Galerie historischer Enthüllungen/1. Wilhelm Tell und der Rütlibund

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Autor: Otto Henne-Am Rhyn
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Titel: Galerie historischer Enthüllungen 1. Wilhelm Tell und der Rütlibund
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aus: Die Gartenlaube, Heft 49, S. 802–804
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Galerie historischer Enthüllungen.*[1]


1. Wilhelm Tell und der Rütlibund.


Wer erinnert sich nicht mit tiefer Wehmuth der Zeit, da ihm nach froh und sorglos durchlebter, poetisch schöner Jugendzeit zum ersten Male offenbart wurde, daß die lieben Geschichten vom Christkindlein, das die herrlichen Weihnachtssachen, und vom langbeinigen Storche, der das herzige Brüderchen und Schwesterchen brachte, eine liebliche Dichtung der Eltern für die Kinder und weiter nichts seien? Und so mußte es auch den großen Kindern sehr weh um’s Herz sein, als die Naturforschung der Neuzeit mit ihren unerbittlichen geologischen Schichten und paläontologischen (urweltlichen) Resten die Schöpfungsgeschichte, wie sie von der Bibel erzählt wird, und die Sündfluth in das Reich der Volkssagen verwies, und die ernste Geschichtsforschung nachkam und einen Abraham und Moses als historische Personen wegrasirte oder wenigstens anzweifelte, gleich einem Herakles und Romulus! Noch weit mehr aber mußte es in die Herzen greifen, als der unbarmherzige Strauß und seine Nachfolger die Unzuverlässigkeit der evangelischen Erzählungen nachwiesen, und Wunder sowohl als Auferstehung und Himmelfahrt aus lange angestaunten großen historischen Thatsachen zu Gegenständen der Mythologie wurden!

Nun, gerade so ging es einerseits den Bewunderern und Verehrern des unsterblichen Schiller, und andererseits den patriotischen Bürgern des schönen Schweizerlandes, als die schmerzliche Kunde sich wie ein drohendes Gespenst am Horizont erhob und trotz alles Protestes immer mehr an Halt und Zuversicht gewann, daß auch der Held der Freiheit, Wilhelm Tell, daß auch der geheiligte Boden des Schwurs gegen Tyrannei, das vielbesungene Rütli, nicht in die wahre Geschichte gehören!

Wie fest schienen diese Ereignisse zu stehen! Konnte man von ihnen nicht mit Schiller sagen:

 „Ein glaubenswerther Mann,
Johannes Müller, bracht’ es von Schaffhausen!“

Nur schade, daß dieses „glaubenswerthen Mannes“ Nimbus, nach des Dichters frühem Tode, durch seinen Wankelmuth bedeutend gelitten hat! Und wer die herrliche Reise durch die innere Schweiz, über den unvergeßlichen Vierwaldstättersee mit seinen hochragenden Bergen und blauen Fluthen unternahm – that er es nicht ebenso sehr um der erhabenen historischen Erinnerungen, welche sich an dieses wilde Wasserbecken knüpften, als um der überwältigenden Naturschönheiten willen? Waren nicht beide verknüpft durch des Dichters Wort:

„Erzählen wird man von dem Schützen Tell,
So lang’ die Berge steh’n auf ihren Grunde!“

Wer dachte nicht bei Küßnacht, am Fuße der aussichtreichen Rigihöhe, bevor die Eisenbahn diesen Naturtempel zur Touristenbörse entweihte, an den Tod des Tyrannen und declamirte vor sich hin:

„Durch diese hohle Gasse muß er kommen;
Es führt kein andrer Weg nach Küßnacht …“

Am Gestade Unterwaldens, wem schwebte da nicht Baumgarten’s Flucht vor dem Landvogt und seine Verzweiflung vor:

„So muß ich fallen in des Feindes Hand,
Das nahe Rettungsufer im Gesicht!
Dort liegt’s! Ich kann’s erreichen mit den Augen …“

Wem schlug nicht das Herz auf der Höhe des Rütli:

„Den Fels erkenn’ ich und das Kreuzlein drauf;
Wir sind am Ziel, hier ist das Rütli!“

Und wen durchschauerte dort nicht der Gedanke an den feierlichen Eid in mondheller Nacht:

„Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern,
In keiner Noth uns trennen und Gefahr!“

Dieses Rütli mit seinen drei Brunnen hatte noch jüngst die Schweizer Jugend angekauft als heiliges Nationaldenkmal, und im See draußen hatte bald darauf die Felspyramide des Mythensteins die Inschrift erhalten:

