Gesammelte Schriften über Musik und Musiker/Concertouverturen für Orchester (1)

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (3) Gesammelte Schriften über Musik und Musiker (1854) von Robert Schumann
Concertouverturen für Orchester (1)
Neue Symphonieen für Orchester


[123]
Concertouverturen für Orchester.


Der Zufall hat oben drei Namen aneinandergereiht, deren Träger als Repräsentanten wenigstens der jüngern Künstlergeneration dreier verschiedener Nationen betrachtet werden können; der holländischen, englischen und französischen. Der Name des letztern ist bekannt, der zweite fängt an sich Geltung zu machen, wie auch der erste schon an Fremdartigkeit verloren durch öftere Erwähnung, namentlich schon in unserer Zeitschrift. Man mag sie sich sämmtlich merken; sie werden, wie wir glauben, in der Geschichte der Musik jener Länder mit der Zeit Bedeutung erlangen.

Die Ouverturen, von denen hier berichtet werden soll, habe ich leider nicht vom Orchester gehört. Dafür entschädigt und befähigt mich vielleicht zum Urtheil eine ziemliche Vertrautheit mit den meisten der anderen Werke, wie mit den Persönlichkeiten der Componisten selbst, wenigstens mit den zwei erstgenannten. Berlioz [124] verspricht von Jahr zu Jahr nach Deutschland zu kommen, uns mit seiner Musik bekannter zu machen; einstweilen hat er uns eine neue Ouverture geschickt, die von seiner merkwürdigen Richtung neues Zeugniß gibt.

Holland, bisher nur durch seine Maler berühmt, hat sich in neuerer Zeit auch durch regen Sinn für Musik ausgezeichnet. Großen Einfluß darauf mag die Gesellschaft zur Beförderung der Tonkunst gehabt haben, die sich durch das ganze Land in hundert Zweigen verbreitet, und neben deutscher Musik auch einheimische zu fördern sich zum Ziel gesetzt. Der Componist, von dem wir sprechen, ist ein Schützling jener Gesellschaft; irr’ ich nicht, so erhielt er bei mehren Wettkämpfen den Preis in der Composition. Er lebt im Augenblick unter uns, hat sich im letzten Winter durch Leitung der Concerte der Euterpegesellschaft auch als Dirigent guten Namen erworben. Jenem Niederländischen Vereine verdanken wir auch die Herausgabe einiger von Verhulst’s Compositionen; ein Kirchenstück und eine Ouverture sind bereits in der Zeitschrift angezeigt und hervorgehoben worden als Arbeiten eines entschieden glücklichen Talentes. Eine neue Ouverture liegt uns eben vor;[1] sie ist zur Eröffnung des bekannten holländischen Trauerspiels „Gysbrecht von Amstel“ geschrieben, [125] zu dem Verhulst auch Entreacts gesetzt. Die Ouverture, in Leipzig zum öftern gehört, hat viel gefallen und muß es; sie ist eine Ouverture für Alle, für das Publicum, den Musiker, den Kritiker, und hält sich auf jener Stufe allgemein gültiger Bildung, die sich bei der Masse Achtung, bei dem Künstler Theilnahme zu erwecken versteht. Von den Klippen, wie sie sich oft andern jüngern Künstlern entgegenstellen, von Versuchungen und Verführungen hat ein freundlicher Geist den Componisten bisher entfernt gehalten; er kennt seinen Weg und wagt nichts, wo ihm der Erfolg nicht gewiß wäre. Kenntniß des Maßes seiner Kraft, diese Kraft schon auf erfreulicher Höhe, dabei Lebhaftigkeit und Heiterkeit, zeichnen diesen ganz ungewöhnlichen Holländer als Menschen aus, wenn man sich ihn nach seinen musikalischen Leistungen construiren wollte. Als Musiker insbesondere wohnt ihm jener Instrumentationsinstinct inne, der gar nicht mehr unter zweien zu wählen hat, sondern gleich das Richtige trifft; am liebsten gefällt er sich in Massen, die er wohl zu ordnen und zu bewegen versteht, obwohl er auch auf das Detail ein aufmerksames Auge hat; neue, ungewöhnliche Wirkungen erzielt er nicht; gute Muster vor den Augen, arbeitet er auf schon allgemeinere, überall anerkannte und immer wohlthuende hin. Die Ouverture ist indeß schon einige Jahre alt und kann nicht als letztes Resultat seines Strebens betrachtet werden. Talente seiner Art rücken zwar nicht schnell vorwärts, aber mit desto sicherern [126] Schritten; Fleiß, Beobachtung, Umgang mit Meistern, öffentliche Aufmunterung förderten ebenfalls, und so ist gar kein Zweifel, daß der junge Stamm von Jahr zu Jahr immer reifere und reichere Frucht absetzt; mit den Wurzeln schon nach deutscher Erde herübertreibend, wird sich nach und nach auch der Blüthenüberhang nach dem Lande hinwenden, das so vielen großen Tondichtern Nahrung und Kraft gegeben, und ähnlich, wie wir in der Dichtkunst Ausländer wie Oehlenschläger, Chamisso u. A. wie die Unsrigen betrachten, dürfen wir auch ihn als Ehrenmitglied deutscher Kunstbrüderschaft begrüßen, deren Zahl sich immer mehren möge.

