Gefahren beim Bergsteigen
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Gefahren beim Bergsteigen.
Sommer um Sommer wandern Tausende in die Alpen, um an deren Größe das Herz zu stärken und zu erfreuen. Aber nur wenig Auserlesenen ist es vergönnt, die wilde Hoheit der Bergnatur bis in ihre verborgensten Geheimnisse zu verfolgen. Denn dazu gehört zwar nicht viel Geld, aber stählerne Kraft in den Gliedern, ein schwindelfreier Kopf, zähe Ausdauer und vor allem jene feurige Liebe zum Naturschönen, die alle Mühsal und alle Entbehrung gewohnter Bequemlichkeit, die Hunger und Durst, Frost und Nässe als geringfügige Uebel erscheinen läßt gegenüber den großen und erhebenden Freuden, die der Lohn des Bergwanderers sind.
Soweit die Pflanzenwelt hinaufreicht, ist von ernsten Gefahren keine Rede – für den, der die Berge kennt. Wer sie aber nicht kennt, dem drohen Gefahren schon in solchen Höhen, wo er noch das Rauschen der Flüsse aus den Thälern und den Schlag der nächsten Dorfuhr vernimmt. Er braucht nur muthwillig vom gebahnten Wege abzuweichen, den tiefen Stand der Sonne oder aufsteigende Dunstballen zu mißachten; dann kann es ihm leicht geschehen, daß er nach stundenlangem Umherirren in Nacht und Nebel plötzlich an einer Felswand hängt, die unter ihm steil und thurmhoch in die Tiefe schießt, und es bleibt ihm nichts übrig, als zu warten, bis es Tag wird oder bis ihm nach stundenlangem Rufen ortskundige Leute zu Hilfe kommen. So fordern nicht die entlegenen Hochgebirgswüsten, nicht die in ewigem Eise prangenden Gipfel die meisten Opfer, sondern die Voralpen, die Umgebungen stark besuchter Alpendörfer, jene Wegstrecken, wo es sich von selbst versteht, daß der Fremde ohne Führer geht und dem Reize folgt, der darin liegt, sich selber den Pfad zu suchen. Die Veranlassung, vom rechten Wege abzuweichen, liegt ja oft in der Beschaffenheit der Alpensteige, von welchen jene, die zu aufgegebenen Weideplätzen, Holzschlägen oder Köhlerhütten führen, in Verfall gerathen und leicht zu Irrwegen werden können. Oft spielt auch eine seltene Blume die Rolle des Verführers oder ein erwarteter Aussichtspunkt oder die Lust, die Rückwanderung nach dem Alpendorf abzukürzen. Alljährig liest man von Unfällen, die sich bei solchen Gelegenheiten zutragen; denn der jähe Bergtod kann hinter jedem Fels, an jedem auch nur haushohen Absturz, in den Wirbeln jedes Wildbachs lauern.
In seiner ganzen wilden Größe schaut er unverhüllt den Wanderer im Hochgebirge an. Verschiedener Art aber sind die Fährlichkeiten, welche das nackte Felsengeripp der Berge bietet, von jenen, die im Schnee und im Eise drohen.
Dem Wanderer, der einmal über die Grenze des Planzenwuchses hinaufgestiegen ist, bieten steile Felswände, schräg abschießende Platten, Risse und kaminähnliche Spalten in den Felsen, kammartige Schneiden, riesige Trümmerfelder Veranlassung zu Kletterkünsten aller Art. Bei solchen Kletterpfaden ist es zunächst das eigene Nervensystem, das den Wanderer gefährdet, der Schwindel, der den Ungeübten leicht befällt. Er ist ein Feind, der nur durch die Uebung bezwungen wird, durch den allmählichen Uebergang vom Leichten zum Schwereren. Wen er anfällt, dem beginnt die Landschaft vor den Augen zu schwanken, den überkommt mit jähem Schreckgefühl das Bewußtsein, daß er seines Trittes, seines Griffes nicht mehr mächtig sei; aus der Tiefe des Abgrunds, der unter seinen Füßen liegt, kriecht eine unheimliche ungeheure Angst zu ihm herauf und umfängt ihm die Sinne, bis er taumelt, strauchelt und stürzt.
