Gottfried Kinkel’s Befreiung
Es ist Charfreitag – wir schreiben den 10. April des Jahres 1857 – und ich sitze, nachdem ich soeben, 11 Uhr Vormittags, die zinnerne Mittagsschüssel mit ihrem widerlichen Inhalt als ungenießbar bei Seite geschoben, melancholisch und den Kopf auf den Arm gelehnt in meiner Isolirzelle. Hinter mir liegen die Qualen einer fast vierjährigen Isolirhaft: drei Jahre und acht Monate war ich auf die Folter einer mittelalterlichen Untersuchungshaft gespannt, und seit einem Vierteljahre bin ich in die Züchtlingsjacke gesteckt. Vor mir habe ich zwei Jahre und neun Monate, welche ich noch im Bagno zuzubringen habe. Eine wie kurze Spanne Zeit für den, welcher sie hinter sich hat oder welchem eine goldene lachende Zukunft winkt! Aber welche Ewigkeit für mich, der ich, seit vier Jahren matt und mürbe gehetzt, sie in der Isolirzelle des Zuchthauses unter den raffinirtesten geistigen und physischen Entbehrungen verleben soll! Werde ich das Ende meiner Gefangenschaft erleben, und wenn dies, werde ich nicht körperlich ruinirt und geistig gebrochen das Zuchthaus verlassen? Wie traulich begleitet das gleichförmige Ticken von Mr. Humphrey’s Wanduhr das Gespräch im gemüthlichen Kreise von Freunden! Aber wie unheimlich wird das Ohr des Gefangenen in der Isolirzelle des Zuchthauses zu Dreibergen in der Stille des Feiertages durch den in langen und ungleichen Intervallen erfolgenden lauten, heiseren und stöhnenden Pendelschlag der Uhr im Corridor berührt! Der Gefangenwärter Burmeister sagte zu mir in den ersten Tagen meiner Haft in Bützow, als er mir meine Uhr brachte, wohl um mir das Gefühl meiner Einsamkeit zu mildern: „Uhren sind so gesellig, Herr Advocat.“ Ich finde dies nicht: Uhren quälen das Gehirn des Isolirgefangenen, gleichwie das monotone Geräusch des in der Stille der Nacht bohrenden Holzwurms den Fieberkranken martert.
Der Gedanke an theure Verwandte und Freunde, an ihre rührende Liebe, Treue und Anhänglichkeit erhellt wohl für den Augenblick die dunklen Gefängnißräume und entreißt den Gefangenen der traurigen Einförmigkeit der Gegenwart. Aber er hat auch die Nervenaufregung, die Unruhe und die Erschöpfung im Gefolge. Die Sehnsucht nach den Lieben da draußen ruft das Gefühl der Vereinsamung und Ohnmacht so recht lebendig hervor: man sieht sich um in seinen armseligen vier Mauern, man blickt unwillkürlich nach dem Fenster – dicke Eisenstäbe und ein schmales Stück Himmel, das ist Alles. Ja, wer den starken Geist der Madame Roland hätte und sich, wie sie in der Conciergerie gethan, in den Leiden der Gefangenschaft mit der Philosophie zu trösten weiß: Wie glücklich bist Du jetzt, Du hast nun gar keine Verantwortung und weiter nichts zu thun, als hier zu sitzen!
Mit meiner augenblicklichen Melancholie flüchte ich mich in die Erinnerung an die Erlebnisse einer schönen Vergangenheit. In lebhaften Farben wird ein Ereigniß in mir wach gerufen, das zu den schönsten Erinnerungen meines Lebens gehört. Ich finde Trost in dem Gedanken an den deutschen Mann und Dichter, der auch im Zuchthause schmachtete, der aber unter dem Jubel Deutschlands und der alten und neuen Welt durch seine Freunde den Klauen der Reaction entrissen ward. Noch danke ich Gott auf den Knieen, daß er mir vergönnt hat, einen bescheidenen Antheil an der Befreiung dieses Mannes zu nehmen. Meine alltägliche abschriftstellerische Thätigkeit ruht an den Feiertagen. Ich will nun meine freie Zeit benutzen, um die Fesseln der Gegenwart beim Niederschreiben jenes glänzenden Befreiungswerkes, das zum unvergänglichen Ruhme der demokratischen Partei im Buche der Geschichte verzeichnet ist, so viel möglich zu vergessen. In Einzelnheiten mag mein Gedächtniß mich täuschen, in der Hauptsache aber beruhen die Thatsachen der Erzählung auf strenger Wahrheit.[2]
„Wach auf, Du, rasch!“ Mit diesen Worten weckte mich am Freitag Morgen, den 8. November 1850, eine mir bekannt klingende Stimme.
Es war noch dunkel in meiner Schlafkammer, so daß ich die Gesichtszüge meines frühzeitigen Weckers nicht erkennen konnte.
„Großer Unbekannter, wer Du auch sein magst, sei barmherzig und entreiße mich nicht den Armen meines Gottes Morpheus,“ rief ich in schlaftrunkenem Pathos, die Augen weit aufreißend und nach den dunken Umrissen des Unbekannten hinstarrend, der mich ungeduldig und heftig zu rütteln anfing.
„Um’s Himmels willen, ermuntere Dich, steh’ auf so schnell Du kannst, längeres Säumen bringt Gefahr!“ rief der Fremde in höchster Aufregung.
Ich sprang rasch auf, zog ihn an’s Fenster und erkannte in der kleinen, vollen und beweglichen Figur meinen lieben Freund aus der weiland-mecklenburgischen Abgeordnetenkammer, den Amts- und Stadtrichter Dr. Petermann aus Strelitz.
„Petermann! Was in aller Welt führt Dich an diesem finsteren Novembermorgen hieher? Gab es bei Euch eine zweite verschlechterte Auflage des 7. September, und warst Du gezwungen, Dich Deinem großen Vaterlande durch die Flucht zu entziehen?“
„Ei was, halte Deine maliciöse Zunge. Wir haben jetzt andere Dinge zu thun, als Erinnerungen an strelitzer Junker und Kammerherren aufzufrischen. Ich habe zwei Fremde mitgebracht, welche ich Dir vorstellen will.“
„Wo sind sie?“
„Im Wirthshause zum weißen Kreuz habe ich sie zurückgelassen.“
„Wer sind sie?“
„Wie Du ungeduldig bist! Du sollst rasch mitkommen und sie persönlich kennen lernen. Es sind ein paar liebe Kerls. O prächtig, prächtig, prächtig!“
Und jedes der drei letzten Worte betonte der liebe Herr Stadtrichter mit besonderem Nachdruck und begleitete es mit geheimnißvollem, glückverheißendem Lachen, wobei er sich mit gewohnter Lebhaftigkeit verschiedene Male im Kreise herumdrehte. Sein Gesicht strahlte vor Freude.
„Aber mein lieber, theurer Petermann, sei doch gesetzt und vernünftig und versetze Dich in die Lage eines armen Kerls, der vor Neugierde brennt, den Grund Deiner Ekstase kennen zu lernen. Sag’ mir doch endlich, wer die beiden Fremden sind.“
„Es sind zwei Flüchtlinge. Der eine kennt Dich, Du kennst ihn auch, er ist diesen Sommer in der Braunschweiger Demokratenversammlung gewesen.“
„In jener Versammlung, die mir die ungerechtfertigte Haussuchung des Bützower Criminalcollegiums zuzog?“ fragte ich nachdenkend und hielt einen Augenblick mit dem Anziehen meiner Weste inne – soweit hatte ich inzwischen meine Toilette beendigt. „Sein Name?“
„Sein Name ist Hensel. Du aber hast ihn unter dem Namen Hesse kennen gelernt.“
„Ich erinnere mich, daß ein Hesse, der ein Rheinländer war, dort gewesen ist. Und wie heißt der Andere?“ fragte ich neugierig.
„Kaiser,“ erwiderte Freund Petermann lächelnd.
„Kaiser? das ist keine mir bekannte Persönlichkeit. Doch nach Deinem Lächeln zu schließen, wird das ein angenommener Name sein. Und sein wirklicher Name?“
Ich sah meinem Freunde forschend in’s Auge und nahm seinen triumphirenden Blick wahr, wie wenn er sagen wollte: Du wirst es schwerlich errathen, welche kostbare Beute ich mit mir führe. Ehe er antwortete, sah er sich um, ob wir auch belauscht würden. Dann wandte er sich zu mir und flüsterte mir ganz leise in’s Ohr: „Kinkel.“
[105] „Gottfried Kinkel?“ fragte ich in größter Aufregung. „Unmöglich, wie sollte der hieher kommen? Bist Du gewiß, daß man Dich nicht getäuscht hat, Petermann?“
„Es ist der wirkliche und wahrhaftige Professor Gottfried Kinkel. Du wirst Dich bald selbst überzeugen können.“
Wir eilten hinaus. Petermann trennte sich von mir, um noch einen Freund herbei zu holen. Ich ging zuerst zu einem Bekannten, dem Kaufmann Bluhme, um ihn zu ersuchen, mit einer Droschke mir nachzukommen, und begab mich dann auf den Weg nach dem in der Mühlenvorstadt belegenen „Weißen Kreuz“. Die brausenden Wassermühlen am Mühlendamm lagen bald hinter mir, und ich durcheilte hierauf die Allee von hohen rauschenden Pappeln, welche vom stürmischen Nordostwinde gewaltsam hin und her bewegt wurden.
Die Mittheilung von der Anwesenheit Kinkel’s geschah so plötzlich und traf mich so unvorbereitet, daß ich kaum an die Wahrheit zu glauben vermochte, daß dieser aus dem Zuchthause entsprungen und hier angekommen sei, um Schutz und Rettung zu suchen. Noch vor Kurzem hatte ich ihn im Bilde mit tiefer Rührung betrachtet, wie er in seiner Züchtlingsjacke im Kerker spulte. Das war der Lohn des Vaterlandes für einen seiner besten Söhne, den reichbegabtesten Dichter, den Mann, der für alles Gute, Edle und Schöne schwärmte und glühte!
Ich hatte mittlerweile meinen Bestimmungsort erreicht. Dort lag das „Weiße Kreuz“ und lugte freundlich und einladend mit seiner Fronte nach der Neubrandenburger Chaussee, auf welcher Petermann mit seinen beiden Flüchtlingen angelangt war. Ich eilte in das mir bekannte Haus, wandte mich in das „Honoratiorenzimmer“ linker Hand, stürzte hindurch und öffnete die der Eingangsthür desselben gegenüberliegende Thür, welche zu einer zweiten freundlichen Stube führte. Zwei Männer traten mir erwartungsvoll entgegen, beide von hoher Gestalt und schlanker Statur, der eine indeß den anderen an Größe um einige Zoll überragend. Der Größere war, dem Ansehen nach, den Vierzigern nahe. Er trug einen schwarzen Oberrock und schwarze Pantalons, und ebenso wie der Jüngere eine Brille. Sein mit Grau melirtes schwarzes Haar war kurz geschoren. Er hatte eine hohe und kahle Stirn. Das unrasirte Gesicht zeigte die Keime zu einem schwarzen Vollbart, die gelb-grünliche Farbe des Gesichts deutete auf lange Kerkerleiden. Auf den ersten Blick erkannte ich das Original zu dem von mir gesehenen Bilde. Es konnte Niemand anders sein als Gottfried Kinkel. Mit einem ungezwungenen gentlemanlike Benehmen schritt er auf mich zu und drückte mir mit sichtbarer Rührung die Hand, indem er zu mir sagte: „O, ich weiß, wer Sie sind. Ich habe Sie schon im Bilde bei unserem Freunde Petermann gesehen.“ Ich erwiderte stumm und in tiefer Erregung den Druck seiner Hand.
Der Begleiter Kinkel’s, ein junger Mann von einigen zwanzig Jahren, begrüßte mich als einen alten Bekannten. Ich erkannte ihn sofort als meinen Freund aus Braunschweig, den ich unter dem Namen „Hesse“ kennen gelernt hatte. Doch dieser Name war ebenso wie der Name Hensel, den er jetzt adoptirt hatte, ein fingirter. Sein wirklicher Name war – Carl Schurz. Seine Persönlichkeit war weniger imponirend, als die Kinkel’s. Aber dem aufmerksamen Beobachter entging nicht der feste Charakter und die männliche Entschlossenheit, welche sich in seinen markirten jugendlichen Zügen und seinem sicheren Auftreten ausprägten. Die braunen Augen blitzten klug und ironisch aus den etwas tief liegenden Augenhöhlen hervor. Sein langes Haar war dunkelblond.
„Ihr kennt Euch schon,“ sagte Petermann, der inzwischen mit seinem Freunde, dem Herrn N., eingetreten war, zu Schurz und mir, „ich brauche Euch daher einander nicht vorzustellen.“
„Ja wohl,“ sagte Schurz, „wir kennen uns von Braunschweig her, und ich habe schon damals auf Sie gerechnet.“
„Haben wir denn Ihnen zu danken, daß unser Freund hier ist?“ fragte ich.
„Er ist mein Retter und hat sich meinetwegen den größten Gefahren ausgesetzt!“ sagte Kinkel mit einem dankbaren, liebevollen Blick auf seinen Freund. „Der Adjutant im Tiedemann’schen Stabe, welcher mit genauer Noth seinen Verfolgern aus Rastadt entkam, wäre ein leckerer Bissen für die preußische Polizei gewesen,“ fügte er scherzhaft hinzu.
„Wie, Sie waren Officier in der badischen Revolutionsarmee und wagten sich nach Spandau?“ fragte ich. „Die Kugel war Ihnen gewiß, wenn man Sie gefaßt hätte.“
„Die Nürnberger hängen den Verbrecher erst, wenn sie ihn haben,“ sagte Schurz lächelnd. „Uebrigens bin ich, so viel ich weiß, der preußischen Polizei von Person nicht bekannt. Die Gefahr war also nicht gar groß.“
„Die Polizei hat nicht blos ihre schwarzen Bücher, sondern auch die Bilder der demokratischen Führer,“ erwiderte Petermann. „Herr v. Hinkeldey und Consorten werden sicher im Besitze Ihres Portraits sein. Ohnehin werden Sie steckbrieflich verfolgt.“
„Die preußische Polizei disponirt auch über sehr bedeute geheime Fonds,“ setzte ich hinzu.