Auch Bennett gehört hierher, nur daß er sich gleich vornherein mehr absondert als Engländer, und, wie wir etwa Händeln von England als einen der Unsrigen reclamiren, die Engländer später Bennett als einen ihnen allein Angehörigen zurückfordern dürften, — womit übrigens keineswegs ein Vergleich zwischen Händel und Bennett ausgesprochen sein soll. Die jüngste Ouverture von Bennett hat den Namen „die Waldnymphe,“[2] das einzig Nicht-glückliche, scheint mir, was sie an sich hat. Ich weiß, man kann den Componisten durch nichts mehr kränken, als durch Ausstellungen an dem Namen seines Kindes, da er nach seiner Meinung ja am besten wissen muß, was er gewollt, und man könnte sich, daß er [127] gerade auf „Waldnymphe“ fiel, auch durch seine ältere Ouverture „die Najaden“ erklären, der er ein Seitenstück geben wollte; schlagend aber und dem Werke günstig ist die Ueberschrift keinenfalls. Dichterisch ist es wohl, eine Grundstimmung durch ein dieser verwandtes Einzelnwesen zu bezeichnen, wie uns aus Mendelssohn’s „Melusine“ die Jahrtausend alte Romantik des Lebens unter dem Wasserspiegel auftauchen möchte; im einzelnen Fall aber paßt es nicht, und ich würde die allgemeine Bezeichnung „Ouverture pastorale“ oder etwas Aehnliches vorgezogen haben. Diese Nebensachen bei Seite, die indeß, wie gesagt, der Wirkung zu Ungunsten gereicht, hebt sich die Ouverture in ihrem wunderzarten, schlanken Gliederbau hoch genug über andere ihrer Schwestern, athmet reinstes, hellstes Dichterleben. Der Clavierauszug gibt meist nur ein halbes Urtheil; indeß, hörte ich von Verständigen, bei dieser Ouverture nicht. Bennett ist Clavierspieler vorzugsweise, und, wie geschickt und wählerisch er auch mit den Instrumenten umzugehen versteht, sein Lieblingsinstrument sieht doch aus seinen Orchestercompositionen heraus, und endlich etwas Schönes wirkt auch in verkleinerter Gestalt, ein schöner Gedanke auch aus Kindesmund.

Die Ouverture ist reizend; in der That wüßt’ ich, Spohr und Mendelssohn ausgenommen, keinen noch lebenden Componisten, der, was Lieblichkeit und Zartheit des Colorits anlangt, den Pinsel so in der Gewalt hätte, wie Bennett. Auch daß er gerade jenen beiden [128] Künstlern Manches abgelauscht, will sich hier über der Meisterlichkeit des Ganzen vergessen, und es scheint mir, er habe vorher noch niemals sich so selbst gegeben, als in diesem Werke. Man prüfe Tact nach Tact, welch zartes, festes Gespinnst vom Anfang bis zum Schluß! Anstatt daß aus den Erzeugnissen Anderer handbreite Lücken hervorklaffen, wie schließt sich hier alles eng und innig aneinander! Doch hat man der Ouverture einen Vorwurf gemacht, den der großen Breite; er trifft mehr oder weniger alle Bennett’schen Compositionen; es ist seine Art so, er vollendet bis in’s kleinste Detail. Auch wiederholt er oft dasselbe, und zwar Note nach Note nach dem Abschluß des Mittelsatzes. Indeß versuche man zu ändern, ohne zu beschädigen: es wird nicht gehen; er ist kein Schüler, dem mit Vorschlägen zu nützen; was er gedacht, steht fest und nicht zu verrücken.

