Frauenleben im Weltkriege/Souviens toi! (Erinnere dich!)

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Aus ihrem Kriegstagebuch Frauenleben im Weltkriege
von Aurel von Jüchen
Der zweite Hindenburg
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Souviens-toi![WS 1] (Erinnere dich!)


Sommersegen, Blütenduft! Hier draußen, an der Waldstraße, eine halbe Stunde Wegs von der Fabrikstadt Mülhausen im Elsaß gaukeln die Schmetterlinge in den heißen Strahlen der Sonne, jubeln die Vögel, reifen die wogenden Kornfelder, und träumt der ernste, dunkle Tannenwald. Doch auch an der Waldstraße hat der Gewerbefleiß der emsigen Arbeitsstadt nochmals Posten gefaßt in einer großen roten Backstein-Baumwollspinnerei, neben der die schmucke, weiße Villa ihres Besitzers, des Herrn Mathieu Frank, prunkt. Die Spinnerei gehört nicht zu den ganz großen, die im Elsaß seit 1870 unter dem Schirm des deutschen Schutzzolls aufgeblüht sind, aber immerhin finden an die hundert Menschen hier ihr tägliches Brot, und tausende Spindeln drehen sich in rastlosem Tanz. Nur heute nicht. Obwohl ein ganz gewöhnlicher Samstag ist, feiert und träumt die Fabrik so gut wie der Tannenwald, denn wer mochte noch seinem friedlichen Tagewerk nachgehen? Mit unbarmherziger Gewalt war der vor wenigen Tagen aufgeflammte Krieg in das Elsaß eingebrochen, von Altkirch bis vor die Tore von Mülhausen hatte eine wilde Schlacht getobt, Kanonendonner betäubte Handel und Wandel, ließ all die rollenden Räder und tanzenden Spindeln vor Schrecken erstarren, brach durch Fenster und Türen der Häuser und machte die Herzen in der Brust erbeben. Was sollte jetzt werden?

Diese Frage quälte auch die alte Dame, Frau Juliette Frank, die Gattin des Spinnereibesitzers, die in dem Salon ihrer Villa nervös die Morgenzeitungen durchblätterte, dann diese fortwarf und innerer Unruhe voll das Zimmer [21] durchmaß. Sie war eine schlanke Matrone, ein leidender Zug umspielte ihr von ergrautem Haar umrahmtes, einst offenbar schönes Gesicht, und als sie zufällig bei ihrer Wanderung durchs Zimmer einen Blick in den Spiegel warf, erschrak sie selbst vor den tiefen Schatten, mit denen die Nachtwachen, Aufregungen und Schrecknisse der letzten Tage ihr Gesicht entstellt hatten. — Eine Kette schwerer Gedanken schleppte sie mit sich: Ihr blieb wirklich kein Unheil erspart. Nun noch dieser grausige Krieg, und sie so allein, fast noch verlassener, als die, die überhaupt keine Angehörigen besaßen! Gerade in solcher schweren Zeit sehnt sich das Herz der Frau nach dem Schutz des Mannes, aber zwischen ihrem Herzen und dem ihres Mannes lag ja ein Eisfeld von Erbitterung und Herzeleid. Oh, diese ihre Ehe! Wie glücklich war sie einst gewesen, wie glücklos geworden. War es ihre Schuld? Vielleicht hätte sie sich versöhnlicher zeigen können, als sie einst dahinterkam, daß ihr alter Mathieu geheime Katerstege schlich. Oh, sie hätte ihm vergeben, wenn diese plötzlich aufgetauchte Freundin aus Mathieus Junggesellenzeit wenigstens noch einige Vorzüge gehabt hätte; sie wußte ja, daß ihr Mann zur Rolle des biblischen Josef nicht taugte, aber daß er nun seine Mannesehre an eine alte Ex-Schönheit verschleuderte, das ging ihr zu nahe, eben weil sie ihren Mann von Herzen liebte. Seitdem hatte sie ihre Gefühle zu versteinern gesucht, sie wollte ihrem Mann beweisen, daß sie auch ohne seine Liebe leben könne. Nun kam der Krieg, und sie hatte niemand, bei dem sie Halt suchen konnte in dieser alles umwälzenden Zeit. Allerdings blieb ihr noch ihre Tochter Helene, das einzige Kind, nachdem der Todesengel ihr zwei herzige Buben einst entführt. Oh, wäre sie doch bei ihnen droben! Was konnte ihr die Tochter sein? Zwar war sie schon Braut, aber doch noch ein flatterhaftes, oberflächliches Kind, und sie selbst war stets bestrebt gewesen, vor ihr den ehelichen Unfrieden zu verhüllen. Nein, sie stand ganz allein dem fürchterlichen, hartnäckigen Spuk, dem Krieg, gegenüber. Ehe, Heim, Liebe waren ihr geraubt. [22] Sie zuckte zusammen. „Was war das?“ Schmetternde Fanfaren klangen durchs Fenster. Brauste der Krieg schon an die Schwelle ihres Hauses heran? Ihr war, als ob die Luft sich verfinsterte, als ob die Flügel von tausend Geiern über ihrem Kopfe schlügen, sich fürchterlich herniedersenkend, alles verdunkelnd. Ihr Herz schrie stumm nach Hilfe, nach Schutz, nach ihrem Mann, eine wilde Sehnsucht war in ihr nach Versöhnung, nach Liebe. Da stürmte ihr Gatte ins Zimmer, ein großes Bild in schwarzem Rahmen unter dem Arm. „Mülhausen ist wieder französisch“, rief er, „die Franzosen haben die Schlacht gewonnen; ein ganzes Armeekorps rückt ein.“ Während dieser Worte hatte der leicht bewegliche Herr mit blühendem Gesicht unter schneeigem Haar einen Stuhl vor die Wand gerückt, das Bild des Deutschen Kaisers heruntergenommen, das im Goldrahmen den Salon schmückte, und das andere Bild an seine Stelle gehängt. Ein erstaunter Blick der Frau Frank, sie wußte genug, und eine heiße Welle der Entrüstung stieg ihr in die Kehle. „Schäme dich, du Judas“, schrie sie wild und eilte zur Tür hinaus. — „Bei diesem schwanken Rohr wollte ich Halt suchen!“ sprach sie bitter lächelnd zu sich selbst. Bleiche Erinnerungen stiegen gespenstisch aus ihrer Seele. Oh, sie kannte das Bild; es stammte sogar aus ihrem Elternhaus. Eine düstere Frauengestalt stellte es dar, mit leuchtenden Augen, mit der rechten Hand auf Trümmer und brennende Städte zeigend. Unter dem Bilde stand „Souviens toi!