„Mag sein. Aber wer an meiner Stelle hätte gezaudert, wenn es galt, den Patrioten und Dichter der deutschen Nation und den Gatten und Vater der Familie zu erhalten und dem Lehrer und Freunde, welchem ich so Vieles schulde, durch die That zu danken?“
„Wir werden später weiter mit Ihnen rechten,“ erwiderte ich. „Jetzt handelt es sich vor Allem darum, Sie schleunigst in Sicherheit zu bringen. Werden Sie etwas dagegen haben, wenn ich die weitere Leitung dieser Angelegenheit übernehme und Ihnen meine Ansicht auseinandersetze?“
„Wir verlassen uns ganz auf Ihre Besonnenheit und Klugheit,“ antwortete Kinkel. „Wird es schwer halten, uns schleunigst über See zu schaffen?“
„Ich bedaure allerdings, daß wir in Rostock nicht im Voraus von der bevorstehenden Flucht in Kenntniß gesetzt sind. Es wäre dann Alles zu Ihrem schleunigen Entkommen von hier bereit gewesen, während wir nun erst die zu demselben nöthigen Vorbereitungen zu treffen haben. Sie werden daher noch einige Zeit bei uns verweilen müssen. Aber verlassen Sie sich ganz auf uns. Niemand soll Sie hier unseren Händen entreißen. Später erst sind wir in der Lage, einen bestimmten Plan für Ihre Weiterbeförderung zu entwerfen. Für jetzt kommt es nur darauf an, Ihnen ein vorläufiges sicheres Asyl zu verschaffen und zugleich die Spur, auf welcher Ihnen die Polizei folgen kann, zu verwischen. Es ist in hohem Grade wahrscheinlich, daß diese Ihnen gerade auf dem von Ihnen eingeschlagenen Wege nachsetzt. Die Vermuthung, daß Sie die Eisenbahnen wegen der verrätherischen Telegraphen vermeiden und schleunigst den Seeweg zu gewinnen suchen werden, liegt sehr nahe. Da nun der Weg nach Mecklenburg zugleich den Vortheil bietet, daß man auf demselben sehr rasch dem preußischen Gebiet entrinnen kann, so blieb Ihnen kaum ein anderer Weg, als die Benutzung der Chaussée, welche von Berlin aus über Neustrelitz und Neubrandenburg hierher führt. Deshalb schlage ich Ihnen vor, daß Sie, nach genommenem Labetrunk, sofort an der Stadt vorbei nach Warnemünde, dem zwei Meilen von hier entfernten Hafenort Rostocks, fahren. Dort sind Sie einstweilen außerhalb der Schußweite der Polizei. Mein Freund, der Kaufmann Bluhme, wird bald mit einer Droschke hier sein und gewiß die Güte haben, Sie zu begleiten und dort das Nöthige auszukundschaften. Vielleicht leistet Ihnen auch mein Freund N. Gesellschaft. Morgen komme ich nach, und Sie werden dann mehr erfahren.“
Der Kaufmann Bluhme war inzwischen mit der Droschke angelangt. Alle stimmten mit meinem Vorschlage überein. Der freundliche Wirth zum „Weißen Kreuz“ erschien und präsentirte Jedem von uns ein Glas dampfenden Eiergrogs. Wir stießen auf unsere Flüchtlinge und eine glückliche Reise an. Wir waren so heiter, als wären schon alle Schwierigkeiten beseitigt. Namentlich gerieth Kinkel in die liebenswürdigste Laune. Als ich ihm seinen eleganten Pelz anhalf, bemerke er scherzend:
„Wie rasch ist doch der Wechsel der Zeiten! Ehegestern steckte ich noch in der Züchtlingsjacke und mußte mir mein Waschwasser selbst holen. Heute bedient mich der Herr Präsident der mecklenburgischen Abgeordnetenkammer beim Anziehen meines Pelzrockes.“
Ich gewahrte bei dieser Gelegenheit, daß seine Hand mit einem weißen blutbefleckten Taschentuch umwunden war.
„Haben Sie sich verletzt?“
„Beim Abbrechen der Stäbe meiner Gefängnißthür habe ich mir die Hand verwundet.“
Die beiden Flüchtlinge stiegen mit Bluhme und Freund T. in die Droschke und eilten ihrem Bestimmungsort zu. Petermann setzte sich, nachdem wir uns herzlich umarmt hatten, in seinen Wiener Wagen, um allein nach seiner Heimath zurückzufahren.
„Nun!“ rief er, „sind das nicht ein Paar liebe, prächtige Kerls? Deiner Obhut habe ich sie anvertrauet, und ich bin sicher, [106] daß, wenn Moses keine Balken über die Ostsee legt, Du ein Konigreich hingeben wirst, um ihnen ein Schiff zu verschaffen.“
Aus seinen Augen leuchtete die Freude und der Triumph, daß seine Mission so gut gelungen war. Als er schon eine Strecke fort war, lehnte er sich aus dem Wagenschlage, und ich sah ihn noch strahlend im Glück mir Kußhände zuwerfen. Ich selbst kehrte in die Stadt zurück mit dem vollen Bewußtsein meiner Verantwortlichkeit und nicht ohne Sorge über den endlichen Ausgang dieser Sache, aber fest entschlossen, Alles einzusetzen, um die theuren Flüchtlinge glücklich aus dem Bereiche ihrer Feinde zu bringen.
Am Abend kehrte Bluhme zurück und unterrichtete mich von der glücklichen Ankunft meiner Freunde in Warnemünde, wo sie im Wöhlert’schen Gasthause abgestiegen waren. Die Aussichten für ihr Weiterkommen lauteten indeß nicht sehr ermuthigend. Der Sturm aus Nordost gestattete keinem Fahrzeuge das Auslaufen aus dem Hafen. Die Hauptschifffahrt war vorbei. Nur ein einziges Schiff tanzte auf der Rhede. Es war eine große mecklenburgische Brigg, die unter der Correspondentrhederschaft eines Rostocker Kaufmanns stand und nach London bestimmt war. Insofern schien sie unseren Zwecken zu entsprechen. Aber wenn das Wetter ungünstig blieb, so konnte die Befrachtung noch lange Zeit in Anspruch nehmen. Wegen des großen Tiefganges der Brigg hatte sie nämlich im Hafen nur einen Theil ihrer Ladung einnehmen können, und sie sollte erst auf der Rhede vermittelst sogenannter Leichterschiffe ihre volle Fracht empfangen. Ueberdies war es mißlich, sich dem Correspondentrheder und dem Schiffer anzuvertrauen. Denn wenn wir sie auch als Ehrenmänner kannten, welche unsere Flüchtlinge nicht verrathen haben würden, so wußten wir doch nicht, ob sie nicht in dieser delicaten Angelegenheit den Landesgesetzen und ihren Rhedern gegenüber Bedenklichkeiten hätten. Die Vorsicht erheischte, daß wir uns keinem Abschlage aussetzten.
Unter diesen Umständen beschloß ich, mich einem Manne anzuvertrauen, der die Mittel und, ich wußte es im Voraus, den Willen hatte, das anvertraute Gut baldmöglichst über See zu spediren. Dieser Mann war Ernst Brockelmann, einer der bedeutendsten Kaufleute und Schiffseigner in Rostock. Sein kaufmännischer Name hatte einen guten Klang, nicht blos in Mecklenburg, sondern auch in deutschen und außerdeutschen Handelsplätzen. Als warmer Vertreter und Fürsprecher der ärmeren Classe war er seit 1848 in ganz Mecklenburg bekannt. Die Hunderte von Arbeitern, welche er in seinem großen Fabriketablissement beschäftigte, verehrten und liebten ihn wie ihren Vater. Das Jahr 1848 hatte uns zusammengeführt und näher gebracht; wir gehörten Beide zu der Linken der mecklenburgischen constituirenden Kammer. Er war seitdem mein werther Freund und Gönner gewesen. Dies war der Mann, den ich mir als Retter in der Noth erkor.
Am anderen Morgen in der Frühe ging ich zu ihm nach seinem Fabriketablissement in der Mühlenthor-Vorstadt, welches zugleich ein prächtiges Wohnhaus enthält. Ich fand ihn in seinem geräumigen Zimmer, gemüthlich seine eben angezündete Morgenpfeife rauchend und mit einer Hand vorweg haltend, die andere Hand nach seiner Gewohnheit in der Seitentasche seines grauen Flausrocks, und mit seiner hohen imponirenden Gestalt an den Ofen gelehnt. Wenn er gleich schon über die Funfzig hinaus und sein Haar bereits grau war, so hatte er doch eine Gewandtheit in seinen Körperbewegungen und eine Lebhaftigkeit in seiner Sprache und seinem ganzen Wesen, daß mancher Vierziger sich dazu hätte Glück wünschen können.
„Herzlich willkommen, lieber Wiggers,“ rief er mir bei meinem Eintreten zu. „Was bringt Dich so zeitig hierher? Setz’ Dich nieder! Steck’ Dir ’ne Cigarre an und erzähle mir, was Du auf dem Herzen hast! Hoffentlich führt nichts Schlimmes Dich um diese ungewöhnliche Zeit zu mir.“
„O nein, ich bringe gute, recht gute Neuigkeiten mit. Doch es ist noch ein Aber dabei. Man darf den Anfang nicht vor dem Ende loben.“
„Das klingt ja ganz geheimnißvoll, und Du machst dazu ein so ernsthaftes Gesicht, daß man vermuthen muß, die Polizei hat Dich wieder einmal gehaussucht.“
„Mit der Polizei hat die Angelegenheit, derenthalben ich zu Dir komme, allerdings auch zu thun. Diesmal aber betrifft sie nicht mich, sondern zwei arme Unglückliche, die von der preußischen Polizei verfolgt werden.“
„Die sollen sie nicht haben, wenn ich’s hindern kann!“ rief Ernst Brockelmann lebhaft und hüllte sich in eine Rauchsäule.
„Zwei politische Flüchtlinge sind es, von denen der eine dem Zuchthause entsprungen ist und der andere ihn befreiet hat.“
„Dem Zuchthause entsprungen?“
„Ja, dem Zuchthause zu Spandau.“
„Sein Name?“
„Kinkel,“ flüsterte ich.
„Kinkel?“ rief er erstaunt. „Und der Andere hat ihn befreit?“
„Ja, mit Gefahr seines Lebens. Wird er gefaßt, so wird man ihn zu Pulver und Blei begnadigen.“
„Das ist ja ein Prachtkerl!“ sagte Ernst Brockelmann in tiefer Bewegung, ließ seine Pfeife an einen Stuhl hinuntergleiten, steckte die freigewordene Hand in die andere Seitentasche und ging mit großen Schritten in der Stube auf und nieder, wie er zu thun pflegte, wenn er in Aufregung war.
„Wo sind die Beiden?“ fuhr er fort.
„In Warnemünde.“
„Sie sollen zu mir in’s Haus kommen.“
„Das ist es, warum ich Dich bitten wollte.“
„Wann werden sie kommen?“
„Der Wagen, welcher mich zu ihnen bringen soll, steht bereit. Darf ich heute Nachmittag vier Uhr in Krummendorf, dem Dorfe am rechten Warnowufer, Dich mit Deinem Fuhrwerk erwarten? Ich werde dann mit den beiden Flüchtlingen dort sein!“
„Ich werde mich pünktlich dort einfinden und die Beiden mit mir nehmen. Und das sage ich Dir, Wiggers, wenn ich sie erst in meinem Hause habe, bei Gott, dann möchte ich den sehen, der es wagen wollte, sie wider meinen Willen abzuholen. Nun, leb’ wohl, sage ihnen, daß ich ihnen mein Haus als Asyl anböte, und daß ich weiter für sie sorgen und sie baldmöglichst über See spediren würde!“
Wir schieden händeschüttelnd von einander. Bald darauf war ich auf dem Wege nach Warnemünde.
Dieser Ort, dessen hauptsächlich aus Lootsen, Fischern, Sandfahrern und Matrosen bestehende Bevölkerung etwa 1800 Seelen zählt, ist rücksichtlich seiner staatsrechtlichen Stellung, wenn man der Definition des Rostocker Magistrats folgt, „nach den bisherigen Vorgängen und nach anderen historischen Anhaltspunkten eine zum Vortheile der Stadt Rostock, weil dieser unterthänige, in Unterordnung gehaltene Commune, welche mehr als ein Dorf ist“. Ausländern wird diese Definition, wie so vieles Andere in unserem Patrimonialstaate, ziemlich unverständlich sein. Ich will daher hinzufügen, daß Warnemünde eine von Rostock abhängige Colonie ist, welche nicht ihrer selbst wegen, sondern blos zum Vortheile und zur Ausbeutung der Stadt existirt. Um einen Begriff von dem Grade der Abhängigkeit zu geben, will ich nur hervorheben, daß weder ein Schlächter noch ein Bäcker sich dort niederlassen darf, daß vielmehr dieser Ort von 1800 Einwohnern gezwungen ist, das nöthige Fleisch und Brod von dem zwei Meilen entfernten Rostock zu kaufen. Die politische Abhängigkeit entspricht der materiellen. Der Rostocker Magistrat übt über den Ort sein rein patriarchalisches Regiment durch eins seiner Mitglieder, Gewettsherr genannt, welcher in Rostock residirt und nur von Zeit zu Zeit, um Gerichtstage abzuhalten, Steuern beizutreiben oder Acte der höheren Polizei oder Administration auszuüben, seine Pflegebefohlenen besucht. Der Vogt ist mit dem unter ihm stehenden Hegediener die einzige am Ort beständig anwesende Obrigkeit, welche der Autorität des Gewettsherrn unterworfen ist. Die allenthalben vordringende Cultur hat die gemüthliche Seite, welche diese patriarchalischen Zustände damals hatten, auch in Warnemünde verdrängt. Das Amt des Vogtes und Hegedieners ist später durch jüngere Kräfte besetzt, welche unter dem Krummstabe eines strenggläubigen Predigers leben, der eifrig bestrebt ist, ein strafferes Regiment herbeizuführen und zur Erreichung seines Zweckes sich selbst vor Conflicten mit der städtischen Obrigkeit nicht scheut.
Im Jahre 1850 aber existirte noch das alte patriarchalische Regiment, der friedliche Ort wußte von einem Kampfe der weltlichen und geistlichen Macht noch nichts. Der damalige Prediger, aus der altrationalistischen Schule stammend, kanzelte wohl seine Gemeindeglieder in seinen Predigten recht tüchtig ab, aber außerhalb derselben ließ er sie in Ruhe und mischte sich niemals in Dinge, welche zu [107] dem Ressort der weltlichen Obrigkeit gehören. Der alte Hegediener, welcher zugleich Gastwirthschaft betrieb, war froh, wenn sein amtlicher Beruf ihn nicht in Anspruch nahm und er seine Zeit zur Bedienung oder Unterhaltung seiner Gäste verwenden konnte. Und der Vogt, welcher die Siebenzig längst überschritten hatte, ward selten anderswo gesehen, als innerhalb der Grenzen der Vogtei, eines alten baufälligen städtischen Amtsgebäudes mit der Jahreszahl 1605, welches dem jeweiligen Vogt als Wohnung dient und außerdem die nöthigen Localitäten für die „Rostocker Herren“, im Fall sie dort ihre obrigkeitlichen Amtspflichten ausüben, und einige Logirzimmer für Badegäste enthält. Wenn der alte Herr mit seiner hohen, breiten und mächtigen Gestalt, mit dem schwarzen Sammetkäppel auf dem ehrwürdigen weißlockigen Haupte und mit seiner ständigen Begleiterin, der Pfeife mit meerschaumenem Kopfe, nach seiner Gewohnheit vor der breiten Fronte der Vogtei auf und nieder wandelte und so ehrfurchtgebietend und gutmüthig zugleich dareinschaute, dann freute sich Alt und Jung. Die Gäste aus Rostock kamen selten nach Warnemünde, ohne den alten Vogt gesprochen oder begrüßt zu haben. Als der alte Herr sich in’s Privatleben und damit in eine Privatwohnung zurückgezogen hatte, da vermißten Viele den ehrwürdigen alten Herrn, und die Vogtei lag ohne ihn recht verlassen da. Und als er vor ein paar Jahren entschlief, da trauerten Alle, die ihn kannten.
Mich knüpfte noch eine besondere Vorliebe an den alten Herrn. Er war mit meinem alten Vater, der mit ihm in ziemlich gleichem Alter stand, lange befreundet. Mein Vater unterließ nie, ihn bei seiner Anwesenheit in Warnemünde zu besuchen. Ich vergesse den Eindruck nicht, welchen es immer auf mich machte, wenn die beiden alten Herren sich ehrfurchtsvoll begrüßten, der Vogt, indem er sein schwarzes Käppchen abzog, und mein Vater, indem er seinen Hut abnahm, und mit entblößten weißen Häuptern einander gegenüberstanden, und sich dann treuherzig die Hände schüttelten und einander fragten, in welchem Jahre und an welchem Tage doch der Andere geboren sei, und dann die Differenz berechnet wurde, und wenn sie dann wieder in derselben Weise sich trennten und mit dem stillen ernsten Bewußtsein, daß sie sich wohl zum letzten Male gesehen hätten, auf Wiedersehen wünschten. Die wohlwollenden Gesinnungen, welche den alten Vogt beseelten, zeigten sich auch darin, daß er sich ungern entschloß, seine polizeilichen Functionen auszuüben, und, wenn irgend möglich, Alles in Güte abzumachen suchte. Die folgende wahre Anekdote legt davon Zeugniß ab und charakterisirt zugleich die patriarchalischen Zustände, in welchen sich damals der Ort noch befand.