Eine andere Gefahr, auch für den Schwindelfreien, liegt in der Unsicherheit des eigenen Tritts. Für den geübten Bergwanderer ist jeder Tritt sicher, wenn sich eine Handgroße Fläche bietet, worauf er stehen kann; ja es giebt Jäger und Führer, die auf einem fingerbreiten Felsvorsprung festen Fuß fassen können. Der Neuling braucht freilich mehr. Ist aber das Stückchen Boden, auf welches man den Fuß setzen will, nicht eben und nicht rauh genug, sondern etwa schräg geneigt, abgerundet oder glatt, dann könnte selbst der Geübteste abgleiten. Hier ist es nun Sache des erfahrenen Blicks, zu entscheiden, wo ein Halt gewonnen werden kann, wo nicht. Mitunter, wenn mehrere solche Tritte sich folgen, muß jene Entscheidung während des flüchtigen Sprunges geschehen.
Schwieriger wird diese Frage, wenn der Fels brüchig, wenn er mit Schnee oder Eis überkleidet, von einem Bergwasser überrieselt ist. Es giebt ja Felsarten, auf deren Haltbarkeit der Wanderer vertrauen kann. So Granit und Gneis und die meisten Kalkfelsarten. Aber verwitterte Schiefer zerbröckeln unter Hand und Fuß. Da muß bei jedem Tritte und Griffe erst geprüft werden, ob der Boden oder die Wand, auf die man sich verläßt, tragfähig ist.
Die Launen der Natur haben manche seltsame Bildungen der Erdrinde geschaffen, die sich dem Alpenfreunde in den Weg stellen. Man wandert auf einem Berggrat fort, der einen erträglich sicheren und breiten Pfad bildet, wenn man sich nur erst gewöhnt hat, von den rechts und links klaffenden Abgründen sich nicht schrecken zu lassen. Plötzlich ist der Grat tief und breit eingerissen; da gilt es, sich am Seile hinunterzulassen auf einige aus der Tiefe emporragende Felszacken und dann jenseits emporzuklettern, bis die Grathöhe wieder erreicht ist. Oder wir gehen längs einer steilen Wand auf schmalem Felsenbande hin. Plötzlich endet das Band an einer jähen Rinne, durch welche wir aufwärts kriechen müssen, um ein neues Felsband aufzufinden, das an der Wand weiterführt. Oder wir wandern fürder auf einem breiten Plattenwege, breit wie eine Straße unserer Hauptstädte. Auf einmal finden wir, daß die früher kaum geneigten Steinflächen eine immer schrägere Stellung nach dem Abgrunde zu aufweisen und dabei immer glatter werden. Nun beginnen wieder die Kletterkünste; bald ist unser Halt eine schmale Ritze, gerade tief genug, um ein paar Finger hinenzupressen, bald ein Moospäckchen, das an Felsen hängt und dessen Haltbarkeit wir vorsichtig prüfen. So arbeiten wir uns hangend, liegend, kriechend fort, bis der Boden wieder eine liebenswürdigere Gestalt annimmt. Ein andermal winkt uns ein schräg abfallendes Feld von riesenhaften Trümmern, die oft in schwankende Bewegung gerathen, wenn wir sie betreten. Da gilt’s mit keckem Schwunge von einem Block auf den andern zu springen und dann sofort, auch auf der schmalsten Aufsprungstelle, sicher zu stehen. Denn ein Fehlsprung kostet hier zwar nicht gleich den Hals, kann aber doch die Ursache eines Beinbruchs oder ähnlicher Verletzungen werden.
Ganz anders gestalten sich die Dinge auf Schnee und Eis. Die Schrecknisse der Felsenwelt schauen dem Wanderer offen und trotzig ins Gesicht; die des Eises und des Schnees sind versteckter, tückischer. Die bekannteste Gefahr der Gletscherwelt sind die Spalten, welche die meisten Gletscher und Firnfelder bis in grauenhafte Tiefen hinunter zerschründen. Wo die Gletscher gegen die Thalsohle zu heruntersteigen, gähnen jene Klüfte dem Reisenden offen entgegen, in prächtiger blaugrüner oder weißlichgrüner Färbung.
