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Gebrüder Grimm (Die Gartenlaube 1886/8)

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Textdaten
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Autor: Georg Winter
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Titel: Gebrüder Grimm
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 139–140
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1886
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Gebrüder Grimm.

Zum hundertjährigen Geburtstage Wilhelm Grimm’s.
Von Dr. Georg Winter.

Man hat unser Jahrhundert das Zeitalter der Elektricität und des Dampfes genannt und damit die regste Entwickelung, welche die technische Anwendung der exakten Naturwissenschaften in unserer Epoche genommen hat, als das eigentlich Charakteristische des modernen Lebens bezeichnen wollen. Und wer wollte leugnen, daß die gewaltigsten Veränderungen unseres ganzen Verkehrs- und Erwerbslebens eben durch jene großen Erfindungen hervorgerufen worden sind? Doch liegt jener Bezeichnung eine ziemlich oberflächliche, das Wesen der Dinge keineswegs erschöpfende Anschauung zu Grunde. Und wahrlich, traurig würde es um ein Volk stehen, dessen Dichten und Trachten ausschließlich auf die Sorge um die Existenz und alles, was damit zusammenhängt, gerichtet wäre: die einzelnen Individuen könnten dabei bestehen, der Staat aber würde sich in seine Atome auflösen. Die Form würde zerschellen weil ihr der Inhalt mangelte. Wohl mag hier und da ein Zaghafter, welchen das kühne Vordringen unserer naturwissenschaftlichen Erkenntniß mit unheimlichem Grauen erfüllt, diese Gefahr als nahe bevorstehend wähnen. Aber ist das wirklich der Fall? Zeigt sich nicht vielmehr gerade in unserer Zeit, parallel mit der Zunahme des Interesses an den realen oder materiellen Elementen des staatlichen Lebens, ein ähnliches Wachsen der allgemeinen Theilnahme an den rein idealen Bestrebungen auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft? Beschränkt sich denn diese Theilnahme wirklich auf diejenigen Gebiete des Wissens, welche in ihren Resultaten für das materielle Leben der Gegenwart unmittelbare Verwendung finden? Nein und tausendmal nein! Unser Zeitalter ist keineswegs ein so materialistisches, wie man es oft gescholten hat. Sehen wir doch unbefangen um uns; wie regt sich’s und webt sich’s doch auf allen Gebieten des menschlichen Wissens, wie wächst die Theilnahme der Nation an philosophischen, historischen und künstlerischen Dingen! Gerade das „materialistische“ 19. Jahrhundert ist es gewesen, in welchem die großen rein idealen Probleme der menschlichen Erkenntniß hinausgelangt sind aus der verstaubten Gelehrtenstube in das frische, fröhliche Leben des Volkes!

In wie hohem Grade das Verständniß für rein ideale Bestrebungen der Wissenschaft gerade in unserer Zeit gewachsen ist, dafür liegt ein Beweis unter vielen auch in dem pietätvollen Andenken, welches unser ganzes Volk jenem edlen Brüderpaar bewahrt hat, das sein Leben dem wahrlich doch rein idealen Streben gewidmet hat, in unserem Volke Sinn und Theilnahme für seine eigene litterarische Vergangenheit zu wecken, [140] ihm die Schätze wieder zu erschließen, welche jahrhundertelanger Schutt bedeckt und dem Blick der Nachlebenden entzogen hatte, den wunderbaren und eigenthümlichen Wandlungen nachzugehen, welche Sprache und Sitte, religiöse und rechtliche Vorstellungen des Volkes im Laufe der Jahrhunderte durchgemacht haben. Das, was jene Beiden, die wir mit Recht zu den Besten und Edelsten der Nation zählen, in jahrzehntelangem eifrigen Forschen der deutschen Wissenschaft und dem deutschen Volke geleistet haben, läßt sich doch wohl nicht in Zahlen ausdrücken, kann doch wohl keine unmittelbare praktische Verwerthung für unser materielles Leben finden. Und doch, wie lebendig lebt ihr Bild in dem Herzen des Volkes, doch blickt dasselbe mit Stolz und Freude auf sie, obwohl sie nicht mehr unter uns weilen, doch fühlt ein jeder von uns, daß sie uns einen köstlichen Schatz hinterlassen haben, nicht freilich von materiellen Gütern, aber von nationalen Erinnerungen, einen Schatz für unser Gemüth, den sie aus dem Schachte des Gemüthslebens unserer Altvordern hervorgeholt haben an das helle Tageslicht unserer schaffensfrohen, aber darum keineswegs gemüthsarmen Zeit. Glaubt man denn wirklich, daß die beiden Brüder einen großen Theil ihrer Popularität nur ihrem praktischen Auftreten auf politischem Gebiete, ihrer Theilnahme an der großen Mannesthat der „Göttinger Sieben“ verdanken? Aber warum sind dann Albrecht und Ewald, die ja auch zu diesen Sieben gehörten, nicht ebenso populär? Nein, es ist nicht anders: der ideale Sinn des Volkes hat ihr ganzes großes wissenschaftliches Schaffen mit begeistertem Verständniß begleitet, und wenn er die Einzelheiten dessen, was sie schufen, nicht immer verstand, so ahnte er die höhere Bedeutung ihres Wirkens. Vor Allem aber war es Ein Werk von ebenfalls rein idealer Bedeutung, das ihnen im Sturme die Herzen des Volkes eroberte: das war die Sammlung der deutschen Haus- und Kindermärchen, die sie recht eigentlich dem Munde des Volkes abgelauscht hatten und in denen sie demselben auf Grund gewissenhafter und sorgfältiger Forschung gleichsam ein Stück seines eigenen Gemüthslebens wiedergaben!