Ein Gensd’arm überlieferte ihm eines Abends einen auf benachbartem Gebiete eingefangenen Spitzbuben, um denselben bis zum anderen Morgen, wo er weiter befördert und an die zuständige Obrigkeit abgeliefert werden sollte, in Haft zu behalten. Der Vogt gerieth darüber in große Verlegenheit, denn ein Gefängniß existirte am Orte nicht, und noch niemals hatte er einen Gefangenen zu bewachen gehabt. Seine angeborene Gutmüthigkeit sträubte sich auch gegen die Function eines Kerkermeisters. Er versuchte, mit dem Gensd’armen zu capituliren und ihn zu bestimmen, seinen Gefangenen noch bis zur nächsten Station zu bringen. Aber der Gensd’arm wollte nicht darauf eingehen: es sei schon spät, und alle Verantwortlichkeit fiele auf den Vogt, wenn dieser die Aufnahme des Gefangenen verweigerte. Was sollte der unglückliche Vogt machen? Gensd’arm und Arrestant wurden erst mit einem guten Abendessen regalirt und dann der Letztere in das Backhaus eingelassen. Ein hölzerner Riegel ward vor die Thüre desselben geschoben, und zu mehrerer Sicherheit wurden verschiedene Scheite Holz gegen die Thüre gestellt. Als aber am andern Morgen der Gensd’arm seinen Arrestanten abholen wollte, fand er den Riegel zerbrochen und die Thüre halb geöffnet. Der Vogel war davongeflogen, und Niemand hatte sich darüber im Stillen wohl herzlicher gefreut, als der Vogt.
Der gänzliche Mangel an polizeilicher Ueberwachung erhöhte natürlich die Annehmlichkeiten des Badelebens in Warnemünde. Höchstens murrte wohl ein Berliner Badegast, wenn er zu seiner großen Verwunderung seinen an den Vogt geschickten Paß sofort mit dem Compliment zurückerhielt, daß solche Berliner Sitten in Warnemünde nicht existirten. Vermißt ward die Polizei in keiner Weise. Denn Diebstähle kannte man dort nur dem Namen nach. Dieser Respect vor fremdem Eigenthum wirft ein um so helleres Licht auf die Reinheit der Warnemünder Sitten, als die Gelegenheit zum Stehlen nirgends besser sein kann, als gerade dort. Den Zugang zu den Passagen nach den Höfen (Tüschen), von wo man in das Vorder- und Hintergebäude gelangen kann, bildet eine nur mit einem hölzernen Riegel versehene Thür. Als höchste Vorsicht gilt, daß, wenn Niemand im Hause zurückbleibt, der Schlüssel zur Hausthüre hinter dem äußeren Fensterladen versteckt wird. Der ausgeprägte Eigenthumssinn der Warnemünder würde einen Proudhon zur Verzweiflung bringen. Im Uebrigen könnte er dort sein Problem der Anarchie verwirklicht finden. Ist es nöthig, daß Recht und Gerechtigkeit geschützt werden, so geschieht dies im Wege der Selbsthülfe und Association, wie nachfolgender Vorfall zeigt.
Ein englisches Schiff, dessen Capitain den Hafen, ohne die Lootsengelder zu zahlen, verlassen wollte, ward mitten in der Fahrt von mehreren mit jungen Warnemünder Seeleuten bemannten Böten attaquirt. Die kräftigen Jungens kletterten, wie die Eichkätzchen, im Nu die steilen Schiffswände hinauf, sprangen auf’s Deck, kriegten Capitain und Mannschaft beim Kragen, und hatten innerhalb weniger Augenblicke die Zahlung der Schuld beigetrieben. Keine Obrigkeit hätte so prompte Justiz üben können.
[120] Am 9. November war natürlich die Badesaison längst vorüber. Mit dieser hatten auch die Dampfschiffsfahrten zwischen Rostock und Warnemünde aufgehört; nur ausnahmsweise noch wurden Segelschiffe durch die Dampfschiffe von einem Orte zum andern bugsirt. Der Warnemünder lebte wieder in stiller Einsamkeit und tröstete sich in derselben mit dem Gedanken, daß sieben Monate später die heißersehnten geldbeladenen Badegäste wieder einzurücken beginnen würden. Dann und wann fuhr wohl noch eine mit Sand oder Steinen beladene Jölle nach Rostock, aber auch dies mußte wegen der vorgerückten Jahreszeit bald aufhören. Der Verkehr mit der Mutterstadt beschränkte sich im Wesentlichen auf die Herbeiholung der nothwendigen Lebensbedürfnisse.
Aus der gegebenen Schilderung ersieht man, wie vortrefflich sich der Hafenplatz zum ersten Zufluchtsorte für die beiden Flüchtlinge eignete.
Gegen Mittag erreichte ich den Weg, der sich dicht an die Dünen bei Warnemünde hinanzog. Der Sturm brauste noch immer aus Nordost, und die Brigg tanzte wie ein Korkstöpsel auf der Rhede. Kinkel, Schurz und meinen Freund N. sah ich mir vom Strande aus entgegenkommen und gegen die Kraft des Sturmes ankämpfen. Ich verabschiedete meine Droschke und ging auf die Freunde zu.
„Willkommen, willkommen,“ tönte es mir entgegen. „Wie stehen die Actien in Rostock?“
„Herzlich willkommen,“ erwiderte ich. „Wir können dreist à la hausse speculiren. Aber, mit Ihrer gütigen Erlaubniß, wer heißt Sie denn am hellen Tage an der Seeküste promeniren und sich der unnöthigen Gefahr des Verraths aussetzen?“
„O,“ entgegnete Schurz, „diese biederen Seemannsnaturen mit ihren wettergebräunten Gesichtern und ihren „Südwesters“ auf den Köpfen wissen wohl mit den Elementen zu kämpfen und den Tücken des Meeres Trotz zu bieten, aber die Tücken der Menschen ahnen sie nicht einmal, viel weniger noch sind sie fähig, Leuten wie wir, die Schutz in ihrem Heimathsort gesucht haben, die Gastfreundschaft zu brechen und sie zu verrathen.“
„Wir konnten der Schönheit und Großartigkeit der Natur nicht widerstehen,“ rief Kinkel. „Wir hörten das Brausen des Meeres und den Sturm durch die Takelagen der Schiffe heulen und pfeifen, und sahen in der Ferne die Myriaden von weißglänzenden Häuptern riesiger Wellen. Mit unwiderstehlicher Kraft zog es uns fort an’s Meeresufer. Und wie reich sind wir belohnt! Wie majestätisch rollen die Wogen daher, und wie erhaben ist die ruhige Gleichförmigkeit ihrer Bewegung in dem anscheinenden Chaos des Ganzen, wie überwältigend der Anblick, wenn die Wogen sich brechen und ihren Schaum gen Himmel spritzen und wie ein Heer von Furien und Dämonen brausend und zischend auf das Ufer zustürzen! Jetzt erst empfinde ich die Grausamkeit der Menschen, die mich so lange im Kerker schmachten ließen und so lange mir Deine Schönheit entzogen, o göttliche Natur!“
[121] Und im Entzücken über den majestätischen Anblick breitete er seine Arme gegen das Meer aus, als wollte er die große Natur an sein Herz drücken. Seine Brust hob sich und mit vollen Zügen schlürfte er die herrliche Seeluft, wie wenn dieser Augenblick ihn entschädigen sollte für die dumpfe Kerkerluft und den Staub des Spulrades, welche er so lange Zeit hatte athmen müssen.
Unser Aller bemächtigte sich eine tiefe Rührung und eine feierliche Stimmung, und wir gingen eine Zeit lang schweigend weiter. Darauf wandte ich mich an Carl Schurz und sagte zu ihm:
„Die braven Warnemünder thun Ihnen allerdings nichts zu Leide. Aber das Gerücht, daß zwei Fremde sich hier zu einer so ungewöhnlichen Zeit aufhalten, könnte doch nach Rostock dringen und die Aufmerksamkeit der dortigen Polizei um so mehr erregen, als voraussichtlich die steckbriefliche Verfolgung Kinkel’s nicht lange auf sich warten lassen wird. Es ist daher mein Plan, Sie vorerst nach Rostock zu schaffen, wo Sie so lange verborgen leben können, bis sich die Gelegenheit bietet, Sie mit einem Schiff nach England zu schaffen.“
„Wie rasch sind die dänischen Inseln zu erreichen?“ fragte Kinkel.
„In sechs Stunden können Sie mit einem Dampfschiffe von hier nach der Insel Falster kommen.“
„Können wir nicht in einem Boot hinüberfahren?“
„Allerdings. Im Sommer geschieht dies wohl dann und wann. Aber um diese Jahreszeit würde sich schwerlich ein Warnemünder dazu verstehen. Ueberdies ist die Landung in Falster gefährlich, weil man nicht wissen kann, ob die dänische Regierung sich wegen ihres Verhältnisses zum deutschen Bunde nicht verpflichtet hält, Sie auszuliesern.“
„Wie lange kann es dauern, daß ein Schiff zu unserer Disposition steht?“ fragte Kinkel.
„Das läßt sich noch nicht bestimmen. Einstweilen handelt es sich nur darum, Sie vorläufig in Sicherheit zu bringen.“
„Sollte es unter diesen Umständen nicht besser sein, wir führen nach Hamburg und suchten von dort nach England zu entkommen? Es werden dort alle Tage Schiffe nach England gehen.“
„Ganz richtig. Aber Sie würden dort der preußischen Polizei geradeswegs in die Arme laufen. Denn in Hamburg und Bremen wird man vorzugsweise vigilant sein, eben weil die Flucht von dort aus am leichtesten zu bewerkstelligen ist. Jedenfalls aber vermehrte sich die Gefahr für Sie um die durch Zurücklegung des Weges von hier nach Hamburg entstehende Chance. Mit der Eisenbahn, deren Bahnhöfe zu Hagenow und Hamburg bewacht sein werden, dürften Sie natürlich nicht reisen, und wenn Sie mit einem Fuhrwerk fahren, so könnten Ihnen die Gensd’armen in den Weg kommen.“
„O, vor diesen fürchten wir uns nicht,“ rief Schurz und griff nach seinen in der Seitentasche befindlichen Pistolen. „Wir sind hinlänglich darauf vorbereitet, es mit zweien oder dreien von ihnen aufzunehmen.“
„Ich zweifle nicht daran,“ versetzte ich, „daß Sie im Falle der Gefahr zum Aeußersten entschlossen sind und daß es Ihnen im Nothfalle nicht darauf ankommen würde, ob Mecklenburg ein paar Gensd’armen mehr oder weniger besäße. Aber Sie müssen eine solche Gefahr vermeiden. Eine den Gens’darmen gelieferte Schlacht würde Ihrer Flucht gar nicht förderlich sein, vielmehr die gesammte norddeutsche Polizei in Bewegung setzen und auf die richtige Spur leiten. Aber selbst wenn die Chancen für das Gelingen der Flucht über Hamburg weniger ungünstig wären, als sie es sind, so würden doch meine Freunde und ich aus unserer Obhut Sie nicht entlassen. Sie sind unser anvertrautes Gut, und wir sind dafür verantwortlich, Sie glücklich von hier fortzuschaffen. Vertrauen Sie daher uns ganz. Der Kaufmann Ernst Brockelmann in Rostock bietet Ihnen durch mich sein Haus als Asyl an. Als einer der bedeutendsten Schiffseigner wird er Rath für Ihre Weiterbeförderung zu schaffen wissen. Wir haben außerdem einen Plan miteinander besprochen, wonach man Ihre Spur hier verliert und Sie plötzlich wie Meteore wieder in Rostock auftauchen.“
Wir gelangten mittlerweile zum Wöhlertschen Gasthofe. Das Mittagsessen stand schon bereit. Ein erquickender Schlaf, dessen die Flüchtlinge sich in der verflossenen Nacht nach den furchtbaren Aufregungen der vorhergehenden Tage zu erfreuen gehabt hatten, und die gesunde frische Seeluft hatten sie sichtlich gestärkt. Meine beruhigenden Mittheilungen hoben ihre Stimmung, und so speisten wir denn in der heitersten Laune.
„Womit haben Sie sich denn gestern die Zeit vertrieben?“ fragte ich.
„Die Herren haben fortwährend geschlafen,“ erwiderte N. „Ich habe mich während der Zeit schrecklich gelangweilt, wiewohl ich mich über ihren langen Schlaf freute. Erst gegen Abend standen sie auf, und dann haben wir noch spät aufgesessen und geplaudert.“
„Ja,“ sagte Kinkel scherzend, indem er auf Schurz zeigte, „der „Kleine“ dort hat so fest geschlafen, daß er es nicht bemerkt haben würde, wenn auch zehn preußische Polizisten hereingetreten wären, um mich fortzuschleppen.“
„Da thun Sie ihm doch Unrecht,“ erwiderte N. „Ich habe Ihren Freund auf die Probe gestellt. Ich wollte sehen, wie weit seine Wachsamkeit ginge, und schlich mich ganz sachte nach dem Zimmer, in welchem Sie beide Ihren sechsstündigen Nachmittagsschlaf hielten. So leise wie ich konnte öffnete ich die Thür. Da sah ich Sie im festen Schlafe, aber Ihr Freund schlug sofort die Augen auf, richtete sich in die Höhe und ergriff seine oben auf seiner Bettdecke liegenden geladenen Pistolen. „Gut Freund“ rief ich und trat eilends meinen Rückzug an.“
„Der „Große“ scheint mir sehr undankbar zu sein,“ sagte Schurz zu Kinkel, „und wenn ich mir die Sache recht überlege, so thut es mir eigentlich leid, daß ich ihn nicht seinem Schicksale überlassen habe.“
„Du, nimm Dich in Acht, reize den Löwen nicht; ein Glück für Dich, daß Du mein Befreier bist!“ rief Kinkel mit komischem Pathos. „Nun aber,“ fügte er hinzu und blickte Schurz zärtlich an, „kann ich Dir nicht zürnen. Hast Du nicht Alles für mich eingesetzt? Komm, wir wollen Frieden machen, stoße mit mir an. Deine Gesundheit!“
Wir stießen die Gläser zusammen und leerten sie auf des Befreiers Wohl.
„Ja,“ sagte Kinkel ernst, „wenn Dir Deine wunderbare Flucht aus Rastadt nicht gelungen wäre, dann säße ich nicht hier, und wo Du jetzt wärest, das wissen die Götter.“
„Als ich mich unter der Rastadter Brücke verborgen hielt und die verteufelte Schildwache mit ihrem Bajonnetgewehr durch die Oeffnung in der Brücke stieß, um auf gut Glück zu erproben, ob ein Mensch oder eine Ratte darunter steckte, da fehlte nur eines Haares Breite, und ich wäre den elenden Tod des Aufspießens gestorben. Davor bin ich glücklicher Weise behütet und ich bin froh, daß ich hier sitzen und diesen ganz ausgezeichneten Seefisch essen kann. Ich denke, auch Dir schmeckt das Essen?“
„O ganz vortrefflich,“ erwiderte Kinkel. „Der Schlaf und die Seeluft haben mich so erquickt, daß ich einen wahren Wolfshunger habe.“
„Die Warnemünder Kost wird Ihnen auch besser gefallen als die Spandauer,“ bemerkte ich.
„Die Kost in Spandau hat mich gerade nicht verwöhnt. Man machte mit mir nicht mehr Umstände, als mit einem gewöhnlichen Zuchthaussträfling. Zum Lager hatte ich einen Strohsack. Die spitzen Strohhalme haben mich oftmals aus dem Schlaf geweckt und mir die Backen wund gerieben. Die Züchtlingskost war fast ungenießbar. Nur viermal im Jahre, nämlich an des Königs Geburtstage und am ersten Feiertage von Weihnachten, Ostern und Pfingsten, erhielten wir Fleisch. Aus Wasser und trockenem Brode bestand meine Hauptnahrung.“
„Bekamen Sie keine Butter?“ fragte ich.
