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Sie zuckte zusammen. „Was war das?“ Schmetternde Fanfaren klangen durchs Fenster. Brauste der Krieg schon an die Schwelle ihres Hauses heran? Ihr war, als ob die Luft sich verfinsterte, als ob die Flügel von tausend Geiern über ihrem Kopfe schlügen, sich fürchterlich herniedersenkend, alles verdunkelnd. Ihr Herz schrie stumm nach Hilfe, nach Schutz, nach ihrem Mann, eine wilde Sehnsucht war in ihr nach Versöhnung, nach Liebe. Da stürmte ihr Gatte ins Zimmer, ein großes Bild in schwarzem Rahmen unter dem Arm. „Mülhausen ist wieder französisch“, rief er, „die Franzosen haben die Schlacht gewonnen; ein ganzes Armeekorps rückt ein.“ Während dieser Worte hatte der leicht bewegliche Herr mit blühendem Gesicht unter schneeigem Haar einen Stuhl vor die Wand gerückt, das Bild des Deutschen Kaisers heruntergenommen, das im Goldrahmen den Salon schmückte, und das andere Bild an seine Stelle gehängt. Ein erstaunter Blick der Frau Frank, sie wußte genug, und eine heiße Welle der Entrüstung stieg ihr in die Kehle. „Schäme dich, du Judas“, schrie sie wild und eilte zur Tür hinaus. — „Bei diesem schwanken Rohr wollte ich Halt suchen!“ sprach sie bitter lächelnd zu sich selbst. Bleiche Erinnerungen stiegen gespenstisch aus ihrer Seele. Oh, sie kannte das Bild; es stammte sogar aus ihrem Elternhaus. Eine düstere Frauengestalt stellte es dar, mit leuchtenden Augen, mit der rechten Hand auf Trümmer und brennende Städte zeigend. Unter dem Bilde stand „Souviens toi!“ Schatten schwebten an ihren Augen vorüber. Sie sah sich selbst als kleines Mädchen von sechs Jahren, das sein Haupt in das Kleid der weinenden Mutter preßte, sie sah wieder die bleichen, blutigen Gestalten auf der Erde liegen, sah ihren ernsten Pfarrer, der sich über die Leichen bückte, um ihnen die Augen zuzudrücken. Und ihren Vater sah sie wieder vor sich, den stillen, sinnenden Mann, der den Preußen nie vergessen konnte, daß sie 1870 seinen Sohn, ihren ältesten Bruder, einen hoffnungsvollen Jüngling, der damals in den Reihen der Franzosen kämpfte, totgeschossen hatten. Souviens toi! Oh, wohl erinnerte sie

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Aurel von Jüchen: Frauenleben im Weltkriege. Xenien-Verlag, Leipzig 1915, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:J%C3%BCchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/24&oldid=- (Version vom 1.8.2018)