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Goethes „schöne Mailänderin“

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Textdaten
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Autor: Johannes Proelß
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Titel: Goethes „schöne Mailänderin“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 7, S. 101, 107–108
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1897
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[101]

Goethes „schöne Mailänderin“.
Nach dem neuentdeckten Gemälde von Angelika Kauffmann.

[107]
Goethes „Schöne Mailänderin“.
(Mit dem Bildnis auf Seite 101.)

Durch den Eifer und das Finderglück eines für Goethe begeisterten Italieners ist soeben die Galerie der Mädchen und Frauen, die auf Goethes Herz und Dichtung Einfluß gewannen, um ein interessantes reizvolles Bildnis vermehrt worden. Und zwar zeigt uns das von Angelika Kauffmann stammende Gemälde die Züge eines Weibes, dessen Leben, ja dessen Name bis in unsere Tage in völliges Dunkel gehüllt blieb, während es doch von allen Italienerinnen, die den für Italien so eingenommenen Dichter entzückten, die einzige war, die eine tiefe, ernste Neigung in ihm geweckt hat. Ohne ihren Namen zu nennen, hat Goethe später seine Beziehungen zu dem schönen Mädchen in dem Buche „Italien“ aus der Erinnerung dargestellt, und wie er sie dabei kurz als die „schöne Mailänderin“ bezeichnete, so ist sie als die „schöne Mailänderin“ unsterblich geworden. Da gelangten vor einigen Jahren zwei Goetheforscher, der Italiener Carletta und der Deutsche Adolf Stern, fast gleichzeitig zu der Feststellung, daß die von Goethe gefeierte – Maddalena Riggi geheißen habe. Und diese erste Entdeckung führte Carletta in Rom zu der zweiten, welche die Leser der „Gartenlaube“ heute in die Lage versetzt, die „schöne Mailänderin“, wenn auch etwas älter als der Dichter sie sah, im Bilde kennenzulernen. Darüber, wie er zu dem Funde gelangte, hat er im Januarheft der „Vita Italiana“ das Nähere mitgeteilt.

Goethe hatte bereits ein Jahr lang in allen Gegenden Italiens seine heiße Sehnsucht nach der Heimat seiner Kunstideale befriedigt, als er im Oktober 1787 während eines Landaufenthalts in der Umgebung von Rom die Bekanntschaft von Signorina Riggi machte. Eine arbeitsreiche Zeit lag hinter ihm. Neben dem unermüdlichen Studium der herrlichen Kunstschätze Italiens war die klassische Neugestaltung seiner „Iphigenie“, seines „Egmont“ einhergegangen, hatte er im Wetteifer mit den in Rom ansässigen deutschen Malern, vor allem mit der ihm tiefsympathischen Malerin Angelika Kaufmann, die als Gattin des Malers Zucchi seit langem in Rom lebte, die Ausbildung seines Talents zur Malerei sich angelegen sein lassen. Dabei quälten ihn Zweifel, ob die Malerei nicht sein eigentlicher Beruf sei. Als er eines schönen Herbsttags der Einladung des ihm befreundeten englischen Kunsthändlers Jenkins folgte, dessen Villeggiatur in Castel Gandolfo zu teilen, weitete eine fröhliche Ferienstimmung sein Herz. Wie er berichtet, hatte er sich [108] „zeither bis zur trockenen Unhöflichkeit von den Frauen ferngehalten“, jetzt fand er sich bereit, in ungezwungenem Behagen an der harmlos heiteren Geselligkeit teilzunehmen, die sich in dem geräumigen Palazzo des Gastfreundes ihm darbot. Die Gegend, welche Castel Gandolfo beherrscht, ist eine der großartigsten und zugleich lieblichsten von ganz Italien. Das Städtchen liegt auf einer Anhöhe zwischen Albano und dem Albaner See, zu Füßen des dichtbewaldeten Monte Cavo, so daß der Blick ungehemmt über das weite Trümmergefild der Campagna schweifen kann. Der Dichter hatte sein Malgerät mit herausgebracht, bald aber fand er die Geselligkeit in dem Jenkins’schen Freundeskreise, zu dem auch Angelika zählte, so anziehend, daß er die vergeblichen Versuche bald aufgab, die hier waltende Schönheit der Natur sich als Maler zu eigen zu machen. Er that es als Dichter, und der ihm die Binde von den Augen nahm und ihn aufklärte über seinen Beruf, das war Amor, der heitere Gott, der von Anbeginn Goethes Lehrmeister in der Dichtkunst gewesen!