„Ja, die habe ich mir in Spandau durch meine Arbeit zu verschaffen gewußt. Als ich noch in Naugard war, da hatte ich eine humanere Behandlung. Der Director des dortigen Zuchthauses, Schnuggel, gehörte freilich zu den Erzfrommen und empfing mich mit den salbungsvollen Worten: „„Mein Sohn, Du mußt Deinen Blick nun ganz von der Außenwelt abwenden und Dich einzig und allein mit Deinem Gott beschäftigen.““ Aber er wollte doch die ihm von Berlin ertheilten strengen Instructionen an mir nicht zur Ausführung bringen. Darum schickte man mich nach dem Spandauer Zuchthause, dessen Director Jeserich man die nöthige Energie zutraute, um meinen Trotz, wie man es nannte, zu brechen und meinen Geist zu beugen. Ich sollte das aufgegebene wöchentliche Pensum spulen. Wer sein Pensum nicht schafft, wird bestraft, zuerst mit Entziehung der warmen Kost und dann mit Prügeln. Ich that das Möglichste, um mein Pensum fertig zu bringen. Der Triumph sollte meinen Feinden nicht werden, daß sie draußen mit höllischer Schadenfreude [122] hätten erzählen können. „„Wissen Sie schon, der Professor Kinkel hat sich in Spandau so aufsätzig betragen, daß er nach dem Zuchthausreglement mit Rohrhieben hat gezüchtigt werden müssen? Es thut uns wirklich leid um den Mann.““ Ich nahm meine ganze Kraft zusammen. Meine Hände rieben sich wund und bluteten. Trotz der wüthendsten Schmerzen spulte ich fort. Meine Energie siegte. Als der Herr Director meine Arbeit am Ende der Woche nachsah, war er erstaunt über meine Leistung. Ich hatte, was wenigen Zuchthaussträflingen im Anfange gelingt, das volle Pensum fertig gebracht. Allmählich heilten die Wunden, und an die Stelle derselben bildete sich eine unempfindliche harte Hornhaut. Ich erlangte eine solche Fertigkeit im Spulen, daß ich mehr als das Pensum zu leisten vermochte. Dafür empfing ich reglementsmäßig eine kleine baare Vergütung, und mit dieser verschaffte ich mir wöchentlich einige Loth Butter, so daß ich an Sonntagen mein Brod nicht trocken zu essen brauchte.“
„Hatten Sie denn gar keine geistige Nahrung?“
„Außer der Bibel hatte ich kein Buch. Und bei dem gänzlichen Mangel geistiger Thätigkeit war die körperliche Arbeit eine wahre Barmherzigkeit. Ohne diese hätte mich die Isolirhaft zum Wahnsinn geführt.“
„Weg mit den traurigen Bildern der Vergangenheit!“ rief Schurz. „Wir wollen uns an die Gegenwart halten und der schönen Aussicht uns erfreuen, daß wir bald aus dem Bereiche unserer Feinde sein werden.“
„Du hast Recht,“ erwiderte Kinkel. „Ist mir doch seit Kurzem so viel Liebes widerfahren und eine solche Aufopferung entgegengetreten, daß vor solchem Glanze die düsteren Schatten vergangener Leiden verschwinden müssen. Dürfen wir nicht mit Vertrauen dem dereinstigen Siege unserer Sache entgegensehen, wenn die Aufopferungsfähigkeit unserer Partei in so hellem Glanze strahlt? Der Demokratie ein Hoch!“
„Die Demokratie soll leben!“ riefen wir begeistert und leerten unsere Gläser.
„Allens kloar, Harr Wiegerts,“ rief der Warnemünder Lootse, dessen Boot ich zu halb vier Uhr bestellt hatte, mit rauher Seemannsstimme in die geöffnete Thür hinein.
Wir brachen auf und stiegen in die an der „Wöhlert’schen Wäsche“ bereit liegende Jölle. Der Nordoststurm hatte noch nicht nachgelassen. Das Boot war mit starkem Ballast versehen. Nur ein Segel war beigesetzt und dies noch dazu eingerefft. Unser Lootse nahm die Schoten[3] in die Hand, um im Nothfalle das Segel fallen lassen zu können. „Ick will up de Schoten passen,“ sagte er zu mir, „und Se sünd wol so god und stiern (steuern) ’n bäten, Harr Wiegerts.“ –
„Ja, wenn Se nich vör mi bang sünd.“ –
„O wie führn jo hüt nich tom iersten Mal mitenander, Harr Wiegerts, ick wet jo, dat Se stiern könen.“ –
Ich setzte mich ans Steuerruder. Wir stießen ab, und vorwärts schoß das Boot wie ein Pfeil. Und als das Boot so dahin flog, mit seinem spitzen Vordertheil das Wasser schaumspritzend zertheilend, und sich dann und wann so auf die Seite legte, daß das Wasser über Bord lief, da hätte man glauben sollen, wir müßten uns in den Grund segeln. Aber die Warnemünder Jöllen liegen wie die Enten auf dem Wasser, ihr scharfer Kiel schützt sie vor dem Umfallen, und wenn nur gut aufgepaßt wird, so segelt man mit ihnen ohne Gefahr. Unsere beiden Freunde freuten sich des ungewohnten Schauspiels. Als wir auf den sogenannten Breitling kamen, wo der Wind so recht ansetzte und die Wellen über unser Boot hinüberschlugen, brachen sie in laute Rufe der Bewunderung aus. In weniger als einer halben Stunde waren wir fast eine Meile die Warnow hinaufgesegelt. Hinter dem Holze am rechten Warnowufer schwenke ich das Steuerruder rechts, und das Boot stieß ans Ufer. Wir stiegen ans Land. Ich drückte unserem Lootsen ein gutes Fährgeld in die Hand und sagte zu ihm:
„Wenn Se to Huus kamen und tofällig fragt werden söllen, wo Se uns henführt hadden, denn bruken Se se dat ja grar nich to seggen.“ –
„Sihr woll, Harr Wiegerts,“ erwiderte er und nickte bejahend, indem er die Hand an seinen „Südwester“ legte und damit Abschied nahm.
Wir gingen den am Holze sich hinziehenden Weg hinan und wandten uns nach dem auf der Anhöhe liegenden Dorfe Krummendorf, dem Stelldichein, welches ich mit Ernst Brockelmann verabredet hatte. Fast gleichzeitig mit uns traf dieser dort ein; er war seinem Wagen voraufgegangen. Brockelmann umarmte die beiden Flüchtlinge und drückte ihnen in herzlicher Weise seine Freude darüber aus, daß ihm ein Antheil an dem Gelingen ihrer Flucht reservirt sei. „Sie werden nun zu mir kommen und für eine kurze Zeit sich gefallen lassen müssen, meine Gäste zu sein,“ fuhr er fort. „In Rostock giebt es keinen Platz, wo Sie sicherer wären, als bei mir. Mein Haus hat Ausgänge und Schlupfwinkel die Menge, und es würde schon einer ansehnlichen Polizeimacht bedürfen, um Ihnen die Flucht von dort abzuschneiden. Ueberdies ist es nichts Ungewöhnliches, daß Fremde, mit denen ich in Geschäftsverbindungen stehe, bei mir logiren. Es hat daher Ihr Aufenthalt in meinem Hause nichts Auffälliges. Inzwischen werde ich die Vorbereitungen treffen, damit Sie baldmöglichst nach England kommen können. Haben Sie Vertrauen zu mir. Mit Gottes Hülfe wird Alles wohl gelingen.“
Der Wagen war inzwischen herangekommen. Die beiden Flüchtlinge stiegen mit Ernst Brockelmann hinein. Ich selbst zog es vor, mit N. zu Fuß nach der „Fähre“, einem am rechten Warnowufer der Stadt gegenüberliegenden Vergnügungsort, zu gehen und mich von dort mit einem Boot nach der Stadt übersetzen zu lassen. Um von Krummendorf zu Wagen nach Rostock zu gelangen, bedarf es eines längeren Weges, der nach der Petrivorstadt und über die Petri-Warnowbrücke in die Stadt führt. Auf diesem Wege gelangten die Freunde in die Stadt. Ernst Brockelmann fuhr mit den beiden Flüchtlingen nach seinem Hause, in welchem sie als zwei so eben mit dem Eisenbahnzuge angelangte fremde Kaufleute, mit Namen Kaiser und Hensel, vorgestellt wurden.
Johanna Kinkel, die hochherzige deutsche Frau, hat zuerst den Plan zur Flucht ihres Mannes gefaßt. Carl Schurz, mit der Kinkel’schen Familie eng befreundet und ein begeisterter Schüler und Verehrer Kinkel’s, sagte bereitwilligst seine Unterstützung zu. In der badischen Revolutionsarmee hatte er, ein Jüngling von 20 Jahren, als Officier und Adjutant im Stabe Tiedemann’s, des Commandanten von Rastadt, gedient, während sein Lehrer Kinkel, der damals 32 Jahre alt war, sich als Gemeiner hatte einrangiren lassen. Ungeachtet schon die Preußen in Rastadt eingezogen waren, hatte er doch durch die Flucht, deren Ausführung seiner Entschlossenheit und Klugheit ein glänzendes Zeugniß ausstellt, seinen Verfolgern sich zu entziehen und nach der Schweiz zu entkommen gewußt. Dies sichere Asyl verließ er, der steckbrieflich Verfolgte, um in Bonn, wo sein Vater Gastwirth war und wo Jedermann ihn kannte, mit Frau Kinkel das Nähere wegen der Flucht ihres Mannes zu verabreden. Der Dr. Falkenthal, später durch den „Berliner Hochverrathsproceß“, welcher ihm das Leben kostete, bekannt geworden, ward von ihr, nachdem er, wie der Staatsanwalt Nörner behauptet, im Juni 1850 von ihren Intentionen durch den Assessor Bergeroth unterrichtet und für den Plan gewonnen war, brieflich ersucht, die Zelle ihres Mannes nach einer gelieferten Beschreibung zu ermitteln. Derselbe entsprach diesem Wunsche, begab sich zu diesem Behufe nach Spandau, erforschte die Zelle und theilte das Resultat seiner Forschungen an Frau Kinkel mit. Nachdem Carl Schurz im Juli 1850 der politischen Versammlung in Braunschweig, wo ich seine Bekanntschaft gemacht, beigewohnt und sogar an der Debatte sich betheiligt hatte, ging er nach Bonn zurück. Demnächst machte er sich auf den Weg nach Berlin, um persönlich bei der Befreiung mitzuwirken, weil, wie er nach Aussage des Staatsanwalts Nörner einem Freunde mitgetheilt hat, die bisher mit der Ausführung derselben betrauten Personen kein hinreichendes Geschick und keine hinreichende Thatkraft besäßen, und traf dort am 11. August ein. Er nahm seine Wohnung in der Markgrafenstraße Nro. 26 bei Rhodes und Müller. Gleich am anderen Tage verletzte er sich beim Baden die linke Hüfte so erheblich, daß er durch drei Herren in seine Wohnung geschafft werden mußte. Hier wurde er zuerst von dem Dr. Lapierre und später von dem Dr. Tendering, seinem Universitätsfreunde, behandelt. Dieser Unglücksfall unterbrach nicht allein die Ausführung seines Planes, sondern setzte ihn auch der Gefahr der Entdeckung aus. Schurz war aber nicht der Mann [123] dazu, um sich durch solchen unglücklichen Zufall entmuthigen zu lassen. Er genas bald wieder und begann nun um so energischer die Vorbereitungen zu seinem Unternehmen.
Als Schurz eines Tages auf der Straße ging, begegnete er einem alten Universitätsfreunde. Er suchte ihm auszuweichen. Dieser aber erkannte ihn und redete ihn, indem er ihm in neckischer Weise mit dem Finger drohte, mit den Worten an: „Ich weiß schon, warum Du hier bist!“ Schurz erschrak, aber er blieb unbefangen. Dieser Vorfall bestimmte ihn, sich seinen alten Universitätsfreunden aus Bonn, welche in größerer Zahl in Berlin studirten, offen zu nähern, weil er mit Recht dadurch um so mehr auf ihre Discretion rechnen zu können glaubte. Er präsentirte sich ihnen im Kaffeehause von Pietsch in der Leipziger Straße, wo sie vielfach verkehrten, und ward von ihnen jubelnd begrüßt. In Gesellschaft seiner Freunde führte er seinen wahren Namen, Fremden gegenüber nannte er sich Jüssen. Am 10. September verließ er aus Besorgniß, von der Polizei entdeckt zu werden, seine Wohnung, reiste nach Hamburg, kehrte von dort nach 14 Tagen wieder zurück und nahm dann seine Wohnung bis zur Flucht Kinkel’s bei dem Dr. Falkenthal in Moabit.
Fast drei Monate verweilte Schurz in Berlin, unbelästigt von der sonst so scharfsichtigen Berliner Polizei. Um die für die Flucht nothwendigen Geldmittel aufzubringen, konnte der Kreis der in das Geheimniß Eingeweihten nicht auf Wenige beschränkt bleiben. Hervorragende Mitglieder der demokratischen Partei waren von dem Vorhaben in Kenntniß gesetzt, und diese konnten wiederum nicht umhin, denjenigen ihrer Gesinnungsgenossen, deren pecuniären Beistand sie in Anspruch nahmen, allgemeine Mittheilungen über das, was im Werke war, zu machen. Allerdings waren es nur Wenige, welche den Fluchtplan in seinen Einzelnheiten entwarfen und kannten. Aber um die beabsichtigte Flucht Kinkel’s wußten Viele. Schon die Zahl derjenigen, von denen einzelne directe Hülfsleistungen in Anspruch genommen wurden, war nicht unbedeutend. Auch in Mecklenburg hatte man dazu verschiedene Persönlichkeiten gewonnen; man bedurfte ihrer, um die Relais bereit zu halten. Es freuet mich, es hier aussprechen zu können, daß alle diejenigen Mecklenburger, an die man sich von Berlin aus gewandt hat, bereitwilligst der an sie gerichteten Aufforderung entsprochen haben und zur bestimmten Zeit und am bestimmten Ort mit den Relais zur Hand gewesen sind. Der Zufall hat es gewollt, daß von den Relais kein Gebrauch gemacht werden konnte. Aber der gute Wille war da. Diejenigen unter ihnen, welche der demokratischen Partei angehörten, bedürfen keiner Anerkennung, denn sie thaten nur ihre Pflicht, indem sie zur Rettung ihres Gesinnungsgenossen, eines der hervorragendsten Führer der demokratischen Partei in Preußen, in der Stunde der Noth herbeieilten. Aber die gerechte Anerkennung darf demjenigen unter ihnen nicht versagt werden, welcher, der entgegengesetzten Partei angehörend, dennoch nicht zögerte, sich der Gefahr auszusetzen, als es galt, nicht dem politischen Gegner, wohl aber dem Menschen die rettende Hand zu reichen. Viel größer als die Zahl derjenigen, welche bei der Flucht direct thätig sein sollten, war die Zahl derjenigen, deren Geldmittel in Anspruch genommen wurden. Dessenungeachtet wurde das Geheimniß strenge bewahrt. Wenn Viele um ein Geheimniß wissen, so kommen sonst leicht unbestimmte Gerüchte in’s Publicum. In diesem Falle verlautbarte nichts. Die Polizei hatte nicht die geringste Ahnung von dem, was sich ereignen sollte, keine Warnung drang zu ihr. Man hat später viel von einer Begünstigung der Flucht von oben gefabelt. Die Reaction hat das Ihrige dazu beigetragen, solchen Fabeln Vorschub zu leisten. Als das Opfer ihren Händen entschlüpft war, da verbarg sie, um sich in der öffentlichen Meinung zu rehabilitiren, ihre Ohnmacht unter der Maske der Großmuth. Die Reaction war nicht großmüthig – wann ist sie es jemals gewesen? – aber die Polizeispione waren einem Kinkel gegenüber machtlos. Auf alle Fälle war es aber zweckmäßig eingerichtet, daß um den Fluchtplan selbst nur sehr wenige zuverlässige Personen wußten, so daß auch wenn die Polizei Wind von dem Unternehmen bekommen hätte, die Fäden zu demselben sehr schwer hätten aufgefunden werden können.