 „Dem Sänger Tell’s die Urcantone.“

Kaum hat man die imposante Stelle passirt, so erblickt man die „Tellenplatte“ mit ihrer Capelle und der Erinnerung an kühne Schützenthat:

„Und mit gewalt’gem Fußstoß hinter mich
Schleudr’ ich das Schifflein in den Schlund der Wasser!“

Endlich landet das Boot in Flüelen, und eine kurze Strecke Wegs führt nach Altdorf, wo jeder Stein vom Tell zeugt, wenigstens jeder Brunnen und die unglückliche gypserne Kolossalstatue! Und noch mehr! Die ganze Gotthardstraße hinan, bis wo Italiens Himmel herüberlacht – wem schwebt da nicht die Schilderung vor, wie sie Tell dem verfolgten Herzog Johann machte?

Doch genug der poetischen Reminiscenzen, die Pflicht der Wahrheit drückt uns die Feder zu ernstem, wenn auch peinlichem Werke in die Hand.

Die Hauptursache, aus welcher die bisher herrschenden Ueberlieferungen bezüglich der Entstehung der schweizerischen Eidgenossenschaft so allgemein geglaubt wurden, lag in der frühern Manier der Geschichtschreibung, sich beinahe oder auch ganz allein auf die Berichte der Chroniken zu verlassen, ohne dabei Rücksicht darauf zu nehmen, wie lange nach der erzählten Begebenheit diese Chroniken entstanden waren. Darauf aber, daß auch zur Zeit der betreffenden Begebenheit Chroniken geschrieben worden, welche von derselben jedoch nichts wußten, nahm man keine Rücksicht, und noch weniger auf die gleichzeitigen Urkunden, welche gar zu tief im Staube der Archive vergraben und gar zu alterthümlich und unleserlich geschrieben waren. Die neueste Geschichtsforschung aber hat hierin eine ganz andere Bahn eingeschlagen. Sie steigt, um die Geschichte eines Zeitalters zu erforschen, in dieses selbst hinauf und berücksichtigt allein die gleichzeitigen Quellen, nach denen dann erst der Werth der späteren Berichte abgeschätzt wird. So haben denn, außer den schon Eingangs erwähnten Daten der sogenannten heiligen Geschichte, auch die übrigen Partien der Welthistorie eine ganz neue Gestalt gewonnen. So erkennt man zum Beispiel in der wirklichen, quellenmäßigen Gestalt einer Johanna d’Arc, einer Maria Stuart, eines Don Carlos etc. Diejenigen nicht mehr, welche Tradition und Poesie geschaffen hatten, und selbst die Ereignisse der französischen Revolution bieten sich ganz anders dar, als die französische Geschichtschreibung bisher gelehrt hatte.

Diesem Schicksal konnte denn auch die Geschichte der Entstehung des Schweizerbundes nicht entgehen. Das Verdienst, [803] dieselbe zuerst aufgehellt zu haben, gebührt dem Professor Kopp in Luzern, welcher 1835 in diesem Sinne auftrat. Mitten auf dem Schauplatze der in den Gemüthern eingewurzelten Begebenheiten lebend, war seine Stellung um so eigenthümlicher, als er ein gläubiger Katholik war, der an keinem Jota der kirchengeschichtlichen Ueberlieferung zweifelte und auch nicht daran dachte, daß man es wagen würde, an diese den gleichen Maßstab anzulegen, wie an die profangeschichtliche Erzählung. Aber welche Ironie des Schicksals! Im nämlichen Jahre erschien Strauß’ Leben Jesu!! –

Bis dahin hatte die Urgeschichte des Schweizerbundes nach den Bearbeitungen von Tschudi und Müller gelautet:

In uralten Zeiten zog aus dem hohen Norden (Schweden), vom Hunger getrieben, ein Volk südwärts, um mildere Regionen aufzusuchen. Am Vierwaldstättersee angekommen, fanden die Auswanderer ähnliche Scenerien, wie in der Heimath Schweden, ließen sich da nieder und gründeten drei kleine Staaten: Uri, Schwyz und Unterwalden. Nur dem Reiche unterthan und von ihm mit Freiheiten ausgestattet, wurden sie, als Rudolf’s von Habsburg Sohn, Albrecht, zum Kaiserthrone gelangte, von diesem als österreichisches Gebiet angesehen, und er sandte ihnen Vögte, welche gegen die Bewohner die empörendsten Gewaltthaten verübten. Dieses Joch wurde unerträglich; die Bedrückten schlossen im Jahre 1307 auf dem Rütli einen geheimen Bund; einer der Vögte, Geßler, fiel durch den Pfeil des Schützen Wilhelm Tell, welchen er gezwungen hatte, einen Apfel von des Sohnes Haupt zu schießen; der Andere, Landenberg, wurde um Neujahr 1308 aus dem Lande vertrieben, und dasselbe war von da an frei.

