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Gewissen (Dehmel)

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Textdaten
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Autor: Richard Dehmel
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Titel: Gewissen
Untertitel:
aus: Aber die Liebe
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Dr. E. Albert & Co. Separat-Conto
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Erscheinungsort: München
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans dieser Ausgabe auf Commons
S. 141-145
Kurzbeschreibung:
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[141] Gewissen.


     Wir gingen die Wurzeltreppe des Hügels hinab, zehn zwölf Mann; oben lag die Försterei im dicken Schnee. Die Teckel hielten sich, vor Frost humpelnd, sorgsam hinter uns im festgetretenen Wege. Die klare Kälte machte Alle stumm; der Schnee verschluckte das Geräusch der Schritte. In dem rauhen Reif der Birkenreiser fingerte die Morgensonne; die starren Nadelbärte der Kiefernschonung sträubten sich aus ihren weißen Pelzen. Es sollte ein Dachs gegraben werden. Ich weiß nicht, mir kam der liebe Gott in Sinn.

     Die Hunde gaben plötzlich Laut; Rädergeklapper kam. Um die Ecke aus dem Schleifweg bog die alte Semmelfrau vom Dorfe drüben, auf ihrem Köterkarren hockend; ein schußscheuer Jagdhund zog ihn, der einem Nachbarförster aus der Art geschlagen war. Unsre Teckel keifend auf ihn los. Der Hochbeinige weiß nicht, was er dazu sagen soll; den Schwanz eingeklemmt, setzt er sich in Trab. Die Kleinen blaffen lustiger; er begreift, und alle Schwänze in die Höh’ stiebt die wilde Jagd, schneeumspritzt, bellend und belfernd den Weg hinunter, die falsche Richtung für die gute alte Frau, die scheltend und jammernd auf dem stuckernden Wagen mit beiden Armen ihre Semmelkiepe umklammert hält. Wir, lachend, hinterdrein mit langen Sätzen; am Bahndamm unten holen wir sie endlich ein. Die Teckel drücken sich beschämt zu ihren Herren, wir lohnen die Alte ab. Und ich denke wieder an den lieben Gott.

     [142] Schwitzend schreiten wir weiter. Der Schnee fängt an zu blenden und den Augen weh zu thun; die Bahnschienen flimmern. Von der andern Seite her taucht funkelnd ein Flintenlauf über den Damm, eine wohlbekannte Mütze aus Otterfell. „Der Nachbarförster“, sagt Jemand scheu; Einer wird blaß wie der Schnee. Jetzt steht der Alte oben, straff, im grünen Galastaat, die nackte rote Faust auf der Krone des Hirschfängers. Sein grauer Kinnbart perlt von Eis; die große Hakennase wirft einen Schatten über die Backenfurchen bis zum Ohr, suchend brennen seine dunkelblauen Augen. „Komm her!“ ruft er heiser. Der Blaßgewordene gehorcht; sie stehen mitten auf dem Damm, im stechenden Licht. „Zieh den Handschuh ab!“ höre ich mit Grauen, fühlend wie der Alte sich beherrscht. „Wo hast du den Ring?“ fragt er drohend; keine Antwort. Der Alte zittert; seine Finger spannen sich um den Hirschfängergriff, ein Ruck – die Schneide blitzt. Bis zur Hälfte; auflachend, qualvoll, stößt er sie zurück. Mit unsäglicher Verachtung speit er in den Schnee, zum Gehn gewendet. „Vater!“ schreie ich und stürze in die Kniee. Er geht.

     Ein Krampf schüttelt mich. Meine starren Augäpfel sehen mich zucken; in weiter Ferne. Sausend peitschen schwere Kiefernzacken mit spitzen Büscheln gegen meine Stirne. Sie verwandeln sich, Stechpalmenzweige rauschen hin und her durch mein Gehirn; ich sehe, wie die roten Beeren lange Curven durch die graue Masse reißen. Aber eine weiche Hand legt ihm immer wieder, schmeichelnd, ihre Finger durch die Haare; die gepreßten Zähne lösen sich; er liegt zu ihren Füßen, den Kopf in ihren Schooß gedrückt. Sie läßt sich in den Lehnstuhl gleiten; das ferne Rot des Frühlingsabends vergoldet ihre braunen Flechten. Auf meinem Schreibtisch neben ihr steht ein zartes venezianisches Kelchglas, purpurzart, ein Lilienkelch, golddurchrieselt, und ein meergrün schillerndes [143] Schlänglein ringelt sich darum empor. Drin starrt ein Stechpalmenblatt, und eine blendende Narzisse. Die hat sie mir eben gebracht; die keusche Blüte berauscht mich.