Die nöthigen Geldmittel wurden von der demokratischen Partei in Preußen, namentlich in Berlin und Stettin, aufgebracht. Ein bedeutender Beitrag kam von einer Seite, von welcher man es am wenigsten erwartet hätte. Die russische Baronesse Brüning, geb. Fürstin Lieven, gab zu dem Befreiungsversuch in hochherziger Weise die Summe von 2000 Thaler. Sie war bereits im Mai um dieselbe Zeit, wo Kinkel von Naugard nach Spandau transportirt wurde, in Berlin eingetroffen, um durch Verwendung bei den dortigen Behörden seine Lage zu verbessern. Im Juni kehrte sie nach kurzer Abwesenheit nach Berlin zurück und wohnte dort bis etwa Mitte Juli im Hotel de Rome. Die preußische Polizei hatte einige Zeit nach der Befreiung Kinkel’s Kunde von der Betheiligung der Fürstin am Unternehmen bekommen, und ließ in Hamburg, wo sie sich gerade mit ihrem Gemahl aufhielt, nach vorgenommener Haussuchung, bei welcher sich compromittirende Briefe fanden, ihre Sachen mit Beschlag belegen. Der Verhaftung entzog sie sich durch die Flucht nach England. Auch bedeutende Geldsummen und Werthpapiere wurden von der Polizei in Beschlag genommen. Diese aber mußten dem Baron Brüning, der sie als die seinigen reclamirte und von der Betheiligung der Frau an der Kinkel’schen Flucht keine Ahnung hatte, zurückgegeben werden. Einige Jahre später ist die Baronesse Brüning in London gestorben. Die Erinnerung an ihre That wird ihr die letzten Stunden leicht gemacht haben.
Nachdem Carl Schurz wieder hergestellt war, begab er sich fast jeden Abend zwischen 5 und 6 Uhr nach Spandau. Er wählte regelmäßig den auf dem rechten Spreeufer von Moabit nach Charlottenburg führenden Weg und legte diesen zu Fuß entweder allein oder in Gesellschaft Falkenthal’s oder eines anderen Freundes zurück. Von Charlottenburg fuhr er dann in einem einspännigen Wagen, welcher stets dem Schlosse gegenüber vor dem Kaffeehause von Morelli hielt, nach Spandau. Hier kehrte er bei dem Gastwirth Krüger ein und blieb, wenn er sich verspätet hatte, bei demselben die Nacht. Durch Falkenthal’s Vermittelung machte er die Bekanntschaft verschiedener in Spandau wohnender Personen, welche seinen Zwecken dienen konnten. Sie wurden in’s Geheimniß gezogen und sagten ihre Unterstützung zu. Schurz wagte sich auch in das Zuchthaus selbst. Falkenthal führte ihn darin umher und zeigte ihm die Zelle Kinkel’s.
Die Strafanstalt Spandau liegt innerhalb der Stadt. Sie bildet ein an vier Straßen grenzendes längliches Viereck und besteht aus zwei Abtheilungen, welche durch einen Querflügel getrennt sind. Sie hat zwei Eingänge von der Potsdamer Straße aus. Der eine, der Haupteingang, führt nach dem kleinen Hofe, der andere in die Dienstwohnung des Zuchthausdirectors Jeserich. Dem Haupteingange gegenüber führt eine steinerne Treppe in zwei Absätzen nach dem zweiten Stock hinauf. Die Zelle, welche sich auf dem zweiten Treppenabsatze unmittelbar links befindet, war Kinkel’s Isolirzelle. Diese erstreckt sich quer durch den Flügel von der Jüdenstraße nach dem Hofe und hat sowohl nach der Jüdenstraße als nach dem Hofe zu ein mit Eisenstäben versehenes Fenster. Das nach der Jüdenstraße führende Fenster ist von außen mit einem Blechkasten verwahrt, außerdem mit einem engen Drahtgitter und innerhalb mit einer aus zwei Flügeln bestehenden hölzernen Lade versehen, welche des Nachts mittelst eines Schlüssels verschlossen wird. Die Zelle selbst ist durch ein von der Decke bis zum Fußboden gehendes, aus starken, zwei Zoll von einander stehenden hölzernen Latten und hölzernen Querriegeln bestehendes Gitter in zwei Abtheilungen getrennt. Das Gitter hat eine ebenfalls aus Latten und Querleisten bestehende Thüre, welche nach der nach dem Hofe gerichteten Seite mit einem starken Schlosse versehen ist und während der Nacht verschlossen ward. Die Zelle hat nur den einen eben erwähnten Eingang von der Treppenflur aus und wird durch zwei mittelst verschiedener Schlösser verschließbare Thüren von starkem Holz verschlossen.
Nur zwei Wege gab es, Kinkel aus seinem wohlverwahrten Gefängniß zu befreien, entweder durch offene Gewalt oder heimlich durch List. Der erste Weg blieb außer aller Frage. Der zweite Weg war daher der einzige, welcher zum Ziele führen konnte. Er erforderte aber die Hülfe eines der Aufseher, welche Kinkel zu bewachen hatten. Die wichtigste und zugleich schwierigste Aufgabe war es, eine solche Hülfe zu gewinnen. Wie dies ohne Gefahr bewerkstelligen? Ein verfehlter Versuch konnte für immer die Sache zum Scheitern bringen. Die Vorsichtsmaßregeln wären verdoppelt und Kinkel wahrscheinlich in Ketten geschlagen worden, wenn die Behörde Kenntniß von dem Fluchtplan erhalten hätte. Man mußte also mit der äußersten Vorsicht zu Werke gehen. Es galt, einen der Aufseher zuvor für kleinere Dienstleistungen zu gewinnen, ehe man sich ihm [124] ganz anvertraute. Hatte er sich erst in strafbarer Weise compromittirt, so war die Gefahr des Verraths von seiner Seite, wenn man sich ihm schließlich entdeckte, auf das geringste Maß zurückgeführt. Der Verrath hätte die eigene Bestrafung des Verräthers zur Folge gehabt. Es gelang Schurz, den Gefangenwärter Brune, mit dem er zuerst Mitte October in der Nähe des Krüger’schen Hauses, später verschiedene Male auf dem Heinrichsplatze zusammentraf, zur Bestellung von Grüßen und später auch zur Ueberbringung von kleinen beschriebenen Zetteln und von Briefen zu bewegen. Schurz hatte sich die Zuneigung Brune’s gleich anfangs dadurch zu verschaffen gewußt, daß er sich ihm als speciellen Landsmann zu erkennen gab. Ersterer war nämlich aus Lieblar gebürtig, letzterer aus Sassendorf im Kreise Soest. Briefe Johanna Kinkel’s an ihren Mann und umgekehrt wurden demnächst durch Brune befördert. Dieselbe stand aber auch auf officiellem Wege mit Kinkel in Correspondenz. Diese ward freilich durch den Zuchthausdirector Jeserich beaufsichtigt, der die Briefe der Ehegatten persönlich auf’s Strengste controlirte. Dessenungeachtet enthielten dieselben manche werthvolle Mittheilungen, welche dem scharfen Auge des Herrn Directors entgingen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie erfinderisch die Noth macht. Der Criminaldirector Bolte in Bützow, der sich einen scharfen polizeilichen Spürsinn zuzutrauen schien, wird bis auf den heutigen Tag nicht wissen, wie manche Briefe von verfänglichem Inhalt, welche ich schrieb oder empfing, durch ihn selbst befördert sind. Ich erinnere mich z. B., daß er persönlich mir den Brief brachte, in welchem mir, was damals noch ein strenges Geheimniß für mich sein sollte, die Verhaftung meines Bruders mit deutlichen, dem Criminaldirector freilich unverständlichen Worten mitgetheilt ward.
Nachdem in der angegebenen Weise der mündliche und schriftliche Verkehr zwischen Kinkel und der Außenwelt hergestellt war, konnte es nicht schwer fallen, mit demselben den Fluchtplan zu verabreden. Als dies geschehen war, blieb noch übrig, den Gefangenwärter Brune für den letzten entscheidenden Schritt zu gewinnen. Man konnte sich ihm jetzt ohne Gefahr anvertrauen. Er sicherte seine Unterstützung zu und hat sein Manneswort treu gehalten. Brune selbst legte später, als ihm der Proceß gemacht ward, das Geständniß ab, daß ein ihm unbekannter junger Mann – Carl Schurz –, der Rathsherr und Gastwirth Krüger in Spandau und ein oder mehrere ihm unbekannte Männer ihn zu dem Verbrechen verleitet hätten und daß ihm für die Ausführung desselben eine Belohnung von 400 Thalern versprochen und ausgezahlt sei. Aber noch im Laufe der Voruntersuchung nahm er die Angabe wider den Rathsherrn Krüger zurück, stellte in Abrede, daß er durch Bestechung gewonnen sei, und behauptete, daß er nur aus Mitleid mit Kinkel’s Familie die Befreiung unternommen habe. Die Geschworenen haben es verneint, daß Brune die ihm nach seiner anfänglichen, später widerrufenen Angabe versprochene Belohnung von 400 Thalern vorher wirklich erhalten habe. Einerlei, ob Brune die Belohnung erhalten, einerlei, wie groß dieselbe gewesen, gewiß ist, daß ihn nicht der in Aussicht gestellte Gewinn zu seiner That verleitet haben kann. Denn die Summe war jedenfalls kaum ein Aequivalent für das, was er aufgab. Seine Entdeckung war fast mathematisch gewiß und die Entsetzung von seiner Stelle die nothwendige Folge. Carl Schurz machte ihm das Anerbieten, mit ihm und Kinkel nach England oder Amerika zu entfliehen, wo man ihm und seiner Familie eine sorgenfreie Existenz bereiten wolle. Brune schlug dies aus. Wenn er auch sich selbst einem Andern zum Opfer bringen wollte, so durfte er doch seine Familie nicht dem Elende preisgeben. Darum wirft die etwa angenommene Belohnung keinen Schatten auf seine That. Das Gericht mußte ihn verurtheilen, der strenge Moralist wird die That als einen Amtstreubruch verdammen. Aber es giebt Handlungen, welche nicht vom bloßen Standpunkte des positiven Criminalrechts beurtheilt und nicht mit dem gewöhnlichen Maßstabe der Sittenkritik gemessen sein wollen. Brune ist einem höheren Pflichtgefühl gefolgt. Die hohe Geistes- und Gemüthsbildung Kinkel’s mußte in seiner Züchtlingskleidung und seiner jammervollen Lage einen um so mächtigeren Eindruck auf seine Umgebung, die gewohnt war, fast nur mit dem Auswurf der Menschheit zu verkehren, hervorrufen. Ein solcher Mann konnte Brune nicht als ein Verbrecher erscheinen, sondern nur als ein ungerecht Verfolgter, der aller Wahrscheinlichkeit nach in wenigen Jahren den Leiden der Haft erlegen sein würde, wenn nicht rechtzeitige Hülfe kam. Von ihm hing es ab, dem Jammer und Elende, das er täglich vor sich hatte, ein Ende zu machen, einen lebendig Begrabenen zu erlösen, den Gatten der Gattin, den Kindern den Vater, den Freunden den Freund zurückzugeben und unzählige Thränen zu trocknen. Alles dies bestimmte seine Handlungsweise. Die Liebe zu den Menschen stand ihm höher als seine Amtspflicht. Er wußte, daß er, ein unbedeutender geringer Mann in seiner socialen Stellung, den Zorn der Mächtigen auf sich laden würde, daß ihm eine langjährige harte Freiheitsstrafe in Aussicht stände. Dennoch wollte er nicht mit entfliehen, er wollte die Folgen der Verantwortlichkeit für seine That auf sich nehmen. Er opferte sich selbst, um einen Anderen zu retten. Ich habe nur Worte der hochachtenden Bewunderung für diesen Mann. Das deutsche Volk wird ihn in Ehren halten: er hat dem Vaterlande einen seiner besten Söhne und Patrioten und der deutschen Wissenschaft und Kunst einen ihrer würdigsten und begabtesten Jünger erhalten.
[134] Alle Vorbereitungsmaßregeln zur Flucht waren getroffen. Der noch fehlende Nachschlüssel zu der Stube für die Inspectoren der Anstalt, der sogenanten Revierstube, in welcher die Schlüssel zu der Zelle Kinkel’s sich befanden, war glücklich herbeigeschafft. Man hatte von dem Schlüssel zu jener Sube, der am Tage im Schlosse steckte, einen Abdruck in Thon gemacht und danach einen Schlüssel anfertigen lassen. Ein zweiter Gefangenwärter, nach der Anklageacte des Oberstaatsanwalts der Aufseher Beyer, war gewonnen und hatte sich bereit erklärt, Kinkel durch das Thor der Anstalt herauszulassen, sobald er den Nachtpförtnerdienst hätte. Die Stunde der Entscheidung nahte.
In der Nacht vom 5. auf den 6. November 1850 sollte Beyer die Nachtwache am Thore haben. Kinkel ward benachrichtigt, daß er sich am Abende zwischen 8 und 9 Uhr bereit halten möge. Beyer hatte wirklich den Nachtpförtnerdienst an jenem Abend, Brune die Nachtwache im Corridor. Die Freunde waren den empfangenen Ordres gemäß auf ihren Posten. Carl Schurz war am Thore der Anstalt zum Empfange Kinkel’s bereit. Der Gutsbesitzer X. hielt mit seinem Wagen in der Nähe des Zuchthauses. Relais waren in Entfernungen von einigen Meilen bis nach Teterow in Mecklenburg-Schwerin aufgestellt. Die auf den verschiedenen Stationen wartenden Freunde hatten die Ordre, so lange zu warten, bis der Wagen mit den Flüchtlingen ankäme, um sie dann bei sich aufzunehmen und in Carrière bis zum nächsten Posten weiter zu befördern. Um Mißverständnisse zu vermeiden, waren bestimmte Erkennungszeichen, welche im Dunkel der Nacht mit Feuerstein und Stahl gegeben werden sollten, verabredet. Alles war so wohl vorbereitet, daß man den glücklichen Erfolg nicht bezweifelte.
Aber vergebens wartete Kinkel auf seine Erlösung.
„O, es war eine furchtbare Nacht, die ich erlebte,“ äußerte er zu mir, bei Erzählung seiner Flucht, „ich schaudere, wenn ich an sie zurückdenke, die Erinnerung daran wird mich noch auf meinem Todbette verfolgen. Als meine Zelle am Abend 7 Uhr vorschriftsmäßig visitirt und verschlossen war, erhob ich mich wieder von meinem Lager und zog mich an. Um mich herrschte tiefe Dunkelheit; bei der Visitation war mir wie gewöhnlich die Lampe weggenommen worden. Von 8 Uhr an horchte ich, mit dem Ohr an die hölzerne Gitterthüre meiner Zelle gelehnt, mit athemloser Spannung auf Alles, was draußen vorging. Der Gehörssinn schärft sich im Isolirgefängnisse, nichts entging meinem Ohr, in dem sich alle Sinne concentrirt zu haben schienen. Jeder Laut, jedes Geräusch, jeder Schritt, jeder Tritt verkündigte mir den Befreier. Ich war so sicher, daß er kommen müßte. Aber die Stunden schwanden bleiern dahin, und unzählig waren die getäuschten Hoffnungen. Ich hatte die Uhr 11 schlagen hören und immer noch lauschte ich an meiner Gitterthür. Mein Blut war in fieberhafter Wallung, mein Kopf glühte, der Angstschweiß perlte von meiner Stirne, meine Adern waren zum Zerspringen angeschwollen und alle meine Nerven bis zur höchsten Höhe angespannt. Ich hörte es noch 12 schlagen. Da durchzuckte mich der Gedanke an Verrath. Ich verlor die Hoffnung, und der Wahnsinn packte mich. „Lebenslänglich begraben!“ schrie ich wiederholt. „Begraben!“ echote ein Chor von teuflischen Dämonen mit höllischem Hohnlachen. Ich brach endlich zusammen und fiel bewußtlos auf die harte Diele meiner Zelle. Als ich am andern Morgen früh erwachte, fühlte ich mich an allen Gliedern wie gerädert und schüttelte vor Frost, mühsam schleppte ich mich auf mein Strohlager.“
Der Zufall hatte sein unglückliches Spiel getrieben. Brune öffnete zur verabredeten Zeit die Revierstube mit dem Nachschlüssel, begab sich nach der dort befindlichen Spinde, in welcher die Schlüssel zu den Zellen aufbewahrt wurden, nahm den auf der Spinde liegenden Schlüssel zu derselben, schloß die Spinde damit auf und suchte die Schlüssel zu der Kinkel’schen Zelle. Aber er suchte vergeblich. Der Polizeiinspector Semmler hatte zufällig gerade an diesem Abend die Schlüssel zu dieser Zelle mit nach Hause genommen.
