alter Zeit, da sah man doch im Warenhaus ganz andere feinere Sachen, und die vielen Bilder an den Wänden fanden ebensowenig Bewunderung bei Frau Richter, denn sie ahnte doch nicht, daß selbst das kleinste von ihnen ein kleines Vermögen wert war. Endlich erschien Frau Wilhelmi, ein Papier in der Hand, eine schlanke, hochgewachsene Dame, die trotz ihres Alters — sie mochte wohl an die Fünfzig reichen — eine gewisse anmutvolle Jugendlichkeit der Bewegungen, und deren Gesichtsfarbe eine zarte, frische Heckenrosenröte bewahrt hatte. Frau Richter knickte fast zusammen vor ihrer Vornehmheit, sie aber sprach leise, doch mit dem eigentümlich festen Ton, den die Gewohnheit des Befehlens gibt: „Ich habe von unserem Frauenverein den Auftrag übernommen, mich nach den Verhältnissen einiger Familien, die Kriegsunterstützung beziehen, zu erkundigen. Ich werde sie persönlich aufsuchen, möchte mich aber vorher unterrichten, damit ich nicht auf die Angaben der Unterstützten allein angewiesen bin.“ Dann breitete sie ihre Liste auf dem Tisch aus, und indem sie mit einem Blick Frau Richter zum Sitzen nötigte, begann sie ihre Fragen: „Wie viele Kinder hat diese

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Aurel von Jüchen: Frauenleben im Weltkriege. Xenien-Verlag, Leipzig 1915, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:J%C3%BCchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/52&oldid=- (Version vom 1.8.2018)