Ganz anders lautet nun die Erzählung nach Berücksichtigung der Urkunden und der gleichzeitigen Geschichtschreibung:

Die Bewohner der Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwalden gehören demselben Stamme an, wie die übrigen deutschen Schweizer, nämlich den Alamannen, welche im fünften Jahrhundert aus Schwaben in Helvetien eingewandert waren; für eine Einwanderung aus Schweden spricht gar nichts. Wahrscheinlich erst seit dem achten oder neunten Jahrhundert waren die Gestade des Vierwaldstättersees bewohnt. Im Jahre 853 schenkte Ludwig der Deutsche das Ländchen Uri dem Frauenkloster zu Zürich, doch nicht den ganzen Canton dieses Namens, in welchem noch mehrere adelige Häuser sowohl, als Klöster Besitzungen hatten. Die hohe Gerichtsbarkeit in Uri übte der Vogt des Züricher Frauenklosters aus. Als diese Stelle durch den Tod des letzten Zähringers, Berthold des Fünften, erledigt wurde (1218), vereinigte sie Kaiser Friedrich der Zweite mit dem Reiche, übertrug aber den Besitz von Uri seinem Anhänger, dem Grafen Rudolf von Habsburg, Großvater des späteren Kaisers dieses Namens. Friedrich’s Sohn aber, Heinrich, welcher sich von seinem Vater unabhängig zu machen suchte, kaufte, um die Gotthardstraße in seine Hand zu bekommen, Uri 1231 von Habsburg los und erklärte das Ländchen als reichsunmittelbar. Dies bestätigte Kaiser Rudolf im Jahre 1274. Schwyz gehörte noch mehreren Herren als Uri; die Gerichtsbarkeit wurde von den Grafen zu Habsburg, als Vorstehern des Zürichgaues, zu welchem Schwyz gehörte, ausgeübt und von ihnen als erblich betrachtet. Die Schwyzer aber benutzten eine zwischen den Habsburgern und Kaiser Friedrich dem Zweiten ausgebrochene Feindschaft, um sich (1240) von Letzterem einen Freiheitsbrief auszuwirken, der demjenigen Heinrich’s für Uri ähnlich war. Durch das Ende des Kaisers kam aber Schwyz von Neuem unter die Herrschaft Habsburgs, daher auch Kaiser Rudolf den dortigen Freiheitsbrief nicht bestätigte. Unterwalden zerfiel von Alters her in die beiden Thäler von Stans und Sarnen, gehörte ebenfalls vielen Herren und Klöstern und stand unter der Gerichtsbarkeit Habsburgs, wie Schwyz, erhielt aber keinen Freiheitsbrief. Als nun Kaiser Rudolf starb (1291), traten sofort die Länder Uri, Schwyz und Unterwalden zu einem Bunde zusammen, dessen Urkunde noch vorhanden ist. Derselbe führte zu einem Kriege mit dem Hause Habsburg, von welchem jedoch keine Einzelheiten bekannt sind, in welchem Schwyz zwar unterlag, aber den Druck der Herrschaft nicht stark spürte, sondern sich ziemlich unabhängig benahm. Es benutzte auch gleich die Verlegenheit, in welcher sich Kaiser Adolf gegenüber seinem Nebenbuhler Albrecht befand, um von diesem eine Bestätigung seines Freiheitsbriefes zu erhalten, und so auch Uri. Als Albrecht über Adolf siegte, bestätigte er zwar natürlich keine Briefe, welche die Rechte seines Hauses aufhoben, aber er bekümmerte sich auch nicht um die Waldstätten, da er sonst genug im Reiche zu thun hatte. Nach seiner Ermordung nun erwirkte Uri, Schwyz und Unterwalden von Kaiser Heinrich dem Siebenten, damals Feind der Habsburger, 1309 einen gemeinsamen Freiheitsbrief. Als sich aber die Habsburger mit dem Kaiser versöhnten, bestellte dieser Schiedsrichter, um ihre und des Reiches Rechte in den Waldstätten zu untersuchen. Er starb jedoch bald, und als sich nun die Waldstätten für Ludwig von Baiern erklärten, fand es des Gegenkaisers Friedrich von Oesterreich Bruder, Herzog Leopold, an der Zeit, die Widerspenstigen zu unterwerfen und zog mit einem Kriegsheer gegen sie, das aber am 15. November 1315 am Morgarten total geschlagen wurde, worauf die drei Länder ihren ewigen Bund zu Brunnen schlossen. Damit war ihre Freiheit auf immer besiegelt, und hier laufen die Erzählungen der Sage und der Geschichte endlich zusammen.