     „Gieb mir den Ring!“ schmeichelt sie. „Ich kann nicht“, fleht er mühsam; und ich höre, wie er ihr mit dunkler Stimme die Geschichte des Ringes erzählt. Den hat der Urgroßvater seines Vaters, der Husarenwachtmeister, nach der Schlacht von Torgau für seine Tapferkeit und lange Treue aus des alten Ziethens eigner Hand empfangen, und vielleicht sogar vom großen Friedrich selbst. Er betrachtet das gepreßte Eisenbild des Königs in dem dünnen goldnen Reifen; „und immer der Aelteste erbt ihn“. Ich höre seine Worte wie im Traum; es ist, als ob ich sie in einem Buche lese. „Gieb mir den Ring!“ schmeichelt sie. Er kämpft mit sich. „Hast du Gewissensbisse?“ flüstert sie; „Du —?“

     Will sie mich verspotten? meine Zähne drohen an den Knöcheln ihrer Hand. Sie nimmt sie lächelnd vom Knie und hält mir die Narzisse an die Lippen. Ich schlürfe den Geruch und erinnere mich; „Du hast ihn ja schon“, blicke ich auf ihre Finger. „Den andern“, schmeichelt sie; „den Ring der Andern!“ Ihre grauen Augen werden immer dunkler.

      Ich fühle ein heftiges Zittern. Meine Blicke beugen sich auf den Rubin an meiner Rechten; er perlt wie Blut aus einer frischen Wunde. „Gewissen ist der Spuk des toten Gottes“, raunt sie meine Sprache nach, mir den Ring abstreifend, und erhebt sich. Ich will es ihr erklären; sie entschwebt. Ich will ihr nach; meine Kniee winden sich, gebannt, am Boden. Ich suche das Wort, dann bin ich frei.

     Ich stammle Verse – lange, flehende Zeilen; sie verliert sich immer ferner in der Nacht. Ich sehe sie verglimmen; nur der blutende Rubin glüht noch durch das Mondlicht. Nein, die Wunde; der tote Freund mit seiner Geige kommt.

     [144] Er spielt zu meinen Versen – ferne, flehende Töne – und von dem Mädchen, das ihm untreu war. Die runde Wunde seiner Stirne thut sich auf; Ton um Ton perlt Tropfen um Tropfen aus der kleinen tiefen Oeffnung dunkel nieder in den Schnee, die blasse Schläfe nieder. Immer näher schwebt die rote Spur; die geschlossnen Augenlider zucken, bleicher als sein Sterbehemd, und ich suche das Wort, das Wort – in unsrer Kindheit wußten wir’s.

     Er schlägt die Augen auf, der Geigenbogen stockt, ein Schrecken würgt mich: das sind nicht seine Augen! das ist „die Andre“. Meine Finger krümmen sich, an sein Gewand zu tasten; meine Blicke werden blind; meine Zunge will sich regen – Rettung, das Wort! Ich sehe meinen starren Körper, lange Ketten Verse pressen die gezerrten Glieder, ich lese und lese, mir graut.

Schwere Ringe ... und die Meinung
leere Schlinge ... werbe, werbe!
Dumpfe Kammer ... und das Erbe
– bringe Jammer – wird Erscheinung.

Die Thür springt auf, Glockenschläge stürzen in mein Ohr, Licht wie Nadelstiche scheint in meine Augen: auf der Schwelle steht meine Mutter: mit unsäglicher Betrübnis sieht sie zu mir her. Meine Arme winden sich nach ihr; vergebens. „Sünde an der Mutter deiner Kinder?!“ lese ich von ihren Lippen – „Mutter!“ röchelnd ringt es sich von meinen Lippen, laut, das Wort – ich bin wach.

     Durch die dunkle Stube lag ein schmaler Streifen grelles Mondlicht quer bis auf mein Bett gespannt; ich bebte ...

Wenn dich aus dem ersten Schlaf
um Mitternacht
dein rasend klopfendes Herz
aus deinen Träumen jagt,
furchtsam horcht dein Atem,
[145] und sich durch dein ödes Zimmer
weiße Schatten vor dir flüchten;
kennst du dieses Grauen?
Wenn sich aus der hohlen Nacht
fern mit klagenden Augen
ein geliebtes Gesicht
aus den blassen Kreisen ringt
und sprechen will;
kennst du dieses Grauen?
Mit langen Händen
will es nach dir greifen
und dich erwürgen
für eine Schuld ...