Frauenleben im Weltkriege/Der zweite Hindenburg

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Souviens toi! (Erinnere dich!) Frauenleben im Weltkriege
von Aurel von Jüchen
Industria
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Der zweite Hindenburg


In dem Gelände der masurischen Seen, zwischen Bialla und Johannisburg, liegt ein Dörfchen, dessen alte Holzwerkhäuser unter dunkelgrünen Moosdächern, gemischt mit wenigen neuen Häusern, sich um einen alten Gutshof scharen. Ein sorgfältig gepflegtes Gärtchen mit Küchengewächsen und grellfarbigen Blumen umschmiegt jedes Haus, nur eins der neuen Häuser unterscheidet sich von den anderen durch seinen mehr städtischen Eindruck, denn an den Fenstern sind Gardinen kunstvoll aufgesteckt, und an der Seite des Hauses ist eine Veranda angebaut, auf der man an einem gedeckten Tisch gemütlich sitzen und den weiten Ausblick kosten kann, hier auf eine ferne, blaue Seefläche, dort auf einen endlosen Horizont von Kornfeldern. Hier wohnte der Bauer Pawlik, ein Bauer, wie die anderen; der städtische Aufputz seines Hauses rührte daher, daß er eine Tochter der fernen Großstadt Königsberg heimgeführt hatte. Wie es gekommen, daß diese den Bauer mit den schwieligen Händen und dem groben Kittel liebgewann? Sie hatte in Königsberg auch andere Freier gehabt, denn ihr lebhaftes Wesen und ihr hübsches Gesicht mit den klaren, freimütigen Augen hatte mancher gern. Da lernte sie bei einem Turnfestball Hans Pawlik kennen, der als Kürassier in Königsberg seine drei Jahre abdiente. Er war in seiner Kürassieruniform der schmuckste Mann, den sie je gesehen. Wie von Stahl war er: stark und doch so geschmeidig und biegsam und tanzte so leicht, als flöge er über den Boden, dabei lachte aus seinen blauen Augen soviel Herzensgüte und warme Treue, daß man sich bei ihm sicher geborgen fühlte. Als dann Hans sie liebgewann, [44] und sie zwischen ihm und einem jungen Kaufmann, den die Eltern begünstigten, wählen mußte, wählte sie den Bauer, und wenn auch ihre Lebensstellung bescheidener wurde, die ländliche Arbeit und die Einsamkeit des Dorfes von ihr anfangs nur mit etwas Selbstverleugnung überwunden wurden, sie hatte ihre Wahl nie bereut, denn ihr Hans war so wohlgemut, so voll gesunder Lebenskraft und siedender Lebenslust, daß er sie mitriß, und in ihrem Hause mit jedem neuen Morgen die Sonne des Glücks neu aufging. Vier Kinder waren ihrer Ehe entsprossen, von denen das älteste, nach seinem Vater Hänschen geheißen, zehn Jahre zählte.

Seit einigen Tagen war die Kunde von der drohenden Kriegsgefahr auch in das stille Dörfchen gedrungen. „Krieg mit Rußland, und wir an der Grenze“, das zuckte wie ein Blitz durch das stille Landleben und die fleißige Erntearbeit. Kaum hatte man die Sache hin und her besprochen, da kam schon die Mobilmachungsorder, und Hans mußte am ersten Tag nach Königsberg. Jedes Bedenken, jede Angstäußerung prallte an seinem Herzen ab: „Haha, ehe die Russen mobil sind“, weissagte er lachend, „ziehen wir in Petersburg ein.“ So hatte er von Frau und Kindern in froher Siegesstimmung Abschied genommen, der Boden schien ihm schon unter den Füßen zu brennen vor Verlangen, einmal Attacke gegen einen wirklichen Feind zu reiten.