Woher nun diese beiden durchaus verschiedenen Erzählungen? Sehen wir zuerst, wann die sagenhafte Auffassung sich gebildet hat.

Der älteste Chronist, welcher über schweizerische Verhältnisse schrieb, war der Mönch Johannes von Winterthur, welcher von 1340–1347 seine lateinische Chronik verfaßte. Er erzählt sehr ausführlich die Schlacht von Morgarten, aus der er seinen Vater zurückkehren gesehen hatte; auch wußte er, daß der Zweck dieser Schlacht war, die rebellischen Schwyzer zu unterwerfen; von einem Rütlibund aber, von Tell und von Allem, was dazu gehört, weiß er kein Wort. Dasselbe ist auch mit zwei anderen Chronisten des nämlichen Jahrhunderts der Fall: Johannes von Viktring[WS 1] in Kärnten (übrigens ein Gegner Oesterreichs und Freund der Schwyzer) und Mathias von Neuenburg im Breisgau; Beide kennen Morgarten sehr genau, haben aber keine Ahnung von Tell und Rütli. Der Berner Rathsschreiber Justinger, welcher seine deutsche Chronik seit 1420 schrieb, weiß schon mehr, nämlich, daß österreichische Vögte sich in den Waldstätten Gewaltthaten „mit frommer Leute Weibern und Töchtern“ erlaubt hätten; er giebt aber weder eine Zeit an, in welcher dies vorgefallen, noch weiß er irgend etwas von näheren Umständen, die damit verbunden gewesen, noch nennt er Personen, die sich bei diesen Conflicten betheiligt hätten, während er die Schlacht von Morgarten und ihre Nebenumstände sehr gut kennt. Doch das waren keine Waldstätter, sondern „Fremde“. Aber auch ein Urner, Johann Püntiner, und ein Schwyzer, Johann Fründ, welche im Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts schrieben, erzählen nichts von dem Aufstande, welcher hundert Jahre vorher stattgefunden haben sollte, sondern begnügen sich, jene Fabel von der Abstammung der Urner von den Gothen und der Schwyzer von den Schweden aufzutischen, welche damit zum ersten Male an das Tageslicht trat.