“ Schatten schwebten an ihren Augen vorüber. Sie sah sich selbst als kleines Mädchen von sechs Jahren, das sein Haupt in das Kleid der weinenden Mutter preßte, sie sah wieder die bleichen, blutigen Gestalten auf der Erde liegen, sah ihren ernsten Pfarrer, der sich über die Leichen bückte, um ihnen die Augen zuzudrücken. Und ihren Vater sah sie wieder vor sich, den stillen, sinnenden Mann, der den Preußen nie vergessen konnte, daß sie 1870 seinen Sohn, ihren ältesten Bruder, einen hoffnungsvollen Jüngling, der damals in den Reihen der Franzosen kämpfte, totgeschossen hatten. Souviens toi! Oh, wohl erinnerte sie [23] sich der Vergangenheit, aber einen Rachefunken in der Asche zu wecken, wie es das Bild bezweckte, vermochte die Erinnerung nicht. Das schwache Flämmchen des Deutschenhasses, das einst ihr Vater in ihrem Kinderherzen entzündet, war ganz und gar erloschen, und gerade ihr Gatte hatte, je mehr seine Fabrik unter der deutschen Herrschaft sich erweiterte, um so mehr darauf gehalten, daß kein Fünkchen sich rührte, daß jede Beziehung zu dem alten Geschlecht zerschnitten, und in der Seele seiner Frau dem Stolz auf das deutsche Vaterland ein möglichst breiter Raum geschaffen wurde. Sie glaubte ja, daß jede Nation ihre besonderen Vorzüge habe, wie oft hatte sie Frankreich gegen ihren Gatten verteidigt, wenn dieser auf Unterschiede hinwies, die gegen das einstige Adoptiv-Vaterland sprachen. Wenn er immer wieder auf diese, jene Wunde oder Schwäche am französischen Volkskörper deutete, hatte sie das Gute, Edle, Schöne hervorgehoben, das auch in Frankreich zu finden ist, und doch hätte es einer Vergewaltigung ihrer innersten Empfindung bedurft, wenn sie heute wieder französisch hätte werden sollen. Ihre Tochter Helene kam in den Garten, eine[WS 2] junge Dame, etwa siebzehnjährig, deren Gesicht einer saftigen Frucht nicht unähnlich sah. Sie sank mit Schluchzen an die Brust der Mutter: „Ganz Altkirch ist voll von Verwundeten; wenn nur Richard nichts geschehen ist!“ Die weiteren Worte verschlang ein flott geblasener Marsch. Auch durch die Waldstraße rückten Franzosen ein. Es waren Husaren, und auf dem Balkon der Villa stand Herr Frank und wedelte ihnen mit dem Taschentuch zu; Frau Frank hörte, wie ein schmucker junger Leutnant auf einen französischen Anruf ihres Gatten munter zurückrief: „Jawohl, mein Herr, jetzt geht’s nach Berlin. Wilhelm wird seine Koffer packen müssen.“ Darob helles Freudelachen ihres Gatten; in gleicher Weise lachte er sonst, wenn erzählt wurde, daß man in Frankreich den Verlust von Elsaß-Lothringen noch immer nicht verschmerzen könne, wenn von der elsässischen Oppositionspartei gesprochen wurde und von den Brandreden des Doktor Parrasin, eines ihrer Führer [24] in Mülhausen. — Oh, von ihrem Gatten konnte jede Wetterfahne lernen! — Während sie mit Helene schweigend den Garten durchwandelte, war die Hausklingel gegangen, jetzt berichtete das Dienstmädchen, daß ein Herr Doktor Parrasin seit einer Viertelstunde mit Herrn Frank im Salon zusammen sei. Parrasin! Frau Juliette hörte es nur noch mit stumpfem Bewußtsein, sie verzichtete darauf, ihre Gedanken zu ordnen. Machtlos, gelähmt, dumm und träge fühlte sie sich; so sank sie auf eine Gartenbank, zog Helene an sich und lehnte ihr graues Haupt ächzend an die Brust des Mädchens. Da eilte ihr Gatte auf sie zu mit lebhaften Schritten, offenbar in munterster Stimmung. „Juliette“, rief er, „wir bekommen Einquartierung, französische Einquartierung, wir müssen einige Nachtlager in der Spinnerei einrichten, es brauchen keine Betten zu sein, es ist nur für den Notfall; die Sache muß aber ganz geheim bleiben. Verstehst du, Helene? Ganz geheim!“ In Frau Frank zuckte es auf; wehren mußte sie sich doch bis zum Äußersten! „Weshalb muß das geheim bleiben?“ fuhr sie auf mit einem Blick, der die Seele ihres Mannes durchbohrte. Helene war erschrocken. „Um Himmels willen, Vater“, jammerte sie, „tu doch das nicht. Richard hat mir mal gesagt, daß jeder erschossen würde, der bewaffnete Franzosen beherberge.“ „Ihr seid närrisch“, entgegnete mit den Händen fuchtelnd, Herr Frank, „die Franzosen sind doch jetzt Herren und Meister in Mülhausen. Glaubt ihr, daß die wieder herausziehen? Der Krieg ist ein Würfelspiel und das Glück wechselt immer. Ihr werdet sehen, die erste Schlacht ist entscheidend, die Franzosen werden Elsaß wieder gewinnen.“ „Und du“, rief zornglühend seine Frau, „willst Handlanger dabei spielen, willst die Deutschen verraten, geheime Fallen anlegen oder was weiß ich? Es sieht dir ähnlich, du hast keine Grundsätze, du kennst keine Anhänglichkeit und keine Treue.“ Sie atmete auf, es war ihr eine Wohltat gewesen, ihm ihre Meinung zu sagen. „Treue ist nur das Trägheitsgefühl der Seele“, versuchte Frank zu scherzen. — „Witze sind [25] auch eine Waffe, aber heute gilt sie nicht mehr“, erwiderte sie ruhig, aber streng, „ich bin zwar nur ein Weib, aber ich kenne meine Pflicht gegen das Vaterland; sobald du hier Franzosen einführst, verlasse ich das Haus und werde aus der Sache kein Geheimnis machen.“ „Ihr Weiber seid zu borniert, um die Zweckmäßigkeit einzusehen“, warf er ein. „Ich weiß, daß du irgendeinen Zweck verfolgst“, erwiderte sie höhnisch, „und daß du diesem Zweck Überzeugung und Anhänglichkeit, Weib und Kind opfern willst. Ich hänge ja nicht am Leben, du weißt wohl weshalb, aber“ — ihre Stimme erklang in drohender Leidenschaft — „unser Kind lasse ich nicht von dir ins Verderben ziehn. Helene ist mit einem deutschen Offizier verlobt, der draußen gegen die Franzosen kämpft, der vielleicht schon von ihrer Hand gefallen ist, und du willst die Feinde in deinem Hause verstecken? Das geschieht nicht, so lange ich deine Frau bin. Wenn auch nur dem Namen nach“, fügte sie mit Bitterkeit hinzu und wandte sich ab. Helenes Gemüt war durch die Worte aufs tiefste aufgewühlt, schluchzend fiel sie auf die Knie vor ihrem Vater, und als heftiger Schrei entrang es sich ihrer Brust: „Vater, bleib deutsch!“ Herr Frank hob sie auf: „Närrisches Kind du!“ sagte er; „na, ich sehe, mit euch ist nichts zu machen, also werde ich sorgen, daß wir keine französische Einquartierung bekommen.