Am folgenden Morgen zog Frau Pawlik mit einer Arbeitsfrau und ihrem Hänschen hinaus, um die Weizenernte weiter einzuheimsen. Durch die Akazienallee des Dorfes ging es hinaus auf die sandige Fahrstraße über den Hügel, zu dessen Fuß jenseits ihr Feldstück lag. Von dem Hügel aus sieht man in der Ferne das Dorf Schwiddern liegen. „Was ist das?“ rufen erschreckt fast einstimmig die Frauen. Dort über dem Dorf steigen Rauchsäulen auf, die sich immer mehr zu einer geschlossenen Masse ballen. In Frau Pawliks Herzen dämmert eine Ahnung, es ist ja unglaublich, aber die Ahnung hebt trotzig ihr Haupt, blickt [45] aus ihren Augen, springt gegen ihren Willen von ihrer Zunge: „Sollte der Krieg schon im Lande sein?“ Die alte Arbeitsfrau stößt bei diesen Worten einen Schrei aus, und mit dem Ruf „die Kosaken!, die Kosaken!“ läuft sie spornstreichs nach dem Dorf zurück. Auch Frau Pawlik peitscht ihr Gedanke nach Haus; „die Kinder!“ „die Kinder!“ Sie läuft mit Hänschen zurück, doch dann macht sie halt, nimmt sich zusammen. „Hänschen“, sagte sie, „wer kann es wissen, ob es die Russen sind, aber lauf du nach dem See und versteck dich dort im Schilf, bis ich komme.“ Dann fliegt sie zurück nach dem Dorf. Schon sieht sie den Gutshof, da, — o Höllenwerk, — zuckt auch aus dessen Dach eine Flamme und sucht sich über die Fläche auszubreiten. Frau Pawlik hat für nichts mehr Aug und Ohr, nicht für Flammen, nicht für Frauen und Männer, die ihr entgegenjammern, nicht für die Kosaken, die dunkelbraunen Teufel, die dort vor der Schenke halten. An ihrem Häuschen angelangt, rast sie die Treppen empor, und mit einem Kind auf dem Arm, den beiden anderen, die sich an ihr Kleid klammern, hinterher, stürzt sie hinunter ins Freie. Mögen die Steppenwölfe nun zerstören, was sie wollen, sie wird dort am See im Schilf ihre Kinder vor ihnen verstecken. Doch schon ist es zu spät. Die Kosaken treiben mit blankem Säbel alle Bewohner des Dorfes zusammen, da gibt es kein Ausweichen, kein Entrinnen, kein Erbarmen. „Pascholl! Pascholl!“ schreit ein Kosak ihr entgegen und treibt sie mit den Kindern in die Schar der jammernden Frauen und Greise, der wimmernden Kinder hinein.