In der Mitte desselben Jahrhunderts trat dann ein heftiger Gegner der Schwyzer auf, der Chorherr Felix Hemmerlin aus Zürich, welcher damals mit Oesterreich gegen die übrigen Schweizer verbündet war. In einer Streitschrift gegen Schwyz behauptet er, die Bewohner dieses Landes stammten von Sachsen, welche Karl der Große in die Alpen gesandt hätte, um dort die Straße nach Italien zu bewachen. Diese Sachsen hätten sich zu diesem Geschäfte mit dem plattdeutschen Spruche angeschickt: „Wi wellen hie switten“ (Wir wollen hier schwitzen, d. h. uns anstrengen); daher ihr Name. Hemmerlin beschuldigt damit die Schwyzer, sich gegen Oesterreich empört zu haben, indem sie einen Vogt im Schlosse Lowerz tödteten, unter dem Vorwande, daß er ein Mädchen aus ihrem Lande verführt habe, worauf dann auch die Unterwaldner ihren Vogt Landenberg verjagt hätten. Von Uri, Geßler, Tell und Rütli noch keine Idee! Das erste Buch, welches von diesen handelt, ist die um 1470 im „Weißen Buche“, d. h. einer Urkundensammlung von Sarnen in Unterwalden, eingetragene, aber erst in neuester Zeit bekannt gewordene Chronik. Sie erzählt abermals die Herkunft der Schwyzer aus Schweden. Hier erscheint nun die Tell- und Rütlisage ziemlich so, wie sie später allgemein geglaubt wurde. Die Ochsen Melchthal’s, das Haus Staufachers, der Hut auf der Stange, die Zusammenkunft im Rütli, der Apfelschuß, die That in der hohlen Gasse, Alles tritt hier zum ersten Male auf, hundertdreiundsechszig Jahre, nachdem diese Begebenheiten vorgefallen sein sollen. Tell heißt im „Weißen [804] Buche“ Thall (ohne Vornamen); ein Zeitpunkt der erzählten Vorfälle ist nicht angegeben; es heißt nur: nach dem Tode Rudolf’s, und Albrecht wird als Sender der Vögte nicht genannt, Indessen bestanden schon damals verschiedene Versionen der Geschichte. Derjenigen des „Weißen Buches“, welche die Schwyzer und Unterwaldner in den Vordergrund stellt und Tell als Urner erst nachfolgen läßt, stand eine urnerische Sage gegenüber, welche wir durch den gleichzeitigen Gerichtsschreiber Melchior Ruß von Luzern, Sohn einer Urnerin, kennen; er schrieb seit 1482 eine Luzerner Chronik. In dieser dreht sich Alles um „Wilhelm Thell“, neben welchem weder die Schwyzer, noch die Unterwaldner Verschworenen, noch das Rütli genannt werden. Auch ist es sehr bezeichnend, daß die Geschichte, wie sie in Uri beginnt, auch dort endet; der Vogt, dessen Name nicht genannt wird, erliegt dem Pfeile „Thell’s“ nicht in der hohlen Gasse, sondern gleich nachdem der Schütze aus dem Schiff gesprungen ist, auf der Tellenplatte. Etterlin, der erste Chronist des sechszehnten Jahrhunderts (1507) nennt den Landvogt von Uri Grißler und seinen Gegner „Wilhelm Tell“ und folgt sonst ganz dem „Weißen Buche“, dessen Erzählung er nur ein wenig ausschmückt. Dasselbe thut im Ganzen ein Schauspiel, welches 1511–1513 verfaßt und in Altdorf aufgeführt wurde; der Prolog desselben nennt 1296 als das Jahr der Befreiung der Waldstätten, der Züricher Chronist Johann Stumpff (1548) aber sogar die Zeit nach dem Tode Heinrich’s des Siebenten (1313).

Bisher also hatte noch Niemand daran gedacht, die Sendung von Vögten dem Kaiser Albrecht in die Schuhe zu schieben. Das that zum ersten Male der berühmte Chronist Egidius Tschudi von Glarus (gestorben 1572), ohne daß man weiß, nach was für Quellen. Er war es, der die bisherigen Widersprüche ausglich und der Geschichte von Tell die Gestalt gab, unter welcher sie seitdem bis auf die neueste Zeit geglaubt wurde. Aber auch er weiß noch nicht, daß Tell aus Bürglen, noch nicht, daß er Walter Fürst’s Schwiegersohn, noch nicht, daß er zwei Jungen, Walther und Wilhelm, gehabt, noch nicht, daß der Vogt Geßler Hermann hieß und aus Bruneck war, und das Rütli war auch ihm noch nichts als ein Ort der Zusammenkunft der Unzufriedenen, nicht der Schauplatz eines Bundesschwurs. Alle diese Details erschienen zum ersten Male bei Johannes von Müller am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Und woher hatte er sie? Theils, wie die Familienverhältnisse Tell’s, aus einer frommen Fälschung, welche sich zwei Geistliche in Uri erlaubt, um die Existenz einer Familie Tell zu beweisen, von welcher in Wahrheit kein Kirchenbuch etwas weiß. Den Eidschwur im Rütli aber verdanken wir einzig und allein der reichen Phantasie des Historikers von Schaffhausen.

Schon im siebenzehnten Jahrhundert sind indessen bescheidene, im achtzehnten aber kühnere Zweifel an der Wahrheit der Tellsage aufgetaucht; gestützt auf die Aehnlichkeit derselben mit derjenigen des dänischen Schützen Toko bei dem Chronisten Saxo, erklärte der Berner Pfarrer Freudenberger 1760 Tell für eine Fabel; sein Buch wurde in Uri durch den Henker verbrannt; der Verfasser einer Widerlegung, die sich aber im Wesentlichen nur auf die schon berührten Fälschungen stützt, erhielt dagegen eine Ehrenmedaille. – Jetzt kann man die Wahrheit nicht mehr unterdrücken, und selbst die Urner haben sie neustens anerkennen müssen.