Das eben war es, was ihrem Schaffen seine großartige Bedeutung gab: das geniale Finden, der kühne Blick für das scheinbar Unbedeutende, das doch durch seine Vereinigung zu einem wesentlichen Förderungsmittel für die Erkenntniß der Volksseele wird. Und wie sie hier die im Verschwinden begriffenen, verstreuten Reste der Vergangenheit, die gleichsam noch in unserer Mitte fortlebten, zu neuem Leben zu erwecken verstanden, so haben sie auf der andern Seite durch ihre unermüdliche Forschungsthätigkeit den fast völlig in Vergessenheit gerathenen unerschöpflichen Schatz unserer nationalen Poesie des Mittelalters uns wieder erschlossen und so das Meiste dazu beigetragen, daß dem deutschen Volke, welches bis dahin mit den großen Epen der Griechen und Römer vertraut war, von seinen eigenen Volksepen aber so gut wie nichts wußte, die großen Gestalten der Nibelungenhelden und der Gudrun liebe Bekannte geworden sind.

Nur flüchtig hinweisen können wir auf ihre großartigen Leistungen auf dem Gebiete der deutschen Sprachforschung, die ihnen in erster Linie ihre Entstehung verdankt und sich dann namentlich auf dem Gebiete der historischen Grammatik und der Sprachvergleichung zu ihrer gegenwärtigen Blüthe entwickelte; es hieße eine Geschichte der germanischen Philologie schreiben, wollte man hier den Wirkungen, welche die deutsche Grammatik, das deutsche Wörterbuch, die deutsche Mythologie und Anderes geübt haben, in ihrer Entwickelung nachgehen. Nicht jede einzelne Seite ihres großartigen Schaffens vermag der Laie zu ermessen, und Vieles, was sie geleistet, wird immer nur von den Fachgenossen voll und ganz gewürdigt werden können; aber ihr ganzes Bild, die Gesammtheit dessen, was sie dem deutschen Volke und der deutschen Wissenschaft gewesen sind und noch sind, wird bei ihrem Volke fortleben, so lange es in demselbeu Männer giebt, die berufen und befähigt sind, den Sinn für Großes und Ideales zu erwecken und zu erhalten.

Daß dies gegenwärtig noch in weit höherem Maße der Fall ist, als die Tadler unserer „materialistischen“ Zeit annehmen, das hat die allgemeine Theilnahme gezeigt, mit welcher am 4. Januar vorigen Jahres in ganz Deutschland der hundertjährige Gedenktag der Geburt des älteren der Brüder begangen worden ist. Wie damals nicht bloß unsere Gelehrten durch Herausgabe besonderer Festschriften oder von Akten zur Lebensgeschichte der Brüder die allgemeine Kunde über ihr Leben und Wirken zu bereichern suchten, wie ferner nicht bloß alle den weiteren Kreisen der Gebildeten gewidmeten Zeitschriften Festartikel brachten, sondern auch das Volk selbst namentlich durch zahlreiche Beiträge für das in Hanau zu errichtende Denkmal der Brüder seine Theilnahme kundgab, so ist das auch jetzt der Fall, da wir (am 24. Februar) dieselbe Feier für den jüngeren der Brüder, für Wilhelm Grimm, zu begehen haben. Von gelehrter Seite ist schon vor einigen Wochen dem Volke eine neue, wichtige und interessante Festgabe im Hinblick auf diese Feier dargeboten worden: von dem idyllischen Musensitze im schönen Lahntal, dem altehrwürdigen Marburg, her ist ein Festgruß ausgegangen, der sich wiederum nicht nur an die gelehrte, sondern auch an die gesammte gebildete Welt wendet, indem er uns durch eine Fülle bisher unbekannter, vertraulicher Briefe der Brüder an hessische Freunde einen neuen Blick in das reiche Geistes- und Gemüthsleben derselben eröffnet und uns zugleich manche willkommene Notiz über ihr Leben beibringt.[1]