Zu zweien müssen sie sich ordnen und aneinanderbinden lassen. „Lewo, prawo!“ (Rechts, links) kommandiert dann ein Kosak wie zum Hohn, und vorwärts geht der Zug, zu dessen Seiten die schmutzigen Gesellen reiten und unter Fluchen oder Gejohle bald diesem, bald jenem der wehrlosen Opfer einen Säbelhieb, einen Kolbenstoß an den Kopf geben. So trieb man sie auf den Vorplatz des Gutshofs, aus dem schon prasselnd die Flammen schlugen, und verriegelte das Tor. Ein Bild des Entsetzens; die [46] Menschen irren vor den Flammen wild umher, mit den schreienden Hühnern und Gänsen, den kläffenden Hunden um die Wette, dann, da sie keinen Ausgang unverriegelt finden, kauern sie jammernd am Boden nieder, die Köpfe fest zusammensteckend, wie Lämmer, wenn ein Gewitter über sie dahinbraust; plötzlich geht ein Funkenregen über dem Haufen nieder, entsetzt springen alle auf, und das Spiel beginnt von neuem. In das Jammern der Frauen, das Winseln der Kinder mischt sich das dumpfe Gebrüll der Kühe in den Ställen, die jeden Augenblick sich losreißen können. Nur Frau Pawlik nimmt keinen Anteil an der kopflosen Verwirrung, sie hatte die Hände ihrer Kinder von dem Strick befreit, nun steht sie mit ihnen am Tor und schaut hinaus, sieht sich die Kosaken an, die hin und her reiten, sieht, wie schon aus mehreren Moosdächern rote Glut steigt. Sie überlegt: Unbedingte Lebensgefahr war hier nicht, auch wenn der Gutshof zusammenstürzte. Wenn nur die Ruhe gewahrt würde, könnte man sich wohl vor den Flammen retten, doch was kam danach? Oh, wäre doch ihr Mann hier! Mit einem Ruck würde er das Tor auseinanderreißen. „Wo ist unser Hänschen?“ frug jetzt das achtjährige Mädchen. Die Mutter berichtete. „Das ist ein Glück“, fuhr das Mädchen fort, „denn allen Jungens hacken die Kosaken den rechten Arm ab.“ In diesem Augenblick sieht Frau Pawlik einen Kosaken heranreiten, einen Jungen hinter sich herziehend, der vom schnellen Lauf hinter dem Pferd nach Atem ringt. „O Gott, Hänschen!“ In diesem Schrei, den Frau Pawlik ausstieß, klingen Angst, Grauen und Wut. In ihrer Seele erwacht eine wilde Kraft. Das läßt sie nicht zu. Sie faßt das Gitter des Tores, rüttelt daran mit stürmischem Ungestüm, wirft sich dagegen mit leidenschaftlicher Wucht, stemmt sich mit Hand und Knien dagegen, aber vergebens. Die Augen drängen sich fast aus dem Kopf, ihre Finger bluten. „Hier muß der Kopf helfen!“ Wirr durchfährt sie dieser Gedanke und schon ruft sie ihren Leidensgefährten zu: „Hilfe! Hilfe! Wir heben das Tor.“ Mehrere [47] Leute eilen ihr zu Hilfe. Mit ihren blutenden Fingern greift sie unter das Tor, die anderen folgen ihr, sie gibt die Befehle: „Hup!“ „[WS 1]Nochmal Hup!“ Es gilt ihren Jungen, drum: „Nochmal Hup!“ Beim dritten „Hup!“ hebt sich das Tor, es tritt aus den Angeln, es stürzt mit dumpfem Gekrach auf die Straße, daß der Staub des morschen Holzes hoch aufwirbelt, und das Pferd des mit seiner lebenden Beute gerade bis hierher gelangten Kosaken sich wild aufbäumt. Der Kosak sprengt mit geschwungenem Säbel heran, um die flüchtende Schar wieder in den Hof zu treiben, auch andere Kosaken reiten herbei, doch Frau Pawlik hat schon ihr Hänschen von dem Strick gelöst, und indem sie wieder ihr Kleinstes auf den Arm nimmt, stürmen Mutter und Kinder fort. „Herr, erbarm dich unser!“ fleht Frau Pawlik in einem fort, und die Kinder beten ihr nach. So fliehen sie aus dem Dorf hinaus, über den Sandweg, immer weiter, an den großen Kiefern vorbei, an den Erlen- und Weidengebüschen hinunter zu dem Sumpf, den hohes Schilf umsäumt, auf dem weiße Wasserrosen ihre goldenen Kelche wiegen und hinter dem der eigentliche See seinen blauen Spiegel breitet. Frau Pawlik konnte nicht weiter, hier sank sie nieder, hier waren sie auch sicher und geborgen. Hänschen erzählte, wie der Kosak ihn erwischt hatte, und dann sagte er: „Weißt du was, Mutter? Wenn die Deutschen schlau sind, lassen sie die Russen ruhig hereinkommen und treiben sie dann zurück, so daß sie in unseren Sümpfen und Seen ersaufen.“ „So, und inzwischen sollen sie unsere Dörfer zerstören und die Einwohner morden; du Dummerjahn!“ erwiderte wie zürnend die Mutter. — Auf mühevollen Wegen erreichte Frau Pawlik endlich Königsberg, endlich winkte der fast Gebrochenen dort im Elternhaus sicherer Unterschlupf und Pflege. Sie war deren bedürftig, denn ein starkes Fieber warf sie sofort nach ihrer Ankunft nieder, infolge der stürmischen Erregungen der letzten Tage. Ihre frische Natur überwand bald die Gefahr, aber noch lange bedurfte sie der Ruhe. Der Krieg ging seinen bekannten Lauf, und [48] Hänschen las ihr an ihrem Bett täglich die Berichte der Zeitung vor, von der Besetzung Insterburgs, von dem kurzen Russenausflug nach Tilsit, von den Greueltaten und der Feigheit der Kosaken, doch immer wieder kam der kleine Schelm auf seinen Gedanken zurück: „Wenn die Deutschen schlau sind, müssen sie die Russen in die Seen treiben.“ So kam Ende August und mit ihm der große Sieg bei Tannenberg über die Narew-Armee und weiter vom 9. bis zum 12. September gleichzeitig die Siege über die Wilna-Armee und über die Grodno-Armee, die beide in die masurischen Seen getrieben wurden. Hei, wie glänzten da die Augen von Mutter und Sohn, aus denen in letzter Zeit soviel kalter Haß gefunkelt, um die Wette vor Freude und Stolz auf unsere Wehrmacht, die in solcher neuen Varus-Schlacht die Übermacht der russischen Legionen vernichtete. Und Vater war ja auch dabei gewesen. Hei, wie wird der wackere Kürassier seine Lanze geschwungen haben gegen die Mordbrennertruppen des Zaren, die ihm Weib und Kinder nahezu geschunden hätten. Doch in Hänschens Brust regte sich noch eine andere Stimme: „Mutter“, rief er, „der Generaloberst von Hindenburg hat es genau so gemacht, wie ich es gesagt habe. Ich bin doch nicht so ein Dummerjahn.“ Die Mutter drohte aus dem Bett lächelnd mit dem Finger: „Eigenlob riecht nicht gut, Hänschen“, warnte sie, aber dann wurde ihr ganz wunderlich zumute. „Warum nicht?“ dachte sie, „Hänschen braucht kein Bauer zu werden, wie sein Vater. Wenn er gute Schulen genießt, kann er zum Militär gehen und vielleicht nochmal in den Generalstab kommen, vielleicht noch mal …“

Sie sah ihn träumend vor sich in einer Generalsuniform, dann hob sie ihren Kopf aus den Kissen, streckte die Hand nach Hänschen, und ihre von der Krankheit gebleichten Finger fuhren sanft über Hänschens rechten Arm. „Gott Dank! ihm mangelt nichts!“ flüsterte sie leise, während sie in die Kissen zurücksank.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Öffnendes Anführungszeichen fehlt in der Vorlage.