Das Resultat von Alledem ist nun: Die Geschichte von Tell und vom Rütlibunde erscheint in keiner gleichzeitigen Quelle; sie wurde zum ersten Male gegen Ende des fünfzehnten Jahrhunderts erzählt, aber unter argen Widersprüchen. Tschudi, welcher sie am genauesten berichtet, nennt keine Quellen; nach der urkundlichen Geschichte des Ursprungs der Schweizer Freiheit fallen die Sendung der Vögte und der Aufstand gegen sie unter der Regierung Albrecht’s als ganz überflüssig weg, und unter eine andere Regierung passen sie ebensowenig; von einem Bunde im Rütli weiß bis auf Müller Niemand etwas, und für die Existenz einer Familie Tell liegen nirgends auch nur die geringsten Anhaltspunkte vor.

Man fragt nun vielleicht mit regem Interesse: wem denn diese Dichtungen zu verdanken seien, in welche bisher die ältere Schweizergeschichte eingehüllt war? Nun, darüber lassen sich blos Vermuthungen aufstellen. Die Veranlassung dazu boten jedenfalls die glänzenden Siege der Schweizer über Oesterreich, denen man auch eine ruhmvolle Grundlage, poetischer als die trockenen Pergamente der Freiheitsbriefe, geben zu müssen glaubte. So entstanden nach und nach Lieder und Sagen, deren Grundstock die dänische Erzählung vom Apfelschuß und Tyrannenmord des Toko bildete. Den Namen Tell, welcher erst spät den Vornamen Wilhelm erhielt, entlehnte man von der Bezeichnung eines Tollen, Verwegenen (nach gelehrter Hypothese von telum, Geschoß). Das Rütli empfahl sich als Ort der Verschwörung durch seine schöne, günstige Lage. Die Verschworenen mußten angesehene Männer sein: Walther Fürst von Uri und Werner Staufacher von Schwyz (welche Beide wirklich gelebt haben), denen man für Unterwalden einen Arnold von Melchthal hinzudichtete (dessen That schon dadurch wegfällt, daß Unterwalden niemals einen Pflug gesehen).*[2] Nachdem alle diese Dichtungen durch Chroniken und Volksschauspiel im Glauben des Volkes befestigt waren, errichtete man erst die Capellen, welche nach Tell benannt sind, und wallfahrtete zu ihnen. Mit klaren Worten also: es gab überhaupt niemals österreichische Landvögte in den Urcantonen, mithin auch keinen Landvogt Geßler, keinen Hut auf der Stange und keinen Tell’schen Apfelschuß, mithin auch keine Möglichkeit einer Verschwörung, keinen Rütlischwur, keine Ermordung eines Vogtes und Zerstörung der Zwingburgen.

Diese trockene Wahrheit ist zu bedauern, aber nicht zu ändern; die schöne Tellgeschichte muß eben das Schicksal vieler anderer Geschichten theilen und aus dem Gebiete der Geschichte in das der Sage, der Poesie wandern. Damit verliert sie nichts von ihrer subjectiven Wahrheit; sie hat dessen ungeachtet viele Gemüther begeistert. Für die Existenz der Schweiz als Republik aber ist dieses Resultat gleichgültig; dieselbe ist durchaus unabhängig von Tell’s That, die auch nach der Sage nur ein Anstoß unter vielen zur Befreiung der Waldstätten war; das Meiste und eigentlich einzig Wirkungsvolle zur Selbstständigkeit der Schweiz haben die Siege über Oesterreich am Morgarten, bei Sempach und Näfels beigetragen; wären die Schweizer dort unterlegen, so hätten hundert Telle nichts genutzt; der einzige Winkelried überwiegt diese Zahl weit. Die Schweiz kann auch ohne einen Tell durch ihre Geschichte und durch ihr gegenwärtiges schönes Wirken für Cultur auf allen Gebieten und für wahre Volksfreiheit eine hohe und schöne Aufgabe erfüllen.

Dr. Otto Henne-Am Rhyn.
  1. * Erfundene Thatsachen und Persönlichkeiten, welche, durch das Alter derselben geheiligt, als Wahrheiten in der Geschichtschreibung noch heute forterben, in ihrer historischen Nichtigkeit darzustellen, ist der Zweck der mit Obigem beginnenden Artikelreihe.
    D. Red.
  2. * Die Geßler und Landenberg waren adelige Familien des Aar- und Thurgaues, besaßen aber niemals Burgen in den Waldstätten.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Johannes von Viltring