So hat er selbst die epochemachende Wandlung in dem prächtigen Gedicht dargestellt, das damals entstanden ist. „Amor als Landschaftsmaler.“ Er schildert darin sich selbst, auf einem Felsen sitzend und müßig in den Nebel starrend, der seinen Blicken die Landschaft verbirgt. Da tritt Amor zu ihm und schilt ihn ob seines Müßiggangs. Er müsse ihm zu Hilfe kommen und ihn ein hübsches Bildchen malen lehren. Dabei streckt er den rosenroten Zeigefinger in die Luft und beginnt zu malen – eine entzückende Landschaft mit blauen Bergen in der Ferne, mit grünen Hainen und blumigen Wiesen, und mitten auf einer derselben ein „allerliebstes Mädchen“,

„Wohlgebildet, zierlich angekleidet,
Frische Wangen unter braunen Haaren,
Und die Wangen waren von der Farbe
Wie das Fingerchen, das sie gebildet.“

Und nun bringt der Hauch des Gottes auch Leben in das Bild, die Wipfel der Bäume, die Wellen des Flusses beginnen sich zu kräuseln, das Mädchen erhebt sich und kommt auf ihn zu.

„Da nun alles, alles sich bewegte,
Bäume, Fluß und Blumen und der Schleier
Und der zarte Fuß der Allerschönsten,
Glaubt ihr wohl, ich sei auf meinem Felsen
Wie ein Felsen still und fest geblieben?“

Die „Allerschönste“, die sich so dem Dichter zum Genius der heiteren Anmut seiner Umgebung verkörperte, ihn wieder zum naiven Dichter machte, zugleich sein Herz zur Leidenschaft entflammend, stammte aus Mailand, lebte aber, verwaist, seit kurzem in Rom bei ihrem Bruder, der im Geschäft des Mr. Jenkins einen Vertrauensposten bekleidete. Als Goethe sie zuerst sah, war sie in Gesellschaft einer jungen Römerin, neben welcher ihr blonderer Schönheitstypus besonders hervortrat: „dunkelbraune Haare die Römerin, hellbraune die Mailänderin; jene braun von Gesichtsfarbe, diese klar, von zarter Haut, diese zugleich mit fast blauen Augen, jene mit braunen, die Römerin einigermaßen ernst, zurückhaltend, die Mailänderin von einem offenen, nicht sowohl ansprechenden als anfragenden Wesen.“ Mehr noch als ihre Schönheit übte die geistige Regsamkeit und Zutraulichkeit dieses Mädchens, das erst der Zufall, dann der eigene Wunsch gleich nach der ersten Begegnung wiederholt zu seiner Nachbarin machte, auf ihn einen bezwingenden Zauber aus. Schon war der Achtunddreißigjährige im Begriff, seiner Empfindung gegen sie offene Sprache zu leihen, da brachte ihn ein Zufall zur jähen Erkenntnis, daß er sich in die Braut eines andern verliebt hatte. Die Erschütterung seines Gemüts war so stark, daß er sogleich die Gesellschaft verließ und auch noch an den folgenden Tagen auf weiten Spaziergängen die Einsamkeit suchte.

Aber die Erinnerung an früher Erlebtes half ihm, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Sollte ihn in Rom nochmals das Schicksal treffen, das er in seinem „Werther“ einst hatte darstellen müssen, in dem Rom, das er aufgesucht, um sein von der Leidenschaft für Charlotte von Stein noch krankes Herz in einem nur der Kunst geweihten Leben gesunden zu lassen? Angelika Kauffmann ward die Vertraute dieser Herzenskämpfe, aus denen der Dichter bald genug als Sieger hervorging. Es gelang ihm, für den Verkehr mit Maddalena wieder den Ton der anfänglichen Harmlosigkeit zu finden, doch hat er bis zu seiner Abreise nach der Heimat nicht aufgehört, ihr den herzlichsten Anteil zu widmen. Als er später in Rom erfuhr, daß die Verlobung Maddalenas zurückgegangen und sie infolgedessen in schwere Krankheit verfallen sei, sandte er täglich zu ihrem Bruder, um seine Teilnahme zu bekunden. Es war ihm vergönnt, einen guten Ausgang dieser Krisis zu erleben. Und als er schweren Herzens schließlich von Rom aufbrach, war sie es, die ihm noch einmal als guter Genius des geliebten Landes entgegentrat und ihm den Abschied durch ihre reinen Sinnes dargebrachten Segenswünsche verklärte! Ein halbes Jahr später konnte ihm die treue Angelika die Anzeige von Maddalenas glücklicher Verheiratung mit dem jungen Valpato, dem Besitzer einer Porzellanfabrik in Rom, machen, an dessen Seite die schöne Mailänderin in glücklicher Ehe eine treue Römerin wurde.

Als Signora Valpato hat Angelika Kauffmann sie dann gemalt. Die Züge des reizenden Angesichts machen uns den Eindruck begreiflich, den das Mädchen auf unsern großen Dichter in naiver Unbefangenheit ausgeübt hat, nicht minder das poetische Bild, das dieser von ihr als „Schüler Amors“ in Castel Gandolfo entworfen!

Joh. Proelß.