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Geschichten von „lieben Nachbarn“

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Geschichten von „lieben Nachbarn“
Untertitel:
aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 6, S. 236–239
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Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1913
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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Quelle: Commons
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[236] Geschichten von „lieben Nachbarn“. – Nichts macht erfinderischer als Rachsucht. Und wie schnell sprießt diese unedle Pflanze selbst in den Herzen sonst harmloser und oft recht gebildeter Leute auf, wenn sie durch das ihre Ruhe beeinträchtigende Verhalten ihrer Mitmenschen täglich aufs neue geärgert und gestört werden.

Der amerikanische Millionär Shevens besaß in einem Vorort Washingtons eine große, elegante Villa. Das Haus für die Dienerschaft befand sich mehr im Hintergrunde der Besitzung. Shevens hatte nun, um das Personal nach dem Hauptgebäude rufen zu können, auf dem Hofe eine sehr laut schrillende elektrische Glocke aufstellen lassen. Der Nachbar Shevens’ war ein anderer Millionär, Thomas Clark, der schlimmste seiner Geschäftskonkurrenten. Clark hielt das ewige Klingeln, das weithin zu hören war, nicht lange aus. Gütliche Vorstellungen, die Glocke abzuschaffen, nützten nichts. So wurden die beiden Männer bald die erbittertsten Feinde. Es kam zum Prozeß, den Clark gewann. Shevens sollte die geräuschvolle Klingel durch einen Haustelegraphen ersetzen. Er tat es nicht, sondern zog aus und schenkte sein Grundstück einer Kirchengemeinde, für die er die Villa zu einer Kapelle mit zierlichem Glockenturm ausbauen ließ. Für den Turm spendete er in seiner „Großmut“ ein wunderbares Glockenspiel, das nach den Bedingungen der Schenkungsurkunde täglich drei Stunden spielen mußte. Clark kam auf diese Weise aus dem Regen in die Traufe. Gegen die Kirchenglocken konnte selbst das Gericht nicht einschreiten, und so blieb Clark nichts übrig, als seinen ihm liebgewordenen Besitz gleichfalls zu veräußern.

In ähnlicher Art wurde in London vor nicht langer Zeit [237] ein Streit zwischen zwei reichen, infolge allerhand Zänkereien bis aufs Blut verfeindeten benachbarten Villenbesitzern ausgefochten. Nachdem der eine alles mögliche umsonst versucht hatte, um dem anderen sein Besitztum zu verleiden, schenkte er das seinige der Stadt zu dem Zweck, dort ein Asyl für Obdachlose einzurichten. Dies geschah, und das Asyl der ganzen Gegend gab sich von nun an dort ein Stelldichein, wodurch dem lieben Nachbar natürlich sehr bald der fernere Aufenthalt in seinem eleganten Heim unmöglich gemacht wurde. Auch gegenüber dieser „Menschenfreundlichkeit“ war das Gericht machtlos.

Viel von sich reden machte seinerzeit der Fall Crocker. Dieser, ein bekannter Milliardär in San Franzisko, hatte zu seinem ursprünglichen Villengrundstück allmählich die benachbarten Besitzungen zur Erweiterung seines Parkes angekauft. Nur ein Sonderling, dessen kleines Häuschen nebst bescheidenem Gärtchen schon längst von dem Crockerschen Park vollständig eingeschlossen war und nur einen schmalen Zugangsweg nach der nächsten Straße besaß, weigerte sich hartnäckig, seinen Besitz an den Milliardär zu verkaufen. Eines Tages erschien nun ein Heer von Arbeitern und begann auf der Grenze zwischen den beiden Grundstücken eine Mauer aufzuführen, die von Tag zu Tag mit beängstigender Schnelligkeit wuchs, bis sie die stattliche Höhe von fünfzehn Meter erreicht hatte. Sie war so breit, daß man oben auf ihrem Mauerkranz bequem spazieren gehen konnte. Der arme Sonderling, der den Milliarden Crockers zu trotzen gewagt hatte, lebte fortan auf seinem Grundstück wie in einer riesigen Falle. Er sah um sich nichts als die roten Backsteine und über sich nur noch ein Stückchen Himmel. Der Milliardär sorgte jedoch noch weiter für die Gemütsruhe seines lieben Nachbars. Er öffnete täglich für ein paar Stunden seinen Park dem Publikum, und die Leute kamen natürlich in hellen Scharen und ergingen sich besonders gern auf der längst berühmt gewordenen Mauer, von der aus sie so bequem das Heim des inzwischen vor Ingrimm halb krank gewordenen Mannes bewundern konnten.

[238] In diesem Falle hatte jedoch eine höhere Macht ein Einsehen. Bei dem letzten großen Erdbeben, das halb San Franzisko in einen Trümmerhaufen verwandelte, stürzte auch die Riesenmauer ein und begrub unter sich jenes Häuschen, dessen Besitzer zum Glück rechtzeitig geflohen war. Crocker zeigte sich jetzt von einer besseren Seite als bisher. Vielleicht war ihm durch das Eingreifen der Naturgewalten die ganze Erbärmlichkeit seines Benehmens zum Bewußtsein gekommen. Die Mauer wurde abgetragen, und ebenso ließ er auf seine Kosten das Heim des Sonderlings in derselben Gestalt wieder aufbauen und schenkte ihm noch ein Stück seines Parkes als Gartenland dazu.

Zum Schluß noch eine recht tragisch endende Geschichte. In einem Pariser Vorort bewohnte der Graf v. Sorby, ein Junggeselle und begeisterter Bonapartist, eine kleine Villa. Eines Tages wurde das Nachbargrundstück verkauft. Der neue Eigentümer richtete in dem Hause ein Konservatorium für Musik ein, in dem in der warmen Jahreszeit zumeist bei offenen Fenstern Instrumente aller Art bearbeitet wurden. Sorbys Ruhe war dahin. Da ihm der Weg vor den Richter nicht standesgemäß erschien, kaufte er nicht weniger als sechs große Orchestrions an, die er vor den nach der Musikschule hin mündenden Fenstern seines Hauses aufstellte und deren Kurbeln er durch eigens dazu gemietete Leute vom Morgen bis zum Abend drehen ließ. Der dadurch verübte Lärm war so furchtbar, daß Sorby nicht nur von dem Konservatoriumsbesitzer, sondern auch von mehreren anderen Nachbarn verklagt wurde. Trotzdem stellte er den ruhestörenden Lärm nicht ein. Als er dann verschiedentlich zu hohen Geldstrafen verurteilt wurde, da er seine Orchestrions entgegen richterlichem Befehl weiter in Tätigkeit setzte, beantragte seine Familie, da er sein Vermögen auf diese Weise schnell vergeudete, seine Entmündigung, die vom Gericht auch ausgesprochen wurde. In der Nacht darauf versuchte der Graf das Konservatorium in Brand zu stecken, wurde aber dabei überrascht und sofort in eine Privatirrenanstalt gebracht, wo er drei Jahre später starb. Er hatte infolge des erbitterten Kampfes [239] mit der verhaßten Nachbarschaft tatsächlich den Verstand verloren.

W. K.