[497] [498] Da werden sie leicht umgangen oder übersprungen. Höher droben aber, wo auch im Hochsommer oft Neuschnee liegt, bedeckt dieser die Risse mit trügerischen Brücken. Hier schützt nur das Gletscherseil, das die Reisenden untereinander verbindet, sodaß, wenn auch der eine oder andere die dünne Schneekruste durchbricht, er doch nicht in die Tiefe stürzen kann, sondern von den Gefährten mit kraftvollem Ruck wieder emporgezogen wird. Für den einzelnen freilich, der es wagen wollte, ein zerklüftetes und überschneites Firnfeld zu überschreiten, wäre das fast der sichere Tod. Die breitesten jener Schründe sind die Randklüfte, die sich dort finden, wo das Eis- oder Firnfeld an Felswände anstößt. Sie sind häufig viel zu breit, um übersprungen werden zu können, und müssen dann durch verwegene Kletterkünste überwunden werden; natürlich mit Hilfe des Gletscherseils und mittels Stufen, welche die Eisaxt in die krystallenen Wände schlägt. Da das Eis der Gletscher in beständiger, wenn auch langsamer Bewegung ist, verändern sich allmählich auch die Spalten; und selbst die wegkundigsten Führer müssen in jedem Sommer den Pfad aufs neue suchen, den sie in früheren Jahren schon hundertmal gegangen sind.
Wo steile Schneefelder dachförmig aufsteigen oder über jähen Felshängen abbrechen, entstehen durch die Gewalt der Stürme überhängende Schneemassen, sogenannte „Wächten“. Sie bilden scheinbar breite bequeme Wegstrecken, doch unter ihnen lauert der Tod; denn leicht brechen sie unter dem Gewicht eines Menschen ein und stürzen sammt dem Unvorsichtigen in den gähnenden Abgrund. In tieferen Lagen dagegen sind Schneefelder häufig von Bergwassern unterwaschen und unterhöhlt; es entstehen Schneebrücken und Schneeschilde, die oft genug den Wanderer tragen, manchmal aber doch unter seinem Fuße einbrechen und ihn zwischen Eis und Fels ein düsteres Ende finden lassen, ein Ende in Frost und Finsterniß, wo niemand seinen letzten Hilferuf vernimmt.
Auch der sicherste Tritt schützt nicht, wo der Boden unter dem Wanderer weicht. Es trifft sich manchmal, daß auf geneigten Eisfeldern oder Felsplatten lockerer Schnee liegt, der ins Abschießen geräth, wenn man ihn betritt, und dann den Reisenden mit sich in die Tiefe nimmt.
Ist dies eine Gefahr, der man in vielen Fällen, wenn auch nicht immer, ausweichen kann, so ist eine andere, die von oben kommt, drohender und unheimlicher. Denn auch ein stählernes Sprunggelenk, auch ein schwindelfreies Haupt schirmen nicht gegen Schnee- und Eislawinen und gegen die gefürchteten „Steinschläge“. Schneelawinen gehen von steilen Schneehängen um die Mittagszeit, oder wenn der warme Föhn weht, ungemein häufig ab. Die entsetzliche Wucht, mit welcher sie alles fortreißen, was sie ergreifen, macht den Menschen gegen sie völlig machtlos; die Schnelligkeit ihres Sturzes läßt eine Flucht vor ihnen kaum als möglich erscheinen. So bleibt denn nichts übrig, als die Lawinenwege in größter Schnelligkeit und thunlichst in solchen Tageszeiten und bei solcher Witterung zu kreuzen, wo am wenigsten von dieser vernichtenden Naturerscheinung zu fürchten ist. Nicht harmloser, nur seltener sind die Eislawinen, welche niedergehen, wenn übereinandergethürmte Eismassen, durch die Tageswärme in ihrem Zusammenhange gelockert, einstürzen und mit zerschmetternder Gewalt in die Tiefe sausen.
