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schlimm“, war sein Schluß, „aber für Viktor ist die Todeswahrscheinlichkeit, genau berechnet, gering.“ — Und von neuem schwebte im Gespräch der beiden der Bilderreigen vorüber, zu dem ihrem geistigen Ohr das Orgelbrausen der Wogen klang, wieder sahen sie die stolzen, grauen Kolosse sich wiegen, wieder schauten sie die sturmgefeiten, straffen Gestalten der Führer, von denen sie manche persönlich kannten, wieder ein entsetzlicher Schatten, und wieder kam er zu dem Schluß: „Man kann ja eher ein Jahrhundert vorhersagen, als den nächsten Tag, aber ich habe das sichere Gefühl, daß wir Viktor als Sieger wiedersehen werden.“ „Wir wollen es hoffen“, stimmte sie ein; dann erzählte sie lächelnd, daß man ihr die unangenehme Aufgabe aufgeladen habe, einige Arbeiterfamilien zu besuchen, und machte sich zu diesem Kreuzgang, wie sie ihn nannte, bereit. „Na, weißt du, dazu hätte man doch auch irgendeine Lehrerin oder Pastorin bestimmen können“, rief er ihr zu, „die machen das weit besser, als du.“ Sie lächelte, und indem sie die langen dänischen Handschuhe, die sie draußen fast immer trug, glättend über die Taillenärmel zog, er widerte sie: „Du hast ganz recht, aber in Kriegszeiten kann man sich solchen Aufgaben nicht entziehen, wenn sie einem aufgedrängt werden.“

Die Frau Direktor ging längs der, die Zechenanlagen umschließenden, endlosen Mauer dahin, über welche düstere Gebäude, Maschinenhallen, Kesselanlagen, Materialienhäuser, die plumpen Kühler und das hochstrebende, zierliche, eiserne Schachtgerüst mit seinem rollenden Rad empor ragten, dann kam die unabsehbare Reihe von Koksöfen, die ihre düstere Glut entsandten, und dann weitere Fabrikgebäude. Welch häßliche Umgebung! O schönes, grünes Meer! Nun war sie am Ziel: in der Arbeiterkolonie, wo die kleinen Häuschen wie Soldaten von ganz gleichem Aussehen in Reih und Glied nebeneinander stehen. Sie mußte sich einen Ruck geben, um die Abneigung zu überwinden und in das erste Häuschen einzutreten. Die Frau Direktor wurde wie eine Fürstin empfangen, sie erledigte ihren

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Aurel von Jüchen: Frauenleben im Weltkriege. Xenien-Verlag, Leipzig 1915, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:J%C3%BCchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/55&oldid=- (Version vom 1.8.2018)