Gifte; Vergiftung durch thierische Gifte und giftige Thiere
Gift ist für den Menschen jeder Stoff (mit Ausnahme von Kugeln, Schwertern u. s. w.), der schon in geringer Menge schädlich und hemmend auf das Leben des menschlichen Organismus einwirkt und so lebensgefährliche Veränderungen in demselben hervorbringt. Solcher Stoffe, von gasförmiger, flüssiger oder fester Beschaffenheit, gibt es aber eine Menge, ebensowohl im Thier- und Pflanzenreiche, wie im Mineralreiche. Sie können durch den Verdauungs- und Athmungsapparat, sowie auch durch die Haut und durch Wunden in das Innere des Körpers gelangen und hier entweder zunächst örtliche Zerstörungen veranlassen oder sofort vom Blute aus eine allgemeine Störung verursachen. Die Beibringung eines giftigen Stoffes nennen die Juristen eine Vergiftung, während die Mediciner die durch eine solche Einverleibung hervorgebrachten krankhaften Störungen mit diesem Namen bezeichnen.
Zu den örtlich wirkenden Giften gehören vorzugsweise die sogenannten chemisch wirkenden, welche die Gewebe zerstören und zerätzen, die Form und den Zusammenhang der Theile verletzen, heftig reizen und schnell Entzündung und Brand erzeugen. Solche ätzende und reizende Gifte, die übrigens nachträglich auch noch eine allgemeine Störung im Organismus hervorrufen können, finden sich in allen drei Reichen der Natur vor. Im Mineralreiche sind es hauptsächlich Metallsalze, ätzende Alkalien und starke Säuren; im Pflanzenreiche die scharfstoffigen Substanzen und starken Pflanzensäuren; im Thierreiche die spanischen Fliegen (Canthariden).
Wenn giftige Stoffe dagegen eine allgemeine Störung auf den gesammten Körper ausüben, so wird diese Wirkung ohne Zweifel durch das Blut und die Nerven vermittelt, bisweilen aber erst dann, wenn vorher örtliche Vergiftungserscheinungen auftraten; nicht selten jedoch auch ohne solche. In der Regel bleiben uns diese Veränderungen, welche derartige Gifte im Blute und Nervensystem veranlassen, ganz unbekannt und in vielen Fällen ist das Gift weder im Blute noch überhaupt im vergifteten Körper wieder zu finden. – Auch von diesen allgemein wirkenden Giften finden sich in den drei Naturreichen eine Menge vor. Vorzüglich sind es die thierischen Gifte, welche hierher gehören, zumal wenn diese durch Wunden direct in den Blutstrom gebracht werden.
Sämmtliche thierische Gifte sind bis jetzt ihrer chemischen Natur nach unbekannt; denn sie sind nicht darstellbar und nicht von den Stoffen, an welchen sie haften, zu trennen. Eben darum weiß man aber auch von ihrer Natur wenig mehr, als eben ihre giftigen Wirkungen. Man kennt weder die Bedingungen ihrer Entstehung, noch die physikalischen und chemischen Eigenthümlichkeiten, die ihnen etwa zukommen. Das Gift ist als solches weder durch Formen, noch durch Reactionen erkennbar, sondern einzig und allein durch seine Wirkungen auf den Organismus. Interessant ist, daß manche dieser Gifte, in das Blut gebracht, tödtlich wirken, während sie ohne Nachtheil in den Verdauungsapparat aufgenommen werden können, wie z. B. das Schlangen- und Hundswuthgift.