Etwas Aehnliches sind die Steinschläge. Auch der härteste Fels verwittert und sendet von Zeit zu Zeit Trümmer in die Tiefe; von Absturz zu Absturz fallend, erhalten sie zuletzt die rasende Geschwindigkeit von Kanonenkugeln. Der flüchtige Fuß einer Gemse kann ein Geröllstück loslösen, abschmelzendes Eis kann es aus seiner Lage bringen. So giebt es besondere verrufene Stellen, die um der Steinschläge willen möglichst gemieden werden; aber auch an jedem andern Platze, wo hohe Felswände den Weg überragen, kann jählings solch ein tödliches Geschoß mit unheimlichem Pfeifen und Krachen niedergehen.
Wir haben in vorstehendem nur die häufigsten Gefahren des Hochgebirges aufgezählt, das sind indessen noch nicht alle. Oft müssen tobende Gletscherbäche auf schwankenden Baumstämmen überschritten oder mit keckem Schwung übersprungen werden; steile Schutthalden und Sandriffe gerathen unter dem Fuß in rollende Bewegung. Und hoch droben in den schweigenden Wildnissen des ewigen Eises hausen Schneestürme, von deren todbringender Gewalt sich derjenige keine Vorstellung macht, der niemals jene Wüsten betrat.[1]
Aber das Menschengeschlecht hat in allen Jahrhunderten der fortschreitenden Civilisation jene Kühnheit nicht verloren, die es in grauer Vorzeit durch den beständigen Kampf gegen eine übermächtige Natur sich erwarb. Und mit dieser Kühnheit wagen sich Unzählige immer wieder hinauf in Fels und Eis, um sich der unvergänglichen Schönheit des Hochgebirges zu erfreuen.
Auch die Bergwanderer, die unser Bild vorführt, gehören zu diesen Kühnen. Sie sind im Absteigen über eine ziemlich bedenkliche Stelle begriffen. Eine steile Kletterpartie durch eine Felsrinne haben sie schon hinter sich, um nun ein scharf geneigtes Schneefeld zu überschreiten, während ein paar in der Höhe losgelöste Felstrümmer zwischen ihnen niederkrachen, glücklicherweise ohne einen von der waghalsigen Gesellschaft zu treffen. Es ist einer jener Augenblicke prickelnder Aufregung und packenden Ernstes, die solche Wanderungen zu unvergeßlichen Erinnerungen gestalten. Unsere Reisenden werden mit dem Schrecken davonkommen und heil ins Thal hinabgelangen, weil sie so weise waren, sich mit guten Führern zu versehen, mit Führern, denen man es ansieht, daß sie allen Schrecknissen und Mühen gewachsen sind. Und das ist das einzig Richtige bei solchen Wanderungen. Kühnheit allein vermag wohl den Gefahren ins Gesicht zu schauen; aber um sie auch zu überwinden, muß man sie kennen, wie die Alpenführer sie kennen. Es ist sinnlos, sich der Gefahr muthwillig aufs Gerathewohl entgegenzuwerfen, wo doch keine Nothwendigkeit dazu zwingt, wo vielmehr in den Führern sich die zuverlässigsten Lehrmeister bieten, um sie vorsichtig zu vermeiden oder sicher zu bestehen. Diese rauhen und einfachen Söhne des Hochlands haben einen prächtigen Zug in sich. Wenn sie auch zunächst der Erwerbstrieb dazu bringt, Führer zu werden, so wird in ihnen doch von dem Augenblicke an, wo die Noth beginnt, jeder andere Gedanke zurückgedrängt durch das brave und treue Gefühl, daß sie ihren Reisenden Hüter und Helfer sein wollen.
- ↑ Der Schweizer Alpenklub hat 1886 ein recht brauchbares Schriftchen über „die Gefahren des Bergsteigens“ (Verlag von Schultheß in Zürich), verfaßt von H. Baumgartner, herausgegeben, welches an dieser Stelle erwähnt werden mag.