Es liegt außer Bennett’s naiv innigem Dichtercharakter und der ihm entsprechenden Richtung, große Hebel und Kräfte in Bewegung zu setzen; Prunk und Pracht sind ihm fremd; wo er mit seiner Phantasie am liebsten weilt, etwa am einsamen Seegestade, oder im heimlich grünen Wald, da greift man nicht nach Posaunen und Pauken, sein einsam Glück zu schildern. Nehme man ihn also wie er ist, nicht, was er gar nicht sein möchte, als Schöpfer einer neuen Epoche, oder als einen unzubändigenden Helden, sondern als einen innigen, wahrhaften Dichter, der unbekümmert um ein Paar geschwenkte Hüte mehr oder weniger seinen stillen Weg [129] hingeht, an dessen Ausgang ihn wenn auch kein Triumphwagen erwartet, so doch von dankender Hand ein Veilchenkranz, den ihm Eusebius hiermit aufgesetzt haben will.

Andere Kränze sucht Berlioz, dieser wüthende Bacchant, der Schrecken der Philister, ihnen ein zottiges Ungeheuer geltend mit gefräßigen Augen. Aber wo erblicken wir ihn heute? Am knisternden Kamin, in einem schottischen Herrenhause, unter Jägern, Hunden und lachenden Landfräuleins. Eine Ouverture zu — „Waverley“[3] liegt vor mir, zu jenem W. Scottischsten Roman, in seiner reizenden Langweiligkeit, seiner romantischen Frische, seiner echt englischen Präge mir noch immer der liebste aller neueren Romane des Auslandes. Dazu nun schrieb Berlioz eine Musik. Man wird fragen, zu welchem Capitel, welcher Scene, weshalb, zu welchem Zweck? Denn Kritiker wollen immer gern wissen, was ihnen die Componisten selbst nicht sagen können, und Kritiker verstehen oft kaum den zehnten Theil von dem was sie besprechen. Himmel, wann endlich wird die Zeit kommen, wo man uns nicht mehr fragt, was wir gewollt mit unsern göttlichen Compositionen; sucht die Quinten und laßt uns in Ruhe. Einigen Aufschluß indeß gibt diesmal das Motto auf dem Titelblatt der Ouverture:

[130]

Dreams of love and Lady’s Charmes
Give place to honour and to arms.