“ Behend lief er fort, um seine Zusage rückgängig zu machen, während Frau Frank alle göttlichen und weltlichen Trostgründe aufbot, um bei Helene das Gewimmel schwarzer Angstgedanken um ihren Bräutigam zu scheuchen. Es war eine schwere Stunde für die Mutter, und doch wehte aus der Herzensqual ihres weinenden Mädchens für sie ein Hauch von Glücksverheißung. Das war ja gar nicht mehr ihr oberflächliches Kind, das vom Vater ein reiches Erbe von Flatterhaftigkeit übernommen, und dessen Leben bisher nur ein Flattern in heiterem Lebenslicht gewesen. Das Verhältnis Helenens zu ihrem Bräutigam war der Mutter nie so recht innig wahr erschienen, und deshalb hatte gerade sie sich der beabsichtigten Nottrauung widersetzt. Jetzt erkannte sie, [26] daß ihre Helene stärker und fester war, ihre Liebe ernster und reiner, als sie je erwartet. Sicher würde sie sich im Feuer des Leidens, das dieser Krieg der „Soldatenbraut“ auferlegte, von allen Schlacken läutern, sicher würde das leicht gesponnene Fädchen unter diesem rauhen Eingriff des Schicksals fest und unzerreißbar werden, das war die Glückverheißung. „Wenn nur Richard noch nicht gefallen ist, wenn er nur den Krieg übersteht!“ Dieser Gedanke umschlang Mutter und Tochter, innig verbunden saßen sie wieder auf der Gartenbank und beteten für das Heil des jungen Kriegers.




Müde und niedergeschlagen kehrte Herr Frank zurück, und das Mittagessen wurde in recht gedrückter Stimmung eingenommen. Frank erzählte, daß die Beamten der Eisenbahn und der Post gestern die Stadt verlassen hätten, daß die Eisenbahngleise gesprengt seien, und daß die Deutschen beabsichtigten, den Oberelsaß preiszugeben. Erst auf Befragen gab er über die eigene Angelegenheit Auskunft. Die Einquartierung werde nicht kommen, aber man habe ihn einen Verräter genannt. „So etwas muß ich mir sagen lassen“, rief er in verzweifeltem Zorn, „und die weiteren Folgen werden nicht ausbleiben.“ „Welche Folgen?“ frug geängstet seine Frau. „Ich weiß nicht“, erwiderte er, „man hat mir nur gedroht. Drüben herrscht ein toller Übermut, man ist des Siegeslaufs so sicher. Die Russen von drüben, die Franzosen von hier, das Spiel ist kaum zu verlieren, und wer weiß, welche Schurkerei gegen mich ihre Rachsucht dann ausheckt. Vorläufig wird man nur bei uns plündern, denn ein Schreiber sagte mir: ‚Die Franzosen sind nicht hierher gekommen, um zu hungern und zu dursten, und das Nötige werden sie bei denen sich holen, die uns als Feinde entgegentreten.‘“ „O Gott“, rief seine Frau, „so laß uns unsere Sachen verstecken!“ Nun gab es einen Aufruhr, ein Gespute. Das Haushaltgeld, die Schmucksachen, das Silbergeschirr, die Kleider, wenn möglich alles sollte versteckt werden, [27] aber wohin damit? Im Keller wird man es finden, in der Spinnerei gibt es auch keine sicheren Schlupfwinkel, Vergraben ist schwer. Endlich kam Herr Frank auf den Gedanken, alle Wertsachen zu einem ihm befreundeten Bankier, dem Herrn Klein, zu tragen und die übrigen Sachen ihrem Schicksal anheimzugeben. So wurden denn Körbe gefüllt, und die Dienstmädchen schleppten sie nach der Stadt. In dieser sauren Arbeit vergingen einige Stunden, aber alles Wertvolle war der Plünderung entzogen. Pustend spazierte Herr Frank im Garten, Mutter und Tochter saßen im Wohnzimmer und sprachen bewundernd über die Tüchtigkeit, die der Vater bei diesem Aufräumen bewiesen, da erhob sich im Hause ein wüster Lärm. Französische Soldaten waren eingedrungen, hatten gleich den Weg in den Keller gefunden, dort, ohne nach dem Schlüssel zu fragen, die Lattentüre aufgerissen und schleppten nun die Vorräte an Wein, Kirschwasser und Likören, alles „geistige Eigentum“ des Herrn Frank lachend aus dem Hause hinaus auf eine draußen stehende Karre. Herr Frank wollte hinunter, doch Frau und Tochter hielten ihn mit vereinten Kräften zurück; so begnügte er sich, in den Keller hinunter die Frage zu rufen, ob Soldaten denn Einbrecher wären, doch auf eine Antwort wartete er nicht. Er warf sich im Zimmer auf ein Sofa und schloß die Augen, um nicht mehr sehen zu müssen. Nicht lange ließ man ihm Ruhe. Ein französischer Unteroffizier verlangte von ihm die Öffnung der Kleider- und Wäscheschränke. Frank mußte folgen, als treue Vasallen hingen sich Frau und Tochter an seine Arme. In der Seele des Alten sprangen Gedanken herum wie wilde Panter, während die Franzosen fröhlich ihre Beute machten und alles, was sie brauchbar fanden, durchs Fenster hinunterwarfen, wo es auf die Karre geladen wurde. Dann ging die Haussuchung und die Heimsuchung weiter, die Soldaten durchsuchten Kisten und Kasten, öffneten selbst jede Ofentür, um zu sehen, ob etwas versteckt sei. Aus den Zimmern ging es auf den Speicher, dann zurück in die Küche, die Soldaten freuten sich ihrer guten Beute, so oft aber Herr [28] Frank einen seiner Pantergedanken hinauslassen wollte, wußten Frau und Tochter ihm durch flehende Blicke den Mund zu verschließen, auch war ja die Art der Plünderung kennzeichnend dafür, daß sie nach besonderer Anweisung erfolgte, und Herrn Franks Klugheit schwang sich schließlich zu solcher Höhe auf, daß er vor sich selbst die Soldaten entschuldigte, die zum Plündern gezwungen waren. Als diese endlich das Haus verließen, war es so leer, daß für die Familie kaum etwas zum Nachtessen blieb. Frau Frank kamen die Tränen. „Ihr habt es selbst verschuldet“, polterte ihr Mann, „hätte ich nicht mein Versprechen zurückziehen müssen, hätten wir nichts verloren.“ „Nur unseren guten Namen!“ rief, ihre Tränen trocknend, Frau Frank; „der ist jetzt gerettet, ich klage nicht mehr.“ Ein warmes Gefühl kam über sie, ihr war, als ob die Eiskruste um ihr Herz zu schmelzen begönne. „Was läge daran“, dachte sie, „wenn alles verloren ginge, und ich die Liebe meines Mannes wieder gewönne.“ Er hatte heute um sie gelitten, dafür war sie ihm dankbar. Als man das Lager aufsuchte, sagte sie ihrem Mathieu: „Unser tägliches Brot werden wir wohl wieder finden, wenn wir es nur einmal wieder in Frieden essen könnten!“ Sie dachte nicht an den Frieden der kämpfenden Völker, der Welt, sondern an den ihres Hauses, und ihr Mathieu hatte sie verstanden.