Ja in dem homöopathischen Arzneischatze figurirt sogar das von Homöopathen aus Südamerika den Herren Collegen in Europa gesendete Schlangengift (Lachesis) aus den Giftzähnen des Trigonocephalos Lachesis, als wichtiges Heilmittel und zwar: bei Beschwerden, besonders linkseitigen, die in jedem Frühjahre wiederkehren; bei bösen Folgen von langem Gram und unglücklicher Liebe; bei Gefühl von etwas Lebendigem im Bauche: bei religiöser Geisteszerrüttung. mit dem Wahn nach göttlicher Vorherbestimmung ewig verdammt zu werden; bei Rose, Gelbsucht und Blausucht; bei Krätze und Scharlach; bei Epilepsie und [687] übelriechenden Unterschenkelgeschwüren, die mit kleineren Geschwürchen rings herum beseht sind; bei Wechsel- und Nervenfieber; bei Mißmuth, Lebensüberdruß und Wortkargheit; bei Leber- und Lungenentzündung; bei syphilitischen Kopfschmerzen, bei trockenem und bei zu wenig Ohrenschmalz, bei Gehörleiden nach Ohrfluß, bei Grindern am Ohr mit Brummen und Zwitschern vor den Ohren; bei argem Schnupfen, wo Wasser in Menge ausfließt, Nase und Lippen sehr wund und geschwollen sind; bei Lähmung und Wundheit der Zunge, bei metallischem Geschmacke und Halsentzündung; bei Wurmbeschwerden und zu leisem Schlafe. Kurz was wäre die Homöopathie ohne Schlangengift? Warum mag aber die Homöopathie dieses Schlangengift nicht beim Schlangenbiß empfehlen? Sie (oder wenigstens die homöopathische Apotheke in Leipzig) besitzt doch eine Menge Arzneimittel (sogenannte isopathische Medikamente), welche von einer bestimmten Krankheit Eines genommen diese bestimmte Krankheit auch bei Andern zu heilen im Stande sein soll. So: Wasserscheustoff (Hydrophobin) gegen Wasserscheu; Cholerastuhlstoff gegen Cholera; Fußschweißstoff gegen und für Fußschweiß; verschiedene Wurmstoffe (Ascardin, Lumbricin, Taenia) gegen die verschiedenen Würmer; Gonorrhin, Metrorrhagin, Nephrolithin etc. Ist das zum Lachen oder Weinen?
Da es unsere Absicht ist, dem Leser jetzt für solche Fälle guten Rath zu ertheilen, wo er von einem giftigen Thiere verletzt wird, so muß zuvörderst besprochen werden, auf welche Weise bei solchen Verletzungen das Gift in den Blutstrom, von wo aus seine feindlichen Wirkungen auf den Körper geschehen, gelangen kann. – Der schnellste Weg ist der durch die Blutgefäße selbst, der längere dagegen durch die Saugadern (Lymphgefäße). Beim ersteren kann das Gift unmittelbar in ein Blutgefäß und so in den Blutstrom eintreten (eingeimpft werden), sobald nämlich das Gefäß, wie dies bei Bissen und Stichen der Fall ist, verletzt und dadurch offen ist. Mittelbar dagegen tritt das Gift in das Gefäß und Blut ein, indem es von außen durch die unverletzten Gefäßwände der Haarröhrchen, die ja so ziemlich alle Theile des menschlichen Körpers durchziehen und besonders zahlreich in der äußern Haut sind, hindurch in den Blutstrom dringt (aufgesogen wird) und in diesem durch die Blutadern zum Herzen fortgeführt wird. Hierbei muß aber das Gift, wenn es aufgesogen werden soll, auch unmittelbar die Gefäßwand berühren können und deshalb z. B. bei der Haut die hornige Oberhaut (wie bei wunden Stellen, Nissen, Schrunden) fehlen. – Auf beide Arten kann das Wuthgift toller Hunde in den menschlichen Körper gelangen: unmittelbar durch den Biß und mittelbar durch mit Wuthspeichel benetzte Kleidungsstücke, Geschirre, durch Belecken des kranken Thieres von Hautwunden und Schrunden. – Der unmittelbare Eintritt des Giftes wird sehr oft dadurch verhindert, daß das in Folge der Verletzung ausfließende Blut das Gift mit herausschwemmt. Deshalb ist auch das Pockeneinimpfen gewöhnlich fruchtlos, wenn die Impfwunde stärker blutet und durch das Blut die Pockenlymphe weggespült wird. Deshalb tritt selten nach starkblutenden Bissen toller Hunde die Hundswuth ein, wohl aber nach geringen Verletzungen durch dieselben. – Bei der Aufnahme des Giftes durch die Saugadern, welche in den meisten Fällen wohl nur erst dann vor sich zu gehen scheint, wenn die feinsten Blutgefäßchen das Gift nicht aufnehmen, kommt dasselbe langsamer und auf einem Umwege in den Blutstrom, und zwar deshalb, weil es noch viele Lymphgefäße und Drüsen zu passiren hat, ehe es kurz vor dem Herzen mit der Lymphe in das Blut einströmt. Es ist nicht unmöglich, daß auf diesem Wege das Gift allmählich zersetzt wird und nicht bis in den Blutstrom gelangt. – Bei vielen von wirklich tollen Hunden Gebissenen bricht die Hundswuth, selbst wenn keine vorbauende Behandlung stattfindet, doch nicht aus.