Dies führt schon näher auf die Spur; wünscht’ ich doch im Augenblick nichts, als ein Orchester stimmte die Ouverture an und die gesammte Leserschaft säße herum, alles mit eigenen Augen zu prüfen. Ein Leichtes wär’ es mir, die Ouverture zu schildern, sei’s auf poetische Weise durch Abdruck der Bilder, die sie in mir mannichfaltig angeregt, sei’s durch Zergliederung des Mechanismus im Werke. Beide Arten, Musik zu verdeutlichen, haben etwas, die erste wenigstens den Mangel an Trockenheit für sich, in die die zweite wohl oder übel fällt. Mit einem Worte, Berlioz’sche Musik muß gehört werden; selbst der Anblick der Partitur reicht nicht hin, wie man sich auch vergebens mühen würde, sie sich auf dem Clavier zu versinnlichen. Oft sind es geradezu nur Schall- und Klangwirkungen, eigen hingeworfene Accordklumpen, die den Ausschlag geben, oft sonderbare Umhüllungen, die sich auch das geübte Ohr nach bloßem Anblick der Noten auf dem Papier nicht deutlich vorzustellen vermag. Geht man den einzelnen Gedanken auf den Grund, so scheinen sie, für sich betrachtet, oft gewöhnlich, sogar trivial. Das Ganze aber übt einen unwiderstehlichen Reiz auf mich aus, trotz des vielen Beleidigenden, und einem deutschen Ohr Ungewohnten. Berlioz hat sich in jedem seiner Werke anders gezeigt, sich in jedem auf anderes Gebiet gewagt; man weiß nicht, ob man ihn ein Genie, oder einen musikalischen [131] Abenteurer nennen soll: wie ein Wetterstrahl leuchtet er, aber auch einen Schwefelgestank hinterläßt er; stellt große Sätze und Wahrheiten hin und fällt bald darauf in schülerhaftes Gelalle. Einem, der noch nicht über die ersten Anfänge musikalischer Bildung und Empfindung hinaus ist (und die Mehrzahl ist nicht darüber hinaus), muß er geradezu als ein Narr erscheinen, so namentlich den Musikern von Profession, die sich neun Zehntel ihres Lebens im Gewöhnlichsten bewegen,[4] doppelt ihnen, da er Dinge zumuthet, wie Niemand vor ihm. Darum das Sträuben gegen seine Compositionen, darum vergehen Jahre, ehe sich eine bis zur Klarheit einer vollkommenen Aufführung durchschlägt. Die Ouverture zu Waverley wird sich indeß leichter Bahn machen. Waverley und die Figur des Helden sind bekannt, das Motto im Besondern spricht von „den Träumen der Liebe, denen der Ruhm der Waffen Platz gemacht.“[H 1] Was kann deutlicher sein? Es ist zu wünschen, daß die Ouverture in Deutschland gedruckt und zu Gehör gebracht wird; schaden könnte seine Musik nur einem schwachen Talent, das durch bessere auch nicht vorwärts gebracht wird. Noch erwähn’ ich, daß, merkwürdig genug, die Ouverture einige entfernte Aehnlichkeit mit der zu Mendelssohn’s „Meeresstille“ hat: wie auch eine Bemerkung von Berlioz auf [132] dem Titelblatt der mit Werk 1 bezeichneten Ouverture nicht zu übersehen ist, daß er nämlich sein früher[H 2] gedrucktes Werk 1 (acht Scenen aus Faust) vernichtet habe und die Waverley-Ouverture als erstes Werk angesehen wünsche. Wer aber steht uns dafür, daß ihn das zweite Werk 1 später einmal auch nicht mehr anmuthet? Also eile man das Werk kennen zu lernen, das trotz aller Jugendschwächen doch an Größe und Eigenthümlichkeit der Erfindung das hervorragendste, was uns das Frankenland an Instrumentalmusik neuerdings gebracht. [H 3]




  1. Ouverture en Ut Mineur à grand Orchestre etc., publiée par la Société de Pays-Bas: pour l’encouragement de l’art musical.
  2. Ouverture für großes Orchester zu 4 Händen eingerichtet von W. St. B. Werk 20.
  3. Gr. Ouverture de Waverley etc. Op. 1. Partition.
  4. Oft hab’ ich es erfahren müssen, daß unter den Musikern vom Handwerk die meiste Bornirtheit anzutreffen; andererseits fehlt ihnen eine gewisse Tüchtigkeit nicht leicht.

Anmerkungen (H)

  1. [GJ] Genauer übersetzt: „die dem Ruhm der Waffen Platz gemacht“. II.179 Commons
  2. [GJ] 1829 Commons
  3. [GJ] Schumann erwähnt diese Recension in einem Briefe (9. Juni [1839]) an Clara Wieck: „Wie sehne ich mich, Dich wieder zu hören! Und doch, glaub’ ich, sind wir in unserm Urtheil oft weit von einander. Daß wir uns darüber später ja keine bitteren Stunden machen! Wieder vorgestern fiel es mir ein, als ich über die Ouverturen von Berlioz und Bennett in der Zeitung schrieb, wo ich gewiß wußte, daß Du nicht mit mir einverstanden warst, und doch nicht anders konnte. Nun, wir wollen uns schon gegenseitig von einander belehren lassen.“ Das hier nur Angedeutete wird durch eine andere Briefstelle (24. Jan. 1839) deutlicher: „Ich denke mir manchmal, was Du als Mädchen selbst bist, achtest Du an der Musik vielleicht zu wenig, nämlich das Trauliche, einfach Liebenswürdige, Ungekünstelte. Du willst am liebsten gleich Sturm und Blitz und immer nur Alles neu und nie dagewesen. Es gibt auch alte und ewige Zustände und Stimmungen, die uns beherrschen.“ Anmerkung 36, II.516 Commons
Phantasieen, Capricen etc. für Pianoforte (3) Nach oben Neue Symphonieen für Orchester
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.