In gleißender Schönheit erstrahlte der Morgen des folgenden Sonntags, des 9. August, und beleuchtete ein französisches Biwak am Tannenwald. Von der Villa aus sah man das magische Gewimmel der roten Hosen und all der anderen bunten Uniformen. Es fesselte die Damen, zu beobachten, wie die Soldaten ihre Wäsche reinigten, ihr Morgenbrot in Empfang nahmen und sich nach dem Frühstück an allerlei Spielen ergötzten, an Kinderspielen, wie Blindekuh, Haschen, Drittenabschlagen, und wie sie dabei vergnügt waren, wie Kinder. Etwas unheimlicher war es [29] zu sehen, daß die Artillerie den Bergkamm hinaufzog und oben in dem Tannenwald eifrig bemüht war, ihre Kanonen schußbereit zu machen. Da die Vorräte des Hauses kein Mittagessen mehr boten, beschloß man, daß die beiden Dienstmädchen zu ihren Eltern gehen sollten, während Franks sich bei der Familie des Bankiers Klein zu Gast laden wollten, bei der sie gestern ihre Wertsachen untergebracht hatten. Herzlich wurden sie hier willkommen geheißen, und als Frank von der Plünderung erzählt hatte, selbstredend unter Verschleierung der wahren Ursache, schloß er mit der Versicherung, daß ihn die Franzosen gestern nachmittag besser germanisiert hätten, als die Deutschen in 44 Jahren. „Sie werden schon ihre Dresche bekommen“, grollte Herr Klein. Er war auch Elsässer, aber durchaus deutsch gesinnt. Die Geschichte des Landes war sein Steckenpferd, und wann lag mehr als heute ein Anlaß vor, dieses zu tummeln? „Elsaß und Lothringen“, schloß Herr Klein das Gespräch, das noch über das Mittagsmahl hinausging, „sind seit ewiger Zeit deutsch gewesen, bis sie gegen den Willen des Volkes unter Ludwig XIV. von Frankreich erobert wurden. Jetzt sind sie von Deutschland zurückerobert und müssen deutsch bleiben.“ „Wir wollen es hoffen“, sagte Herr Frank, „wenn nur die Deutschen wieder einen Moltke an der Spitze hätten, wie 1870.“ „Einen Moltke haben sie, aber ihr bester Feldherr ist die Gerechtigkeit ihrer Sache“, erwiderte der Hausherr. Die Zeit verging sehr schnell, und als es von der Kirche vier Uhr schlug, mahnte Frau Frank zum Aufbruch. Ihr Gatte betrachtete kopfschüttelnd seine Uhr: „Es ist doch schon über halb fünf.“ „Die Franzosen“, erläuterte Herr Klein, „haben die Uhr auf französische Zeit gestellt.“ „Dann haben sie uns ja eine halbe Stunde jünger gemacht, unsere Befreier zeigen sich gleich als Wohltäter“, lachte Frau Frank. „Wer weiß, was sie noch mit uns Elsässern machen?“ meinte bedenklich ihr Gatte. Helene, der die geschichtlichen Auseinandersetzungen des Herrn Klein beinahe ebenso gleichgültig waren, wie dessen beiden Töchtern, tummelte sich mit diesen [30] auf einem Grasplatz im Ballspiel herum. Diese Mädchen waren etliche Jahre jünger als Helene, aber im Spiel zeigten sich alle gleich kindlich und wirbelten mit glühenden Wangen wie Rosenblätter auf dem Grasplatz umher. Als Frau Frank Helene zur Heimkehr rief, stieß sie auf lebhaften Widerspruch, vergessen war alle Kriegsnot, vergessen die Sorge um Richard, die alte Helene, das reine Kind, war wieder aufgelebt, dessen Herz jetzt nur das Streben fühlte, das Ballspiel fortsetzen zu dürfen. Herr Klein legte sich für sie ins Zeug: „Lassen Sie sie doch noch hier! Gerade in dieser Zeit soll man niemandem seine Freude nehmen. Ich bringe Ihnen Helene wohlbehalten nach Haus, und sollte etwas Schlimmes geschehen, nirgendwo ist sie sicherer, als hier; ich kann sie ja notfalls in einem Safefach einschließen“, sagte er lachend. So zogen Herr und Frau Frank, von Frau Klein noch mit einigen Leckerbissen für ihr Abendessen bepackt, allein nach Haus.