Mag nun das Gift auf die eine oder die andere Art in den Blutstrom eintreten können, immer ist es unsere Aufgabe, diesen Eintritt zu verhindern oder, ist derselbe schon erfolgt, das Fortfließen des Giftes in den Blut- oder Lymphröhren aufzuhalten, und so den Uebergang des Giftes in den gesammten Blutstrom zu verzögern. – Zur Verhinderung des Eintrittes des Giftes wäre es freilich am besten, wenn man das Gift in der Wunde sofort zerstörte, was durch Aetzkali, Scheidewasser, Schwefelsäure, Salmiakgeist oder brennende Hitze (Glüheisen oder Ausbrennen mit Schießpulver) geschieht. Da man aber derartige Zerstörungsmittel selten gleich bei der Hand hat, so bleibt es immer das Beste und Schnellste, so bald als nur möglich nach der Verletzung und Einverleibung des Giftes, dieses durch länger fortgesetztes Aussaugen der Wunde mit dem Munde oder mittelst Schröpfköpfe, zu entfernen zu suchen. Dieses Aussaugen mit dem Munde ist ganz ungefährlich (zumal wenn das Ausgesogene mit der Mundflüssigkeit sofort ausgespuckt und der Mund zwischendurch öfters ausgespült wird); es kann auch noch durch Auswaschen der Wunde (mit Salzwasser, Essig, Seifenwasser und sogar mit Urin, wenn keine andere Flüssigkeit gleich vorhanden ist), sowie durch Ausschneiden der Wunde unterstützt werden. Das etwaige Bluten der Wunde muß man so lange als nur möglich durch Einschnitte, Schröpfköpfe, warme Ueberschläge zu unterhalten suchen. – Um den Uebergang des Giftes in den Blutstrom zu verzögern, müssen die Adern des verletzten Gliedes durch festes Zusammendrücken oder Zusammenschnüren desselben geschlossen werden und zwar so nahe als möglich an der Verletzung an einer Stelle, die dem Herzen näher liegt, als die Wunde. – Nach dem Aussaugen und dem Auswaschen der Wunde, sowie nach dem Zusammenschnüren des Gliedes, muß die Wunde tüchtig ausgeätzt oder ausgebrannt, sodann aber längere Zeit in Eiterung erhalten werden (durch Einstreuen von spanischem Fliegenpulver).
Außer den eben angeführten, im Momente nach der Verletzung vorzunehmenden Hülfsleistungen sind alle von dem Thiere besudelten Kleidungsstücke sogleich zu entfernen. Man darf ferner nicht versäumen nach den ersten Hülfen, die man an den sichtbar verletzten Stellen angewendet hat, den ganzen Körper auf weitere Verletzungen genau zu untersuchen. Man thut wohl, zu dem Ende die Haare abzuscheeren und jedes auch noch so kleine und zweifelhafte Wundsein (jede Hautwunde) wie eine große Wunde und sichere Bißstelle zu behandeln. Auch ist es zweckmäßig, den ganzen Körper zu waschen oder in ein warmes Laugenbad zu setzen.
Sobald ein Mensch von einem wuthverdächtigen Thiere gebissen wurde, so ist dieses nicht zu tödten, sondern lebendig einzufangen und in sicherem Gewahrsam weiter zu beobachten, damit in dem Falle des Nichtausbruchs der Krankheit bei dem Thiere der Gebissene nicht unnöthiger Weise einer langdauernden und angreifenden Cur unterworfen und geängstigt werde. Denn Gemüthsberuhigung des Gebissenen ist unendlich wichtiger und heilbringender als alles Arzneigeben.