Aber das Volk wird wieder wie damals hinter den Gelehrten nicht zurückstehen, sondern dem stillen Forscher, welcher zu seinem Lebzeiten im besten Sinne sein Liebling war, auch über das Grab hinaus gerade an diesem Tage eine stille Feier pietätvoller Erinnerung weihen. Unwillkürlich wird wiederum diese Erinnerung nicht dem Gefeierten allein, sondern beiden Brüdern geineinsam gelten, deren Leben und Schaffen zu einer wunderbaren Einheit verschmolzen war und in dieser Vereinigung auch im Andenken der Epigonen fortlebt.

Diese Gemeinschaft selbst ist etwas so Eigenartiges und ideales, daß sie in der Geschichte der wissenschaftlichen Bewegung geradezu einzig dasteht. Wie sie im Leben unzertrennlich von einander waren, so haben sie sich in ihren Studien stets in so ähnlichen Bahnen bewegt, daß bei vielen ihrer Werke geradezu nicht mehr festgestellt werden kann, was von dem Einen, was von dem Andern herstammt. Diese Gemeinsamkeit des Strebens und Schaffens aber hat allen ihren Werken einen eigenthümlichen Zauber verliehen und ihren Werth erhöht, weil dieselben dadurch zugleich ein Spiegelbild ihrer dem innersten Wesen nach verwandten, aber doch wieder im Einzelnen abweichenden Geistesanlagen geworden sind.

Man hat sich daran gewohnt, den älteren der Brüder für den geistig bedeutenderen zu halten: uns will es scheinen, als wenn man dem jüngeren unrecht thut, ihn mit dem älteren zu vergleichen. Wohl war der letztere produktiver und großartiger in seinem Schaffen, dem gegenüber aber kommen dem anderen wieder andere Vorzüge zu, welche dem älteren nicht in demselben Maße eigen waren, so vor Allem jenes liebevolle Versenken in das Einzelne, jene Durchgeistigung des Isolirten mit allgemeinen Ideen und das feine Verständniß für eine in edelstem Sinne populäre Form. Am klarsten treten die Vorzüge beider wiederum in der Sammlung der Märchen hervor. Während Jakob hier vor Allem seine ganze Kunst des Findens und Sammelns entwickelte, war es dann Wilhelm, welcher namentlich bei der erneuten Durcharbeitung in den späteren Auflagen den einzelnen Märchen jenen eigenthümlich poetischen und echt volksthümlichen Hauch verlieh, der sie zu dem gemacht hat, was sie sind: zu einem echten und rechten Volksbuch. Während Jakob dann ferner mehr befähigt war, seine Forschungen in einem großen und umfassenden System zusammenzufassen und gleichsam zu organisiren, wie denn die Begründung der historischen Grammatik fast ausschließlich auf ihn zurückgeht, war es auf der andern Seite wieder Wilhelm, dem es gelang, durch die sorgfältige Liebe, mit der er sich der Herausgabe mittelalterlicher Poesien widmete, diese wieder in das litterarische Leben der Gegenwart einzuführen.

Verzichten wir also darauf zu entscheiden, welcher von ihnen der Bedeutendere war, und freuen wir uns, sie beide zu den unserigen zählen zu dürfen; gerade in ihrer Vereinigung stellen sie den echten Typus der beiden geistigen Fähigkeiten dar, denen die deutsche Wissenschaft den Glanz ihrer Entwickelung verdankte: das kühne und großartige Finden und die liebevolle Versenkung ins Einzelne.

  1. Es ist die Festschrift von Prof. E. Stengel: „Private und amtliche Beziehungen der Brüder Grimm zu Hessen“. Marburg, Elwert’sche Buchhandlung 1886.