In der Stadt war lebhafte militärische Bewegung. Französische Fußsoldaten standen hier und da in Gruppen und ließen die Feldflasche kreisen, Reiter bewegten sich hin und her; es war fast, als ob sie auf etwas lauerten. Da, — kaum waren Herr und Frau Frank zu Hause angelangt, hörten sie plötzlich einen Kanonenschuß im Norden Mülhausens, bei dem Vorort Pfastadt. „Das ist deutsche Artillerie“, sagte Herr Frank. Beide stiegen auf den Balkon und sahen die ersten Schrapnells in die Stadt einschlagen. Doch auch auf dem Bergkamm ihnen gegenüber leuchtete es auf; die französische Artillerie, die sich dort heute morgen eingerichtet, ließ ihre Kugeln pfeifen. Herr Frank machte vor der ersten eine tiefe Verbeugung, aber dann erläuterte er seiner zitternden Frau mit Kennermiene, daß die französischen Kanonen unbedingt über ihr Haus hinwegschießen müßten, wenn sie die deutschen Batterien anspucken wollten, dagegen wäre es, wenn die Deutschen ungenau zielten, wohl möglich, daß eine ihrer Granaten anstatt des Tannenwäldchens ihre Villa träfe. Da schlug gerade ein solches Ungetüm zwischen der Villa und dem Berg in die Erde, [31] bohrte sich, wie voll Wut und Tücke, ein und wirbelte Erde, Gras, Steine in die Höhe. In herzzerreißender Angst flüchtete das Ehepaar in den Keller, ihr letzter Blick nach der Stadt zeigte ihnen wieder, wie dort ein glühender Hagel von Schrapnells niederging, und mit der Angst umpreßte zugleich die Sorge um Helene ihre Herzen. „O Gott“, stöhnte Frau Frank, „wenn ich das Kind verlöre! Komm, laß uns beten!“ Sie begann, wie sie es in ihrer Kindheit gelernt hatte: „Notre père, qui es aux Cieux“, doch Herr Frank unterbrach sie: „Liebste, nicht diese Laute! Ich kann nur deutsch beten!“ So begann sie und betete immer wieder das „Vaterunser“. Sie saßen im Keller auf einer Kiste, er hielt sie umschlungen und suchte sie zu trösten. „Bei Klein wird man ebenso im Keller sitzen, wie wir hier. Gott ist überall und wird Helene schützen. Denke doch nichts Schlimmes, ich flehe dich an“, damit küßte er ihr die Tränen von den Wangen und Augen. „Ich vertraue ja auch zu Gott, daß ihr nichts geschieht“, sagte sie einmal, „was bliebe mir noch in der Welt, wenn ich sie verlöre?“ „Es klingt wohl etwas eigentümlich“, war die zagende Antwort, „wenn ich sage, daß ich dir noch bleiben würde.“ „Allerdings“, seufzte sie, „ach Gott, wir haben uns so weit voneinander entfernt.“ „Wir können uns doch wieder näherkommen, unser Lebensbund muß neu geschlossen und befestigt werden, Liebste“, fuhr er empor, „wir sollen und müssen uns näherkommen. Was hindert uns daran? Mir bist du das einzige Weib auf Erden, das ich wahrhaft liebe, und sollte noch je die Versuchung wieder an mich herantreten, ich habe den festen Willen, sie abzuwehren. Mich verlangt nach dem Bewußtsein, dir den Treuschwur bewahrt zu haben.“ Wie wonnig labend fielen ihr diese Worte in das gequälte Herz. „Ich habe dir nicht genug Nachsicht bewiesen“, erwiderte sie, „ich hätte deine kleine Verirrung längst vergessen sollen, kannst du mich denn noch ehrlich lieben?“ „Juliette, soweit das Feuer der Liebe noch in mir brennt, brennt es für dich“, jubelte er und drückte seine Frau stürmisch an sein Herz. Während über [32] dem Hause die todbringenden Kugeln auf ihren Eisenflügeln schrecklich pfeifend hin und her flogen, während der Wahn uralten Völkerhasses sich über ihnen austobte und ringsumher Vernichtung säte, feierte im dunklen Keller das alte Ehepaar die Auferstehung seiner Herzensfreundschaft. Alle Lieblosigkeiten der letzten Zeit baten sie einander ab, und wenn eins sich beschuldigte, wurde es vom anderen gegen sich selbst verteidigt. Die Gefahr, in der sie schwebten, hatten sie fast vergessen; „eine Mauer um uns baue!“ flehten gemeinsam ihre Herzen, und es war, als sei ihre Liebe zu solcher Mauer um sie geworden. — Gegen Mitternacht hörten sie die französische Artillerie den Berghang hinunter und weiter auf der Ziemersheimer Landstraße nach dem Zoologischen Garten zu in rasender Flucht abziehen. Anderthalb Stunden hindurch rasselten die Kanonen wie eine Eisenflut hinunter, doch noch immer flogen Schrapnells von Pfastadt her, und auf der anderen Seite grollte schrecklich der Isteiner[WS 3] Klotz, dazwischen rauhe Gewehrsalven, das zackige Geknatter der Maschinengewehre; es war den beiden, als führen sie auf einem Schiff, dessen Segel, losgerissen, wie toll im Sturm knallten und grollten, doch ihre Brust füllte nur der selige Gedanke an den sicheren Hafen, der sie jetzt erwartete. Auch die Sorge um Helene hatte einen guten Teil des Erschreckenden verloren. Alle Vernunftgründe wurden tausendfach verstärkt durch den Glauben, daß ihre Versöhnung, die Erneuerung ihres Lebensbundes, ein gottgefälliges Werk sei, und Gott sie jetzt nicht mehr strafen werde. War es ihnen doch oft, als habe Gott den Krieg gesandt, um ihre verstockten Herzen zu erneuern und zu vereinigen, und als Frank sich hiergegen sträubte und durchaus nicht für diesen Krieg verantwortlich gemacht werden wollte, schauderte auch sie zurück vor einer so selbstischen Auffassung, aber sie meinte doch: „Wir sind sicher nicht die einzigen Sünder, vielleicht müssen Millionen durch die Geißel des Krieges zur Tugend und Eintracht zurückgeführt werden. Wer weiß? Wir Menschen können nicht die verschlungenen Wege der Vorsehung [33] erforschen.“ Der Kanonendonner war verstummt, doch aus der Stadt herauf flammte das Signal „Kartoffelsupp“, Herr Frank wußte, daß es Bajonettangriff bedeutete. „O Gott“, rief er, „wie mancher brave Junge wird da sein Leben lassen!