Brune setzte Beyer und dieser den draußen wartenden Carl Schurz von dem unglücklichen Zufall in Kenntniß. Es ward noch versucht, den Aufseher Michaelis, der in der folgenden Nacht den Pförtnerdienst hatte, zu gewinnen. Jedoch ohne Erfolg. Deshalb beschloß man, die Flucht auf vier Wochen, wo Beyer wieder den Nachtpförtnerdienst haben würde, zu verschieben.
Aber als man am andern Morgen die Chancen näher erwog, kam man zu einem andern Resultat. Ein Aufschub bot allerdings große Vortheile. Kinkel konnte, wenn Beyer wieder die Nachtwache am Thore hatte, ungehindert und ohne Gefahr durch dasselbe hindurch auf die Straße passiren. Die Relais, welche voraussichtlich nach vergeblichem Warten bis Tagesanbruch der empfangenen Instruction gemäß davon gefahren waren, konnten bei einem längeren Aufschub wieder zur Stelle sein. Dagegen hatte eine Verzögerung die große Gefahr, daß von dem Plane etwas ruchbar werden würde. Bei der Menge von Personen, welche in das Geheimniß gezogen wurden, konnte innerhalb vier Wochen sehr leicht ein unbestimmtes Gerücht von der beabsichtigten Flucht aufkommen. Ein solches war begreiflich schon sehr gefährlich. In diesem Falle würde man die Sicherheitsmaßregeln verstärkt oder die Versetzung Kinkel’s nach einem anderen Zuchthause vorgenommen haben. Es konnte auch der schlimmste Fall eintreten, daß das Vorhaben verrathen werden würde. Wollte man aber auch dies Alles nicht als wahrscheinlich annehmen, wer bürgte dafür, daß um vier Wochen nicht wiederum derselbe oder ein anderer unglücklicher Zufall eintreten würde? Man beschloß daher, die Flucht sobald irgend möglich zu bewerkstelligen.
Am Mittage hatte Carl Schurz eine Zusammenkunft mit Brune.
„Können Sie ohne weitere Mithülfe Kinkel aus dem Zuchthause befördern?“ fragte er Brune.
„Ja, wenn Kinkel Muth hat!“
„Wie?“
„Durch’s Dachfenster und von da mittelst eines Taues auf die Potsdamerstraße.“
„Wann?“
„Wenn’s sein muß, diese Nacht.“
„Sind Sie bereit dazu?“
„Ja.“
„Nun wohl, diese Nacht.“
Die weiteren Arrangements wurden getroffen. Kinkel hatte Muth. Jeder Weg, der aus der Schreckensanstalt führte, war ihm recht. Zwischen 11 und 12 Uhr sollte das Werk beginnen.
Am Mittwoch, den 6. November 1850, Abends, wurde Kinkel, [135] wie früher stets, durch den Oberaufseher Zerbst in seiner Zelle eingeschlossen, und zwar in der nach der Jüdenstraße belegenen zweiten Abtheilung der Zelle, in welcher sich seine Schlafstätte befand. Die hölzerne Lade am Fenster nach der Jüdenstraße, die hölzerne Gitterthüre, die beiden Eingangsthüren zu der Zelle wurden von ihm vorschriftsmäßig verschlossen. Die in zwei Exemplaren vorhandenen Schlüssel lieferte der Oberaufseher Zerbst der erhaltenen Anweisung gemäß ab, das eine Exemplar an den Director Jeserich, welcher es während der Nachtzeit in seiner Stube verwahrte, das andere Exemplar an den diensthabenden Polizeiinspector Schäffer, welcher es in die in der Revierstube stehende Spinde verschloß, den Spindeschlüssel auf die Spinde legte, demnächst auch die Revierstube verschloß und den Schlüssel zur Revierstube an den Portier Marquardt abgab. Die Beamten hatten pünktlich ihre Pflicht erfüllt.
An dem nämlichen 6. November Abends saß ein großer Theil der Beamten der Anstalt in fröhlichster Stimmung und nichts Arges ahnend im Krüger’schen Gasthause bei einer Bowle Punsch, mit welcher der Geburtstag eines der Anwesenden gefeiert ward. Ein Witz jagte den anderen, und die Unterhaltung war so interessant und so belebt, daß sie sich erst lange nach Mitternacht von der Gesellschaft zu trennen vermochten.
Am dem nämlichen 6. November Nachts 11½ Uhr öffnete der Gefangenwärter Brune, der wiedernm, wie am Abende vorher, die Nachtwache im Corridor hatte, mit dem Nachschlüssel die wohlverschlossene Revierstube, holte den auf die Spinde gelegten Schlüssel zu derselben herunter, schloß damit die Spinde auf, nahm die von dem diensthabenden Polizeiinspector Schäffer einige Stunden vorher hineingelegten, an einem Ringe befindlichen drei Schlüssel zur Kinkel’schen Zelle aus der Spinde und schloß die Revierstube vorsichtig wieder zu.
Zu derselben Zeit war ungeheuere Heiterkeit im Krüger’schen Gasthause; einer der Theilnehmer an der Bowle hatte einen Berliner Witz zum Besten gegeben.
Der Gefangenwärter Brune ging mit seinen Schlüsseln zu der Zelle Kinkel’s und schloß mit dem einen Schlüssel die erste Eingangsthür zu derselben, mit dem andern die zweite Eingangsthür auf.
Ein Hoch auf das Geburtstagskind im Krüger’schen Gasthause!
Auch im Zuchthause zu Spandau sollte Jemand zu neuem Leben erwachen. Von draußen fiel ein schwacher Lichtstrahl in die Zelle Kinkel’s, und dieser stand hinter dem hölzernen Gitter in der zweiten Abtheilung seiner Zelle, sehnsüchtig und voll Todesangst seiner Befreiung aus schauerlicher Einsamhaft entgegensehend. Der Gefangenwärter Brune erschien ihm wie ein rettender Engel. Wie lange schon hatte er in qualvoller Ungewißheit, wie ein Verurtheilter, welcher auf dem Schaffot nur noch die Hoffnung auf Gnade hat, auf ihn gewartet! Nur noch ein Hinderniß, das hölzerne Gitter, sperrte den Ausgang aus der Zelle.
„So, Herr Professor, nun ist es Zeit, nun treten Sie heraus,“ sagte Brune zu Kinkel, indem er mit dem dritten Schlüssel die hölzerne Gitterthür zu öffnen versuchte.
Aber es war noch nicht Zeit. Brune versuchte vergebens, mit dem dritten Schlüssel die Gitterthür aufzuschließen.
„Können Sie nicht öffnen?“ fragte Kinkel unruhig.
„Verdammt! Der Schlüssel paßt nicht,“ erwiderte Brune erschrocken. „Sie werden absichtlich einen verkehrten Schlüssel an dem Ringe befestigt haben, um für den äußersten Fall die Aufschließung der Gitterthür zu verhindern. Was nun?“
Er hatte zu fein gerechnet und die Schlauheit der Inspection zu hoch taxirt. Der kleine Schlüssel, mit welchem Brune die Gitterthür öffnen wollte, gehörte zu der hölzernen Lade an dem nach der Jüdenstraße belegenen Fenster. Bei kaltem Blute und ruhiger Ueberlegung würde er wenigstens versucht haben, das Schloß der Gitterthür mit einem der Schlüssel zu den Eingangsthüren zu öffnen. Der Schlüssel zu der äußern Eingangsthür schloß in der That auch die Gitterthür. Unglücklicher Weise verfiel darauf weder Brune noch Kinkel.
Beide standen sprach- und rathlos sich gegenüber. Kinkel hielt die starken hölzernen Latten krampfhaft umfaßt. Es war ein verzweiflungsvoller Augenblick. Ein paar armselige Latten von Holz widersetzten sich erfolgreich der Flucht und sperrten die Spanne Weges vom Tode zum Leben. Der rechte Schlüssel war in ihrer Hand, aber sie wußten es nicht. An wie schwachen Fäden hängt oft Glück und Unglück der Menschen!
Aber nur wenige Augenblicke dauerte ihre Unschlüssigkeit, sie war nur der Anlauf zu verdoppelter Energie. Kinkel kämpfte ja für sein Leben, und Brune war zu dem Aeußersten entschlossen, um sein Wort zu lösen.
Brune zog seinen Säbel und versuchte auf alle mögliche Weise, den starken Riegel des Schlosses zurückzuschieben oder das Schloß selbst abzubrechen. Kinkel bemühte sich gleichzeitig mit einem kleinen Messer, welches er im Besitz hatte, die nächste Latte neben der Thüre links vom Eingange aus zu durchschneiden. Nachdem er aber die Fruchtlosigkeit seines Beginnens eingesehen hatte, drängte und stieß er gegen die untere Querleiste des Gitters, um deren äußere Bekleidung zu lösen.
Fast eine Viertelstunde erschöpften sie sich vergeblich in diesen Anstrengungen. Das Schloß und das Gitter waren zu stark für ihre Kräfte.
Da ging Brune, sich zu einem verzweiflungsvollen Entschlusse ermannend, aus der Zelle.
Während seiner Abwesenheit rüttelte Kinkel mit der äußersten Kraft an dem Gitter, wie der wutherregte Löwe, der die Eisenstäbe seines Käfigs zu zerbrechen versucht. Alles vergebens.
Nach kurzer Zeit sah er Brune mit einer Axt zurückkehren. Der Augenblick war gekommen, wo um Freiheit und Leben va banque gespielt werden mußte.
Brune schwang die Art hoch empor und führte mit aller Kraft verschiedene Schläge gegen das Gitter. Das ganze Gewölbe erdröhnte. Die Gefangenen in den Zellen erwachten. Erwachte auch der Director Jeserich? Er schlummerte sorglos weiter, hatte er ja doch das zweite Exemplar der Schlüssel zur Kinkel’schen Zelle unter seinem Kopfkissen verborgen.
Im Krüger’schen Gasthofe ertönte ein lustiger Rundgesang.
Kinkel und Brune lauschten athemlos, ob Jemand sich nähere. Alles still. Durch die furchtbaren Axtschläge hatte sich die Leiste am Fußboden und der untere Querriegel von den beiden Latten neben der Thüre links vollständig gelöst. Mit der Riesenkraft, welche die Verzweiflung verleiht, stemmte nun Kinkel sich gegen die beiden Latten, und es gelang ihm, dieselben von innen heraus loszubrechen. An dem oberen Querriegel war die eine Latte dergestalt eingebrochen, daß man ihr unteres Ende mit der Hand über einen Fuß weit von der Leiste am Fußboden losbiegen konnte. Die Latte daneben war gleichfalls von dieser Leiste und von dem unteren Querriegel gelöst, ließ sich aber sehr wenig zurückbiegen, weil sie an dem oberen Querriegel nicht eingebrochen war. Durch das Zurückbiegen der beiden Latten entstand unter dem unteren Querriegel ein offener Raum, durch welchen sich ein nicht zu starker Mann durchzwängen konnte.
Schon seit längerer Zeit hatte Kinkel in prophetischer Voraussicht der kommenden Dinge an seiner Gitterthüre gymnastische Uebungen zu dem Zwecke angestellt, um seinen großen breitschultrigen Körper durch eine möglichst enge Oeffnung hindurchzubringen. Diese kamen ihm jetzt trefflich zu statten. Mit Hülfe Brune’s gelang es ihm, sich durch den erwähnten offenen Raum glücklich hindurchzuzwängen. Das letzte Hinderniß, welches ihm den Ausgang aus der Zelle verwehrte, war damit beseitigt.
Beide verließen darauf die Zelle, deren äußere Eingangsthür Brune wieder verschloß. Sie stiegen leise die Treppe hinunter auf den Hof und durch die nächste Hofthür links wieder in das zweite Stockwerk hinauf. Hierauf gingen sie durch die Säle und Gänge, zu welchen Brune als Nachtaufseher den Schlüssel hatte, immer im zweiten Stockwerke, und kamen endlich in die Wollkämmerei, welche ungefähr gerade unter jenem nach der Potsdamer Straße führenden Dachfenster lag, durch welches die Flucht bewerkstelligt werden sollte.
In der Wollkämmerei warteten sie, bis der bei jenem Fenster postirte Nachtaufseher Knöfel sich nach dem zweiten Hofe begeben würde, wie er dies jeden Abend um diese Zeit zu thun gewohnt war. Alle glücklich beseitigten Gefahren waren umsonst, wenn ihre Berechnung fehlschlug und der nicht in’s Geheimniß gezogene Knöfel in dieser Nacht von seiner Gewohnheit abwich. Aber nachdem sie etwa eine Viertelstunde in ängstlicher Spannung gewartet hatten, kam Knöfel wirklich die Treppe herunter. Sie schlichen darauf dieselbe Treppe hinauf, auf welcher jener herunter gegangen war, nach dem dritten Stockwerk, und gelangten zu dem Raum zwischen dem Dachfenster und den Schlafsälen.
Brune öffnete ein vor dem Dachfenster befindliches Lattengitter mittelst des dazu gehörigen Schlüssels. Darauf krochen Beide in [136] den Raum zwischen dem Dachfenster und dem Lattengitter und blickten bei schwachem Mondlicht in die schwindelerregende Tiefe. Unten in der Potsdamer Straße warteten Carl Schurz und Falkenthal, und der Gutsbesitzer X. hielt dort mit seinem Fuhrwerk, auf dem Bocke sitzend und die Zügel in der Hand haltend, um in jedem Augenblick davon jagen zu können.
Der Abrede gemäß warf Brune ein Stückchen Holz an einem langen Bindfaden auf die Straße, zog es, als er fühlte, daß unten etwas angebunden war, herauf und bekam nach etwa fünf Minuten ein etwa fingerstarkes Tau in die Hand, welches Beide sofort an einer Latte des dem Fenster gegenüberliegenden Gitters befestigten. Sodann stieg Kinkel mit einem Fuß auf die Latten und kroch mit dem Kopfe zuerst durch die Dachluke hinaus, um sich an dem Tau auf die Straße hinunterzulassen.
„Es war ein grausiger Anblick,“ erzählte mir später der Gutsbesitzer X., ein Anblick, welcher mir noch augenblicklich, wenn ich ihn mir in Erinnerung rufe, das Blut in den Adern erfrieren macht. Nachdem wir längere Zeit in ängstlicher Spannung das Dachfenster beobachtet hatten, ward der Bindfaden aus demselben heruntergelassen. Es war dies ein sicheres Zeichen, daß bis dahin Alles glücklich abgegangen war. Aber nun kam das gefährliche Experiment, von dem der Tod oder die Freiheit Kinkel’s abhing. Das eine Ende des Taues wurde von Schurz und Falkenthal an dem Bindfaden befestigt, und darauf ward es an letzterem in die Höhe gezogen. Nun mußte Kinkel jeden Augenblick aus dem Dachfenster hervorkommen. Unverwandten Blickes schauten wir hinauf. Endlich sahen wir den Kopf eines Menschen, der Körper folgte nach. Einen Augenblick später hing Kinkel dicht unter dem Dachfenster am Tau und fing an, sich herabzulassen. Aber gerade in diesem Moment entstand ein Geräusch in der benachbarten Straße. Ein jäher Schreck erfaßte mich, ich glaubte uns entdeckt. Auch Kinkel hatte das Geräusch gehört. Er hielt an. Ich sah ihn mit seiner im blassen, schwachen Mondlicht gespensterhaft erscheinenden langen Gestalt dort oben zwischen Himmel und Erde eine Zeitlang unbeweglich hängen, wie wenn er unschlüssig gewesen wäre, ob er wieder in die Höhe oder ob er herabklettern sollte. Der Schreck konnte ihm die Besinnung rauben, oder die Kraft konnte ihm versagen. Wäre er herabgefallen, so wäre er auf das Straßenpflaster gestürzt und unfehlbar auf der Stelle ein Mann des Todes gewesen. Aber das Geräusch ging glücklich vorüber, es schien durch einen zufällig vorüberfahrenden Wagen veranlaßt zu sein. Wenige Secunden später lag Kinkel in den Armen seines Freundes Carl Schurz.