“, und Frau Frank dachte an Richard. So mußte ihr Geist vom stillen Blumeneiland ihrer Liebe wieder hinaus in das wogende Blutmeer des Tages. Vorsichtig verließen sie den Keller und schauten wieder vom Balkon in die Ferne. Wie dankten sie Gott, daß keine Kugel ihr Heim getroffen, es war wirklich ein Wunder. Draußen schrien die ersten Hähne, der Mond stand klar und kalt am Himmel, und über dem „Blauen“, dem Schwarzwald, stieg die Morgensonne des Montags hervor. Aus weiter Ferne klangen die tobenden Trommeln, die wütenden Hörner, die Stadt war offenbar wieder in dem Besitz der Deutschen. „Jetzt könnte Helene doch kommen“, wieder entrang sich dieser Seufzer der Mutterbrust. Da raste ein Auto die Waldstraße herauf, ihm entstieg Herr Klein mit Helene. Eine fliegende Begrüßung, ein stürmischer Bericht. Eine deutsche Granate hatte das Wohnhaus des Herrn Klein getroffen, war durchs Dach und zwei Zimmerdecken bis in das Speisezimmer gegangen, wo man gestern mittag gegessen, im Garten waren Bäume, Blumen, Palmen zerstört, aber das Leben war gerettet. Natürlich hatte man die Nacht im Keller zugebracht, aber im Kellergewölbe der Bank, mit allen Bequemlichkeiten ausgestattet. „Ach, da war’s so gemütlich, wie in Abrahams Schoß“, lachte Helene. „Sie wollte noch gar nicht heraus“, ergänzte Herr Klein, „aber ich habe darauf bestanden, weil ich die lieben Eltern nicht in Sorge lassen wollte.“ Dann erzählte er von den schauerlichen Geschehnissen in der Stadt. Ein fürchterlicher Nahkampf hatte getobt, dunkle Körper lagen auf den Straßen, die Autos rasten umher, um die Verwundeten zu holen, alle Krankenhäuser und Notlazarette waren schon mit ihnen gefüllt. „Oh, welches Füllhorn von Jammer hat diese Nacht auf Mülhausen entleert!“ rief Klein verzweifelt. Auch die Dienstmädchen [34] fanden sich wieder ein, und da Lebensmittel eingekauft werden mußten, fuhr Herr Klein eine von ihnen gleich in seinem Auto zurück nach der Stadt. So blieb es Helene überlassen, die Erzählung der nächtlichen Erlebnisse zu vollenden, zum Erstaunen der Mutter kam sie dabei immer wieder auf einen jungen Herrn zurück, der als Volontär im Kleinschen Bankhause tätig war und ihnen im Keller Gesellschaft geleistet hatte. „Du kannst dir keinen Begriff machen, welch liebenswürdiger Mensch er ist.“ „Oh, da ist sie wieder, die Franksche Flatterhaftigkeit“, dachte die Mutter. „Und von Richard sprichst du keine Silbe, an ihn hast du gar nicht gedacht?“ Erst jetzt kam über Helene die Erinnerung, und sie erbebte im Schmerz, auf die Faust mußte sie beißen, um nicht gellend aufzuschreien, dann aber sank sie schluchzend an der Mutter Brust. — Endlich kam die Küchenregentin aus der Stadt zurück mit den gekauften Lebensmitteln, doch alle Leibesnotdurft wurde fast vergessen über dem, was sie zu berichten wußte. Das ganze siegreiche deutsche Armeekorps war soeben in die Stadt gerückt. „Nichts als Himmel und Soldaten!“ Die Feldpost, das Rote Kreuz, den glänzenden Stab hatte sie gesehen, brausender Jubel war ihnen entgegengeschallt, doch auch von allerlei Verhaftungen Mülhausener Bürger wurde gemunkelt. — Die Mahlzeit kochte das Dienstmädchen, indem sie „Deutschland, Deutschland über alles“ sang, das ihr von der Stadt her in den Ohren klang; nach dem Mittagessen ging die Familie auf den Balkon und hörte die Klänge desselben Liedes emporsteigen, als hätte dieses hundert Strophen, und als der Kaffee eingenommen, konnte Herr Frank sich nicht erwehren, das gleiche Lied anzustimmen, und Frau und Tochter stimmten ein. Helene bemerkte verwundert den warmen Ton in der Unterhaltung ihrer Eltern, und bei dem ihr ganz neuen Anblick des elterlichen Eheglücks fiel ihr öfter Richard ein. Wer bot denn wohl die besten Aussichten für ihr Eheglück, der stramme Artillerieleutnant Richard, oder der hübsche, lustige, schlaue und kecke Bankvolontär, gegen dessen Kuß [35] im Keller sie sich doch eigentlich noch mehr hätte wehren müssen? Herr Frank hatte gerade mit Genugtuung festgestellt, daß die Uhren wieder nach deutscher Zeit gestellt waren; da, — es hatte gerade sechs geschlagen, — ging die Klingel, und frisch und fröhlich trat Richard ein, ein kräftiger Achilles in Feldgrau. Welcher Jubel und wieviel zu erzählen! Richard nahm für sich das Verdienst in Anspruch, daß die Villa noch stand, er hatte dafür gesorgt, daß auf den Tannenwald mit besonderer Vorsicht geschossen wurde, auf die Stadt hatte er mehrere Schüsse selbst geleitet, weil dort die Franzosen standen; so hatte er ja wohl auf seine eigene Braut geschossen. „Aber ätsch!“ sagte diese, „eure Kugeln sind machtlos gegen unsere Keller!“ „Sag lieber: Ich bin mit blauem Auge davongekommen, sonst verfolgen auch die Kugeln unsere Losung: Durch!“ Unter Scherzen und Kosen verging ihnen schnell die Zeit; wie heute nacht die Eltern, fühlten sich jetzt Richard und Helene auf einem Blumeneiland inmitten der wogenden See. Als Richard sich gegen neun Uhr verabschiedete, tönte von der Stadt her noch immer brausender Jubel und Musik, doch Richard war nicht ohne Bedenken. „Ich fürchte“, sagte er zu Herrn Frank, „daß wir hier noch nicht fertig sind. Mich würde es wundern, wenn nicht noch französische Soldaten in Mülhausen versteckt wären.“ Herr Frank wäre am liebsten in die Erde versunken und beschleunigte sein Abschiednehmen; doch als die beiden jungen Leute Arm in Arm die Waldstraße hinunterschritten, da Helene ihren Bräutigam noch ein Stückchen Weg begleiten wollte, faßte Frank seine Frau an beiden Händen und flüsterte ihr zu: „Wie danke ich dir, daß du mich an der Einquartierung der Franzosen gehindert hast! Erst jetzt ist mir ein grelles Licht über den Zweck dieser Einquartierung aufgegangen.“[WS 4]

Es dauerte nur eine ganz kurze Zeit, da bewahrheiteten sich Richards Befürchtungen. Der Verrat zischte aus allen Winkeln und Ecken hervor, aus Fenstern, Kellerlöchern, von den Dächern schossen französische Soldaten [36] auf die in den Straßen befindlichen Wachen, die vorbeimarschierenden Truppen, und ein heißes Feuer von untenher war die schnelle Antwort des zur Raserei gereizten deutschen Männerzornes. Der grause Schnitter Tod stürmte im Laufschritt durch die Straßen und machte große Ernte. In der Villa Frank bebten wieder alle Herzen, und Herr Frank faßte den festen Entschluß: „Morgen früh verlassen wir alle die Stadt.“ Den Weg nach München wollte man einschlagen irgendwie, nur fort aus dieser Hölle! Allerhand Pläne wurden geschmiedet, Anordnungen getroffen, Koffer gepackt, doch zunächst galt es, sich für die Nacht wieder im Keller einzurichten. Mitternacht war längst vorbei, als man drunten die müden Glieder streckte, noch immer klang aus der Stadt das unheimliche Getöse, das Pfeifen, Zischen und Krachen in die angstvolle Stille der Villa, und erst gegen Morgen streifte der Engel des Schlafs durch den Kellerraum, und erquickte die von allen Nachtwachen und Ängsten zitternden Nerven durch ein leises Tröpflein seines Balsams.

Anhaltendes, schrilles Klingeln der Hausschelle weckte die Schlummernden in den unterirdischen Schlafgemächern. Ein alter Arbeiter der Spinnerei stand draußen und meldete, daß der Leutnant wie tot in der Bahnhofshalle liege. Ein Blitz hätte in dem Keller keine schlimmere Erregung verursachen können. Herr Frank war der erste, der sich entschlossen zusammenraffte, er stürzte aus dem Keller, und bald darauf hielt ein Auto vor dem Haus. Aber auch Helene, die sich anfangs mit herzzerreißendem Schluchzen zur Erde geworfen hatte, flog die Treppe hinauf und kam in Hut und Jäckchen wieder. „Ich fahre mit!“ rief sie. Vergebens, daß ihre Mutter davon abmahnte, daß ihr Vater sie voller Befürchtungen anstarrte, das bleiche Gesicht Helenens zeigte eine unbeugsame Entschlossenheit, und schon saß sie als Lenkerin mit dem Vater und zwei schnell herbeigeholten Arbeitern auf dem zum Bahnhof hinuntersausenden Kraftwagen. Die ganze Halle lag voll von verwundeten und sterbenden Kriegern aller Waffengattungen. [37] Sanitäter, Krankenschwestern, Damen und Herren aus Bürgerkreisen schritten zwischen ihnen umher, Ärzte machten Verbände und ordneten die Fortführung von Verwundeten, es war ein wirres, ein entsetzliches Bild. Helenens Blicke überflogen es. Da, — in der Ecke, auf einem Feldstuhl, die Jammergestalt, sie erkannte sie sofort, — das war Richard. Starr und bleich lag er da, die rechte Hand war schon verbunden, der Daumen fehlte, und unter dem Helm her rieselte ein Blutbächlein über das niederhängende Gesicht. „Tot“, rief Helene mit einem Schmerzensschrei, und beugte ihr Haupt niederkniend auf seinen Schoß. Ihr Vater hob Richards Kopf und wollte ihm sanft die Augen zudrücken. „Heiliger Gott!“ schrie er, „er lebt doch noch! Die Augenlider bewegen sich.“ Mit einem Satz reckte er sich auf, einer der mitgekommenen Leute mußte im Fluge zum Hausarzt der Frankschen Familie. „Wir nehmen ihn mit“, rief Frank, „Doktor Kurz soll sofort zur Waldstraße kommen. Warten Sie, bis er mitkommt!“ Der andere Mann mußte in der Bahnhofswirtschaft ein Fläschchen Kognak holen. „Auf meine Verantwortung!“ wehrte Herr Frank den Bedenken seiner Tochter und flößte Richard einen Schluck davon ein. Dann mußte Helene trotz ihres Sträubens, dann der Arbeiter trinken, und Frank trank den Rest. Ein leises Zittern ging durch Richards Glieder, die Augen richteten sich unter halbem Öffnen der Lider einen Augenblick auf Helene, und ein langer Atemzug hob die Brust. Vorsichtig trugen nun Herr Frank und der Arbeiter ihn in das Auto, und indem Herr Frank sich neben ihn setzte und ihn umschlungen hielt, während Helene steuerte, ging die Fahrt zur Villa zurück, wo Richard von Herrn und Frau Frank bedachtsam im Salon gebettet wurde. Wie träumend schaute Helene zu, doch als er auf dem Kissen lag, hauchte sie verstohlen einen Kuß auf seinen Mund. Bald kam der Arzt, nahm ihm den Helm ab, wusch die Kopfwunde, untersuchte sie, und wie Engelsbotschaft erklang es allen, als der grauköpfige, freundliche Herr erklärte: „Die Wunde ist ganz [38] unbedeutend, wahrscheinlich von einem Fall.“ Dann tastete und untersuchte er den Körper, er war unverletzt; dann löste er den Verband der Hand und schüttelte bedenklich den Kopf. „Es tut mir schmerzlich leid, aber da ist nichts zu machen“, sagte er traurig, „die Hand wird unbrauchbar bleiben.“ „Ist das alles?“ frug Helene zaudernd. „Sonst finde ich nichts.“ Ein Jubelschrei entfuhr Helenens Brust. „Vielleicht tun Sie ganz klug, sich zu freuen“, sagte der Arzt mit schelmischem Blick auf Helene, „diese Verletzung wird den Herrn Leutnant für den Kriegsdienst untauglich machen“, dann ordnete er alles Nötige an und versprach, am Abend wiederzukommen und die Kopfwunde zu vernähen, nachdem der Verwundete sich von der Erschöpfung durch den starken Blutverlust erholt habe. Helene war von einem Freudentaumel erfaßt und eilte in den Garten, um allein ihr Herz sich ausjubeln zu lassen, Herr und Frau Frank geleiteten den Arzt noch bis an seinen Wagen und tauschten ihre Eindrücke von den furchtbaren Vorgängen der letzten Tage aus. „Es ist eine Schande“, rief entrüstet Herr Frank, „daß solcher Verrat in Mülhausen möglich war. Das nenne ich rohesten Barbarismus, aus dem Versteck meuchelmörderisch Menschen niederzuknallen. So etwas geht gegen alles Völkerrecht, gegen die Menschlichkeit. Schande über die Bürger, die solches Blutbad verschuldet haben. Den guten Namen der Elsässer haben sie in Schmach gebracht, und wer weiß, ob nicht mancher Unschuldige mit den Schuldigen bestraft wird? Doktor, wir wandern morgen aus nach München!“ „Und Ihr Patient?“ „Ach, an ihn habe ich nicht gedacht. Dann geht es nicht.“ „Warum nicht? Wo wohnen denn seine Eltern?“ „In Landsberg in Bayern.“ „Das trifft sich ja. Dann würde ich Ihnen raten, eine der hübschen Sommerfrischen zwischen Landsberg und München am Starnberger oder Ammersee aufzusuchen. Die sind besser als die Großstadt.“ „Kann denn der Leutnant schon so weit mit der Eisenbahn fahren?“ „Selbstverständlich, es kann seinen Nerven und somit seiner völligen Genesung [39] nur förderlich sein, wenn er baldigst hier fortkommt.“ Die Augen von Herrn und Frau Frank leuchteten in doppelter Freude über diesen Bescheid, und der Arzt versprach noch, die Angelegenheit bei der Militärbehörde zu ordnen. — Helene hatte sich inzwischen an das Lager des Verwundeten gesetzt, ihre Hand mit seiner gesunden Linken verschlungen und wurde nicht müde, ihn anzuschauen. Ruhig atmend, mit heiterem Gesichtsausdruck lag er da, und während aus der Ferne Trompetenklänge dazwischenklangen, flüsterte sie glückselig immer wieder: „Wie lieb, wie lieb ich dich habe, mein Einziger! Oh, nun hab’ ich dich wieder. O Gott, laß ihn bald genesen! Wie ruhig er schläft! O du mein einziger Schatz!