In höchstens einer Minute nach dem Verschwinden Kinkel’s aus der Dachluke fühlte Brune, daß das Tau leicht wurde, und er band es los, worauf es sammt dem Bindfaden auf die Straße hinuntergezogen wurde. Dann entfernte er sich eiligst und begab sich wieder auf seinen Posten.
Im Krüger’schen Gasthofe war noch die lustige Punschgesellschaft versammelt. Die Mitternachtstunde hatte noch nicht geschlagen. Einer der Festgenossen – nach einem Schreiben des Staatsanwalts Nörner an das Bützower Criminalcollegium vom 21. Febr. 1855 war es der Gastwirth Krüger selbst – füllte einige Gläser, indem er zu den Gästen lächelnd sagte: „Sie erlauben wohl, meine Herren, es sind ein paar lustige Berliner Vögel da,“ und ging darauf mit den gefüllten Gläsern nach einem einfenstrigen Nebenzimmer. Kinkel hatte sich inzwischen mit Carl Schurz und Falkenthal in das Krüger’sche Gasthaus begeben, um sich dort umzukleiden. Er wechselte in dem Nebenzimmer, in welches Krüger mit den gefüllten Gläsern eintrat, die graue Züchtlingskleidung mit einem schwarzen Anzuge von Tuch. Den eleganten Pelzrock, welchen er überzog, hatte seine Frau ihm von Bonn geschickt, um sich desselben bei der Flucht zu bedienen. „Jetzt, Herr Professor,“ sagte Krüger zu Kinkel, indem er ihm eins der gefüllten Gläser präsentirte, „sollen Sie einmal mit Ihren Beamten, die da nebenan zechen, aus einer Bowle trinken.“ Dieser Scherz erweckte trotz der Gefahr des Augenblicks große Heiterkeit. Man stieß leise an auf Kinkel’s Wohl und den ferneren glücklichen Erfolg des Unternehmens. Kinkel und Schurz, begleitet von den Segenswünschen ihrer zurückbleibenden Freunde, begaben sich darauf zu dem in der Nähe befindlichen Wagen, auf welchem der Gutsbesitzer X. ihrer harrte, und stiegen hinein.
Sie fuhren in rasender Eile durch das Potsdamer Thor, welches dem Oranienburger Thor entgegengesetzt liegt. Als sie eine Zeit die Chaussee nach Nauen entlang, einem Städtchen an der Berlin-Hamburger Eisenbahn, gejagt waren, bogen sie rechts ab in einen Nebenweg. Dies Manoeuvre führte demnächst, wie beabsichtigt, ihre Verfolger irre. Als diese am andern Tage von den Thorwächtern erfuhren, daß in der Nacht durch das Oranienburger Thor Niemand, wohl aber, daß nach Mitternacht ein Wagen durch das Potsdamer Thor in sausendem Galopp gefahren sei, glaubten sie, daß die Flüchtlinge entweder nach Nauen oder auch nach Potsdam geflohen wären, und setzten ihnen in diesen Richtungen nach.
Der Gutsbesitzer X. hatte seine stärksten und schnellfüßigsten Pferde ausgewählt. Ueber Stock und Stein ftogen sie davon. Sie passirten Hohenfelde, Nieder-Neuendorf, Henningsdorf und erreichten beim Sandkruge die Berlin-Strelitzer Chaussée. Ohne Rast und Aufenthalt ging’s vorwärts über Oranienburg, Teschendorf, Löwenberg bis nach dem acht Meilen von Spandau entfernten Städtchen Gransee. Die Flüchtlinge wollten ohne Unterbrechung weiter, um die nur noch eine Meile entfernte Mecklenburg-Strelitzsche Grenze zu erreichen. Aber es ging nicht. Die armen ausgehungerten und abgejagten Pferde, denen der Schaum vor dem Maule stand und der Schweiß stromweis heruntertroff, hätten todt niederstürzen können, wenn man ihnen nicht eine kurze Erholung gegönnt hätte. Deshalb ward in Gransee stillgehalten und gefüttert, aber ohne auszuspannen. Nach einer halben Stunde erfolgte der Aufbruch. Die braven Thiere waren durch die kurze Ruhe und die erhaltene Nahrung neu gekräftigt. Wiederum gings en pleine chasse vorwärts, bis die Flüchtlinge die Strelitzsche Grenze bei Dannenwalde erreichten. Sie athmeten hoch auf, als sie das mecklenburgische Wappen erblickten. Die dringendste Gefahr war überstanden. In Dannenwalde machten sie kurze Rast. Der Gastwirth daselbst hat später gerichtlich ausgesagt, daß am 7. November Morgens 8 Uhr zwei Fremde in einer Chaise mit zwei dunklen abgetriebenen Pferden bei ihm angekommen wären. Ihr Kutscher (es war der Gutsbesitzer X.) hätte einen großen schwarzen Bart gehabt. Das eine Pferd sei so krank gewesen, daß derselbe es mit warmem Wasser gewaschen hätte. Es wäre ihm aufgefallen, daß die Fremden mit ihrem Kutscher wie mit ihres Gleichen verkehrt hätten. Von Dannenwalde fuhren die Flüchtlinge in langsamerem Tempo nach der Strelitzschen Stadt Fürstenberg, wo sie anhalten und ausspannen mußten, weil die Pferde keinen Schritt mehr vorwärts konnten. Erst nach einem längern Aufenthalt ging die Fahrt weiter nach Strelitz, wo sie etwa um 1 Uhr Mittags bei dem Stadtrichter Petermann eintrafen. Die Pferde hatten also fast in einer Tour einen Weg von 13 Meilen zurückgelegt.
Im gastlichen Hause von Petermann ward ein solides Mittagsmahl genommen. Der Gutsbesitzer X. blieb in Strelitz zurück, um, sobald seine erschöpften Pferde es vermochten, wieder zurückzufahren. Kinkel und Schurz dagegen fuhren um 3 Uhr Nachmittags, nachdem sie sich von X. in tiefer Rührung und mit dem innigsten Dank verabschiedet hatten, in Begleitung Petermann’s weiter, der es bereitwilligst übernommen hatte, sie schleunigst nach Rostock zu expediren. Beim Tannenkruge vor Neubrandenburg wollten sie die Pferde wechseln, aber sie konnten dort keine erhalten. Sie mußten daher nach Neubrandenburg hineinfahren, wo sie sich, ohne aus dem Wagen zu steigen, frische Pferde zu verschaffen wußten. Diese brachten sie über Stavenhagen und Malchin nach Teterow. Sie kamen hier in der Nacht an und klopften den mit Petermann befreundeten Zimmermeister Zingelmann aus dem Schlaf. Derselbe zündete Licht an, öffnete die Thür und hieß sie herzlich bei sich willkommen. Von der rauhen Nachtluft durchkältet, erwärmten sie sich an der angeschürten lodernden Flamme und erquickten sich an dem ihnen vorgesetzten warmen Kaffee. Inzwischen hatte Zingelmann frische Pferde bestellt. Sie fuhren mit denselben in einer Tour über Lage nach Rostock, wo sie am 8. November Morgens zwischen 7 und 8 Uhr im „Weißen Kreuz“ anlangten.
Die Flüchtlinge fanden eine prächtige Aufnahme im Brockelmann’schen Hause. Sie wohnten zwei Treppen hoch in einem großen Salon nebst einem geräumigen Schlafzimmer. An ersteren stieß das Entréezimmer mit Balcon. Die Wohnung gewährte eine hübsche Aussicht auf den Bahnhof und das Warnowthal. Die liebenswürdigen Damen des Hauses, die Frau und die [137] erwachsene älteste Tochter, welche damals mit ihrem jetzigen Gemahl, dem Kaufmann Schwarz[4], verlobt war, wetteiferten in Aufmerksamkeiten gegen ihre Gäste. Mit mütterlicher Liebe sorgte die treffliche Frau für dieselben. Sie selbst nahm die Wunde Kinkel’s, die sich sehr verschlimmert hatte, in ärztliche Behandlung, nachdem sie von dem Hausarzt unter irgend einem Vorwande sich Auskunft über die anzuwendenden Mittel verschafft hatte. Jeden Morgen und Abend legte sie eigenhändig den Verband an. Kinkel und Schurz fühlten sich nicht wie Fremde, sondern wie Angehörige des Familienkreises. Die gesunde und kräftige mecklenburgische Kost äußerte auf den Körper Kinkel’s sehr bald ihre wohlthätige Wirkung. Sein Aussehen ward gesunder und kräftiger. Das traute Familienleben, dem Kinkel so lange entfremdet war, erfrischte auch seinen Geist. Der Uneingeweihte, welcher uns gesehen hätte, wie wir, am gemüthlichen Theetisch sitzend, mit einander lachten und scherzten, und wie der „Große“ und der „Kleine“ sich einander neckten, hätte schwerlich vermuthet, daß ein entsprungener Zuchthaussträfling und ein badischer Insurgent, auf welche die preußische Polizei mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln fahndete, an unserem heiteren Kreise Theil nähmen.
Bei allem Humor, welcher Kinkel zu Gebote stand, konnte er doch die Unruhe und Beklommenheit seines Herzens nicht ganz verbergen. Noch war der letzte Berg nicht überstiegen. Welch schreckliches Loos stand ihm bevor, wenn man seiner wieder habhaft ward! Auch der Gedanke quälte ihn, daß seine Johanna über sein Geschick im Dunkeln schwebte. Zwar hatte sie Nachrichten von der glücklichen Entweichung ihres Mannes aus dem Zuchthause erhalten. Aber sie kannte weder die von ihm eingeschlagene Route, welche nicht im anfänglichen Plane lag, noch seinen augenblicklichen Aufenthaltsort. „Welche Unruhe und Angst mag sie haben, da jede Minute ihr die schreckliche Nachricht von dem Mißlingen meiner Flucht bringen kann!“ sagte Kinkel zu mir mit tiefbekümmertem Herzen. Und dennoch mußte ich entschieden davon abrathen, ihr eher einen Brief zu senden, als bis Kinkel den deutschen Boden verlassen haben würde. Sie mußte auch die grauenvolle Ungewißheit über das Schicksal ihres Mannes noch einstweilen ertragen, da bei dem bekanntlich in Deutschland nicht gewährleisteten Postgeheimniß die Absendung eines Briefes an sie zu gefährlich war.
Kinkel hatte seine Frau seit seiner Gefangennehmung am 21. Juni 1849 zum ersten Male im Mai 1850 in Köln, wo der zu lebenswierigem Zuchthause Begnadigte noch einmal auf der Anklagebank saß, wiedergesehen und dann nicht mehr. Nachdem sie die Nachricht von seiner Gefangennehmung erhalten, hatte sie sich eilends nach Rastadt begeben, wo Kinkel in den Kasematten saß. Trotz ihrer unausgesetzten Bemühungen ward ihr der Zutritt zu ihm verweigert. Erst in Köln ward ihr die Erlaubniß, ihren Gatten wiederzusehen. Aber unter welchen Umständen! Der Staatsanwalt hatte „wegen Aufreizung zur Bewaffnung bei den Aufständen in Düsseldorf und Elberfeld“ die Strafe des Fallbeils gegen ihn beantragt. Johanna wohnte persönlich, verborgen vor den Augen ihres Mannes, den Gerichtsverhandlungen bei und war Zeugin seiner herrlichen Vertheidigungsrede, welche seine Freisprechung erwirkte. Der Eindruck dieser Rede war so mächtig, daß Alle, Richter, Geschworene, Zuhörer, Wachen, in Thränen zerflossen. „Nach dem Schlusse der Verhandlungen,“ so erzählte mir Kinkel, „bahnte meine Frau sich den Eingang zu dem Gerichtssaal. Ich sah sie auf mich zueilen, um mich zu umfassen. Die Gensd’armen traten unwillkürlich zurück. Der Oberprocurator John aber stellte sich zwischen uns und befahl ihnen, die letzte Umarmung zu hindern. Ein drohender Blick, in welchem sich mein ganzer empörter Stolz ausgedrückt haben mag, und eine gebietende Handbewegung hieß ihn bei Seite gehen. „„Johanna,““ rief ich, „„komm zu mir, hier ist Dein Platz, es soll Dir Niemand wehren, mich zu umarmen!““ Der Oberprocurator wich scheu zurück. Die Gensd’armen blieben an ihrem Platze wie gebannt, anstatt ihrem Vorgesetzten zu gehorchen. Johanna stürzte in meine Arme. Wir hielten uns Minuten lang fest umschlungen. Sprechen konnten wir nicht. Aber in jenen wenigen Minuten concentrirten sich unsere Gedanken und Gefühle während einer langen Trennungszeit. Ich entriß mich zuerst der stummen Umarmung. O, welchen Schmerz und welches Glück enthielten diese kurzen Augenblicke!“
Verschiedene entschlossene Freunde Kinkel’s hatten den Plan gefaßt, ihn in der Nähe Kölns bei seiner Abführung nach Spandau gewaltsam zu befreien. Alles war für die Ausführung dieses Plans bereit, seine Freunde standen im Hinterhalt auf dem Wege, den Kinkel ihrer Meinung nach passiren mußte. Aber der Eindruck, den er in Köln hinterlassen hatte, war so groß, daß die Behörde Befreiungsversuche befürchtete und aus Vorsicht kurz vor seiner Abführung beschloß, ihn auf einem anderen Wege, als dem anfänglich beabsichtigten, transportiren zu lassen. Wegen dieses unvorhergesehenen Umstandes mißglückte das kühne Unternehmen. Ein Fluchtversuch, den Kinkel selbst nachher auf dem Wege nach Spandau unternahm, war gleichfalls ohne Erfolg. Er machte mir darüber interessante Mittheilungen „Zwei Gensd’armen,“ so erzählte er, „begleiteten mich in einem verschlossenen Wagen. Es fing schon an zu dämmern, als wir in dem Wirthshause eines Dorfes in Westphalen Rast machten. Der eine von meinen Wächtern war hinausgegangen, der andere war mit mir allein im Gastzimmer und saß an einem Tische bei der zugemachten, aber nicht verschlossenen Thüre. Der Gedanke, die Flucht zu wagen, tauchte plötzlich in mir auf. Ich ging mit gekreuzten Armen, wie in tiefen Gedanken verloren, im Zimmer auf und nieder, den Gensd’armen fest im Auge haltend. Sobald ich sah, daß er den Blick von mir wandte und zum Fenster hinausguckte, sprang ich mit einem Satze auf die Thüre, öffnete sie, schlug sie wieder zu und verschloß sie mit dem draußen im Schlosse steckenden Schlüssel. Alles war das Werk eines Moments. Darauf schoß ich wie ein Pfeil aus der Hausthüre und lief in Windeseile querfeldein. Als ich etwa eine Viertelstunde gelaufen war, hielt ich an, um Athem zu schöpfen und neue Kraft zu gewinnen. Es war mittlerweile ganz dunkel geworden. Ich glaubte in der Entfernung Stimmen zu hören, und sah verschiedene Lichter sich hin und her bewegen. Ich fing wieder zu laufen an. Die Stimmen schienen immer näher zu kommen. Immer rasender stürzte ich vorwärts. Ich erinnere mich noch, daß ich in einen Feldweg einlenkte und mit dem Kopf gegen einen harten Gegenstand rannte. Darauf verlor ich das Bewußtsein und kam erst wieder zu mir, als sich eine Gestalt über mich beugte, mit vorgestreckter Laterne mein Gesicht beleuchtete und ausrief: „Aha, da haben wir ja wohl den Vogel!“ Kaum hatte er dies gesagt, so fing er an, laut um Hülfe zu rufen. Es dauerte auch nicht lange, daß seine Helfershelfer ankamen. Ein tiefer Schmerz durchzuckte mich, als ich das Mißlingen meiner Flucht erkannte. Der von mir eingesperrte Gensd’arm war sofort aufgesprungen, um mir nachzusetzen. Da die verschlossene Thür ihm den Ausgang wehrte, so hatte er versucht, das Fenster zu öffnen. In der Hast und Aufregung war ihm dies nicht schnell genug gelungen, und er hatte das Fenster eingeschlagen und Hülfe herbeigerufen. Eine ausgelobte Belohnung von hundert Thalern hatte auch einen zufällig dort anwesenden preußischen Postillon vermocht, mir nachzusetzen. Wegen der einbrechenden Dunkelheit hatten die Verfolger sich mit Laternen versehen. Alles dies hatte einen längeren Zeitraum erfordert und mir einen ziemlichen Vorsprung verschafft. Zu meinem Unglück war aber an der Stelle, wo ich in den erwähnten Feldweg einbog, ein aufgestapelter Haufen Holz, wovon ein Scheit etwas hervorgeragt hatte. Gegen dieses war ich in der Dunkelheit gerade mit der Stirn angelaufen. Der Stoß hatte mich zu Boden gefällt. Nachdem ich eine Zeitlang bewußtlos dagelegen hatte, ward ich von dem Menschen mit der Laterne entdeckt.“
Durch nichts konnte man Kinkel mehr erfreuen, als durch Musik. Erst jetzt begreife ich, wie mächtig ihr Eindruck sein muß, wenn nach langer, stiller Einsamkeit zum ersten Male wieder diese Zaubersprache das Ohr berührt. Wie mächtig ergriffen ward ich, als etwa ein Jahr nach meiner Verhaftung die Stille meines Gefängnisses plötzlich durch von der Straße her erschallende harmonische Accorde unterbrochen ward! Eine Musikbande, wie ich später hörte, aus Sülz, welche sehr schön und rein verschiedene Stücke auf Blasinstrumenten vortrug, hatte sich in unsere Nähe verirrt. Neue Lust und Liebe zum Leben erfaßte mich, alte theuere Erinnerungen tauchten wieder in mir auf. Die Musikanten haben es vielleicht büßen müssen, daß sie unvorsichtiger Weise den Gefangenen einen solchen Genuß bereitet haben. Ich aber habe die Erinnerung daran nicht verloren. Mit Ausnahme der Orgelklänge und des Kirchengesanges der Zuchthaussträflinge, welche ich zwangsweise genieße, habe ich seitdem nie wieder Musik gehört. Manche Entbehrungen habe ich in den letzten vier Jahren ertragen müssen, aber nichts habe ich bitterer empfunden, als die Vorenthaltung musikalischer [138] Genüsse. Im Anfange meiner Verhaftung suchte ich mir ein Surrogat zu verschaffen, indem ich einmal auf einem mit feinem Papier belegten Kamm blies und meiner Ansicht nach wundervoll phantasirte. Aber das Vergnügen ward sehr bald durch die Worte des herbeigeeilten Gefangenwärters unterbrochen: „Ich bitte Sie, Herr Advocat, was machen Sie da für einen Lärm? Hören Sie doch auf, das kann man ja in allen Zellen hören!“ Dabei fiel mir zu meinem Troste ein, wie Recht mein alter Lehrer Thibaut hatte, als er uns in Heidelberg vom Katheder docirte, daß die Rechtsregel: cessante ratione legis, cessat lex ipsa, ganz falsch sei, und daß, wenn z. B. ein Polizeiverbot wider das Singen in den Straßen zur Nachtzeit existirt, selbst eine Catalani sich nicht ungestraft über jenes Verbot hinwegsetzen dürfe. Ich war der Erste, welcher Kinkel wieder durch Musik erfreute. Der Eindruck war um so größer, als sie ihm seine Frau, bekanntlich eine Meisterin in der Kunst, mit verdoppelter Macht in Erinnerung rufen mochte. Wir waren bei Frau Brockelmann in ihrem Wohnzimmer, in welchem ein Piano stand, zum Thee versammelt. Ich setzte mich ans Instrument und phantasirte. Als ich geendet hatte, legte Jemand seine Hände auf meine Schulter und drückte mich sanft an sich. Ich drehte mich um und sah Kinkel, der sich über mich gebeugt hatte und mich liebevoll anblickte. „Haben Sie mir auch dies noch zu Liebe gethan?“ fagte er bewegt. Eine Thräne perlte ihm die Backe hinunter.