“ Wieder öffnete Richard langsam die Augen, und diese belebte ein Freudenstrahl des Erkennens, das ein leichter, aber doch für Helene bemerkbarer Druck um ihre Hand bestätigte. Es war noch heller Tag, als der Arzt zurückkam und die Kopfwunde vernähte. Hierüber erwachte der Schläfer, er erkannte alle, dann schaute er mit schmerzlichem Gesichtsausdruck auf seine verstümmelte Hand. Der Arzt sprach ihm Trost zu, doch der Kranke schloß die Augen wieder. Die anderen berieten nun die Vorkehrungen der Reise. „Vielleicht entsteht ein kurzes Wundfieber“, sagte der Arzt. „Nachher schaffen Sie den Herrn Leutnant, — als alter Freund darf ich wohl sagen: den Herrn Schwiegersohn, der jetzt allerdings nur noch zur linken Hand heiraten kann, — so schnell wie möglich aus dem Mülhausener Hexenkessel in irgendeine stille Idylle. Für das blutige Kriegshandwerk ist er verloren, aber, da er schon so feste Liebesfädchen gesponnen hat, wird er vielleicht, wenn mal wieder Friede ist, ein tüchtiger Spinnereidirektor werden.“ Herr Frank lachte sein herzliches Lachen, er lachte so laut, daß der Leutnant nochmals langsam die Augen öffnete. Von einem zum andern ging sein stiller, dankbarer Blick, dann blieb er starr haften an einer Stelle der Wand. „Was [40] soll das Bild?“ frug er mit matter Stimme. „Ein Bild?“ Niemand hatte mehr daran gedacht, jetzt richteten sich aller Augen auf die düstere Frauengestalt mit der Unterschrift: „Souviens toi!“ Herrn Franks Gesicht überzog Purpurröte, doch seine Frau kam ihm schnell zu Hilfe: „Ach“, lachte sie, „mein Mann hat mich früher mal damit necken wollen, daß er die alte Scharteke hier aufhing. Er behauptet, die Frauengestalt habe Ähnlichkeit mit mir.“ „In der Tat“, sagte der Arzt, an das Bild herantretend, „eine äußere Ähnlichkeit ist vorhanden, aber das Gesicht hat einen Ausdruck leidenschaftlicher Grausamkeit, der Ihnen ebenso fremd ist, wie der Gedanke der Rache und des Deutschenhasses, den das Bild verkörpert.“ „Gewiß“, erwiderte Frau Frank, „das alles liegt mir fern. Wenn’s nach mir ginge, gäbe es überhaupt keinen Krieg. Dennoch möchte ich heute sagen: Souviens toi! Verrat, Lüge, Haß haben das Blutbad der vorigen Nacht angerichtet, und die Erinnerung daran sollte uns mahnen, daß Treue, Gesetzesfurcht und Ehrfurcht vor dem Menschenleben keine Dinge sind, mit denen man sein Spiel treibt.“ „Sie haben recht“, sagte der Arzt, „der Fanatismus unserer Französlinge hat damit ein frevles Spiel getrieben, so lange wir leben, werden wir dieses Souvenir nicht verlieren.“ Der Kranke schlief, und die übrigen geleiteten den Arzt hinaus, der, wie er sagte, heute noch viel zu tun hatte. Dann ging Frau Frank mit Helene in den Garten. Die letzten Sonnenstrahlen küßten noch die Rosen, eine Nachtigall sang aus dem Gebüsch. Es war Helene, als müßte sie ihre Brust öffnen, ein „Gott sei Dank!“ entstieg ihrem Herzen, wie ein loderndes Dankopfer. „Hast du denn Richard wahrhaft lieb?“ frug die Mutter. „Seit heute ist es mir Gewißheit und fester Wille geworden“, war die Antwort. „Oh, welche Angst bekam ich heute morgen, zumal mein Gewissen nicht ganz rein war. Gestern im Keller“, fügte sie errötend leise hinzu, „war ich ihm nicht ganz treu gewesen.“ [41] „Du bist ein Schmetterling“, tadelte Mama. „Jetzt nicht mehr, Mutter“, sprach frisch und offen Helene, „der heutige Tag, an dem ich um Richards Verlust bangte, hat mich ganz umgeändert. Mir ist, als hätte ich früher in einem engen Talkessel gespielt und heute plötzlich den Weg aus dem Tal auf den Berggipfel gefunden, die Luft weht hier rauher, ich muß mich zusammennehmen, aber vor mir sehe ich wie eine wunderschöne Landschaft das Glück des Lebens gebreitet. Ich möchte nicht zurück zu meinen früheren Spielen, ich habe nur das eine Sehnen, meines Richards treue Gefährtin, seine rechte Hand zu werden.“ So sprachen Mutter und Tochter noch eine Weile fort, und ein Strom von Herzensfreundschaft ging von einer Seele zur andern. „Ohne Treue“, sagte die Mutter, „gibt es kein Glück in der Ehe. Jede Untreue untergräbt das Familienleben, jedes Geheimnis vor dem anderen stört seine Innigkeit, und gerade für uns Frauen ist es von der größten Wichtigkeit, daß das Familienleben fest und unerschüttert bleibt, weil dieses unser Halt und Schirm im Leben ist. Das ist gerade in Frankreich der wundeste Punkt, daß das Familienleben nicht“ — — in diesem Augenblick trat aus einem Gebüsch Herr Frank hervor, hinter die beiden Damen und hing sich mit den Worten: „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der dritte!“ in beider Arm. „Oh, du erschreckst uns“, rief Frau Frank, „und du hast uns belauscht.“ „Nicht die Spur“, entgegnete er munter, „nur ein paar Weisheitsworte von dir habe ich gehört, im übrigen kräftig gearbeitet.“ „Was denn?“ „Das Bild unseres Kaisers habe ich wieder an seinen Platz gehängt und das „Souviens toi“ in tausend Stücke zerschlagen. Ich will in keine Versuchung mehr kommen.“ „Das ist gut“, stimmte Frau Frank ein, „wir tragen ja jetzt ein anderes Bild im Herzen.“ „Jawohl“, jubelte ihr Gatte, „Souviens toi heißt jetzt für uns: Treue in der Liebe, in der Ehe! Treue [42] unserm Deutschland und dem Kaiser!“ So schritten die drei durch den dunklen Garten dem Hause zu, in ihrem Herzen leuchtete Sonnenschein, aus der Stadt klang wieder tausendstimmig das Lied: „Deutschland über alles“, und Herr Frank summte mit:

„Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Über alles in der Welt!“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Suoviens-toi!
  2. Vorlage: ein
  3. Vorlage: Ilsteiner
  4. Schließendes Anführungszeichen fehlt in der Vorlage.