Eine Ueberraschung ähnlicher Art ward Kinkel durch den Werkführer Brockelmann’s, Namens Iben, bereitet. Es ist eine alte Rostocker Sitte, daß unser Stadmusikus am 10. November, dem Geburtstage Martin Luther’s, und den darauf folgenden Tagen mit seinen Leuten in der Stadt umherzieht und in jedem einzelnen Hause gratulirt, wofür die Bewohner durch Zahlung einer beliebigen kleinen Geldsumme ihren Dank ausdrücken. Gegen eine Extra-Remuneration werden auch einige Musikstücke zum Besten gegeben. Auch zu Ernst Brockelmann kam an einem jener Tage der damalige Stadtmusikdirector Schulz mit seinem Musikcorps. Iben hatte zufällig Kinkel am Fenster gesehen. Die Aehnlichkeit desselben mit einem früher gesehenen Portrait Kinkel’s hatte ihn frappirt und auf die stille Vermuthung gebracht, der Fremde möchte Kinkel selbst sein. Um demselben eine Freude zu bereiten und zugleich seine politischen Sympathien auszudrücken, bestellte er die Marseillaise, die denn auch auf der Diele des Brockelmann’schen Hauses von dem Schulz’schen Musikcorps mit gewohnter Meisterschaft executirt ward. Man denke sich die Ueberraschung der Flüchtlinge, als plötzlich die Marseillaise zu ihnen heraufschmetterte. Welch’ schroffer Uebergang! Aus der Stille und dem Zwange des Zuchtauslebens plötzlich hinein versetzt in die jubelnde, Freiheit athmende Welt! Das mächtige Freiheitslied war ihnen der Herold einer besseren Zeit. Als ich bald darauf zu ihnen kam, waren sie noch tief ergriffen und begeistert von dem Eindruck der Scene.
[152] Die unter der Hand eingezogenen Erkundigungen, um eine Schiffsgelegenheit nach England ausfindig zu machen, hatten zu keinem Resultate geführt. Wir deliberirten eben darüber, was jetzt zu thun sei, als Ernst Brockelmann in’s Zimmer trat.
„Nun wird uns wohl nichts Anderes übrig bleiben, als uns dem Correspondentrheder der auf Rhede liegenden Brigg anzuvertrauen,“ sagte ich zu Ernst Brockelmann.
„O nein,“ erwiderte dieser verheißungsvoll, „die Sache ist bereits arrangirt.“
„Haben Sie eine Schiffsgelegenheit ausfindig gemacht?“ fragte Kinkel gespannt.
„Das nicht. Aber ich habe mir die Sache überlegt. Es ist doch besser, daß nicht mehr Personen, als unumgänglich erforderlich, in’s Geheimniß gezogen werden. Ueberdies,“ setzte er lächelnd hinzu, „ist es Ihrer nicht würdig, daß Sie gleichsam als blinde Passagiere mitgenommen werden. Eins meiner kleineren Schiffe, ein Schooner von einigen vierzig Last, vereinigt die Vortheile in sich, daß es ein guter Segler ist und daß seine Befrachtung keine lange Zeit in Anspruch nimmt. Ich habe bereits Ordre gegeben, daß die „Anna“, eine Namensverwandtin Ihrer Johanna, in möglichst rascher Zeit mit Weizen nach Newcastle befrachtet wird. Die Cajüte ist zwar nicht groß, aber ein paar Wochen werden Sie es sich schon darin gefallen lassen.“
Wir waren alle dankerfüllt und drückten ihm gerührt die Hand. Die aufopfernde Hülfe Ernst Brockelmann’s hatte die Hauptschwierigkeit beseitigt. Die goldene Hoffnung einer baldigen Befreiung lächelte. Doch war keineswegs schon alle Gefahr beseitigt.
Bereits am Freitage nach der Flucht empfingen wir in den Zeitungen die ersten Nachrichten von der Entweichung Kinkel’s. Als ich am Nachmittage in’s Lesecabinet ging, um nachzusehen, ob schon etwas darüber zu lesen sei, und kaum die Thür geöffnet hatte, rief mir ein Freund mit einem Berliner Blatt in der Hand triumphirend entgegen:
„Kinkel ist entflohen!“
„Nicht möglich!“ rief ich anscheinend überrascht.
„Ja, hier steht’s,“ sagte mein Freund und las in freudiger Aufregung die kurzen bedeutungsvollen Worte: „Kinkel ist aus dem Zuchthause in Spandau entsprungen.“
Ich glaubte die Rolle des Ueberraschten sehr gut gespielt zu haben, mußte aber später zu meinem Leidwesen von meinem Freunde erfahren, daß es ihm aufgefallen sei, daß seine Nachricht keinen größeren Eindruck auf mich gemacht habe. Aber der Umstand, daß ich an demselben Morgen die Zusammenkunft mit den Flüchtlingen auf dem „Weißen Kreuz“ gehabt hatte, wird mein Benehmen einigermaßen entschuldigen.
Den Steckbrief, der gegen Kinkel sofort nach seiner Entweichung erlassen ward, las ich selbst den Flüchtlingen vor; sie machten scherzende Randglossen dazu.
Die Presse erging sich inzwischen in den abenteuerlichsten Nachrichten über die Kinkel’sche Flucht. Bald sollte er wieder eingefangen, bald hier, bald dort angelangt sein. Je größer das Gewirre der falschen Nachrichten war, desto mehr freuten wir uns. Den wichtigsten Dienst leistete uns der Pastor Dulon in Bremen, der, um die Polizei irre zu führen und von der ihm selbst unbekannten richtigen Fährte abzulenken, in seinem „Sonntagsblatt“ mit allen möglichen Details die Mittheilung brachte, daß Kinkel glücklich über Bremen auf einem nach England segelnden Schiffe entkommen sei.
Die „Anna“ konnte auch bei der größten Eile nicht unter acht Tagen die volle Weizenladung an Bord nehmen. Es traten aber Umstände ein, welche zu einer größeren Beschleunigung der Flucht dringend aufforderten.
In der Kaufmannswelt hatte es Aufsehen gemacht, daß [153] Brockelmann so plötzlich und unerwartet Weizen nach England verladete, da bei den damaligen ungünstigen Conjuncturen ein solches Geschäft voraussichtlich großen Schaden im Gefolge hatte. Außerdem fiel es auf, daß die Fuhrleute, angespornt durch kleine Belohnungen, mit ihren rasselnden und zwerchfellerschütternden Strandwagen in so großer Eile von und zu den Kornspeichern durch die Straßen jagten, um die „Anna“ zu beladen. Der Schiffer der „Anna“, Capitain Niemann, welcher bereits in seinem Wohnorte auf dem Fischlande die Winterquartiere bezogen hatte, ohne zu ahnen, daß ihm sobald eine neue Seereise bevorstände, ward plötzlich durch einen Brief Ernst Brockelmann’s der Nähe und Gemüthlichkeit des Familienlebens entrissen. So große Eile war ihm gemacht, daß er kaum die Zeit erübrigte, um die nöthigen Vorbereitungen für die beschwerliche Seereise während der rauhen Jahreszeit zu treffen.
Alle jene Thatsachen konnten freilich ihre sehr natürliche Erklärung in einer in den Nimbus des Geheimnisses gehüllten kaufmännischen Speculation finden. Aber es war doch auch die Besorgniß begründet, daß das Publicum den richtigen Grund errathen werde. Die Kinkel’sche Flucht bildete damals das allgemeine Tagesgespräch. Es bedurfte nur der kühnen Conjectur eines Bierhauspolitikers, um das Gerücht, daß Kinkel in Rostock sei, hervorzurufen. Ein solches bloßes Gerücht genügte, um die preußische Polizei, welche ohnehin schon an sich und beim Mißlingen ihrer sonstigen Nachforschungen auf Rostock hatte verfallen können, uns auf den Hals zu hetzen. Dazu kam, daß die Leute im Brockelmann’schen Hause davon zu Andern sprechen konnten, daß zwei mysteriöse Fremde, welche bei Tage das Haus nicht verließen und nur am Abende beim Mondschein in dem an der Warnow liegenden Garten frische Luft schöpften, sich dort aufhielten. Wie leicht konnte Jemand daraus den Verdacht schöpfen, daß einer der beiden Fremden Kinkel sei, und dies um so mehr, als die bekannten edlen Gesinnungen Brockelmann’s dafür bürgten, daß er einem politisch Verfolgten ein Asyl in seinem Hause nicht versagen werde. Da überdies Manche den damaligen Aufenthaltsort der beiden Flüchtlinge kannten, so ist es erklärlich, daß unsere Besorgniß vor Entdeckung mit jedem Tage zunahm.
Unsere Besorgniß steigerte sich zum Alarm, als ich am 14. November aus dem Strelitzschen einen Brief von unbekannter Hand und ohne Namensunterschrift entpfing, welcher die geheimnißvollen Worte enthielt: „Beschleunigen Sie die Versendung der Ihnen anvertrauten Waaren, es ist Gefahr im Verzuge.“ Dieser Brief stammte offenbar von einem Freunde, der um die Flucht wußte.
In Folge dieses Briefes ward beschlossen, die Abreise auf das Aeußerste zu beschleunigen. Während anfänglich dieselbe bis dahin ausgesetzt werden sollte, daß die „Anna“ die volle Weizenladung an Bord hätte, beschlossen wir jetzt, daß die Ladung nur so weit completirt werden solle, als es für die Sicherheit des Schiffes unumgänglich erforderlich war. Die „Anna“ sollte am Freitag noch soviel Ladung als möglich einnehmen und am Sonnabend nach Warnemünde gehen, um am Sonntage, den 17. November, falls der noch immer fortdauernde Nordoststurm sich gelegt habe, die Anker zu lichten.
Am Freitag Abend saß ich in meiner Arbeitsstube am Schreibtisch, als es draußen anklopfte. Ein mir unbekannter Mann von großer Gestalt mit einem langen dunklen Vollbart trat herein, ohne mein „Herein“ zu erwarten. Ich war ihm mit meinem Licht zum Vorzimmer entgegengegangen. Anstatt mich zu begrüßen, schaute er sich allenthalben vorsichtig um, wie wenn er sich versichern wollte, daß wir nicht behorcht würden, und flüsterte mir zu:
„Ich soll Sie grüßen von Ihrem Freunde N.“
Und während er dies sagte, nahm er seinen um den Hals gebundenen großen Shawl ab, breitete denselben auf den Tisch, faltete ihn auseinander, holte einen darin verborgenen Brief hervor und überreichte ihn mir mit den Worten: „Dies zu meiner Legitimation.“
Die geheimnißvolle Weise des Fremden erregte Verdacht in mir. „Vielleicht ein preußischer Polizeispion!“ dachte ich erschrocken.
Der Brief enthielt in wenigen Zeilen eine Empfehlung des Ueberbringers mit dem Zusatz, daß ich demselben ganz vertrauen könne. Aber ich kannte die Handschrift meines Freundes nicht genau. Und wenn sie es auch war, konnte er nicht selbst ein Betrogener sein? Konnte nicht auch der für den wirklichen Freund bestimmte Brief von der Polizei aufgefangen sein und von ihr dazu benutzt werden, mich zu überlisten und über den Aufenthalt Kinkel’s auszuhorchen?
Beim Lesen dieses Briefes fuhren mir alle diese Fragen durch den Sinn. Ich hielt mich verpflichtet, unter allen Umständen mein Geheimniß zu bewahren.
„Empfohlen durch meinen Freund N., sind Sie mir herzlich willkommen,“ sagte ich unbefangen. „Nehmen Sie gefälligst Platz. Womit kann ich Ihnen denn dienen?“
Der Fremde fixirte mich scharf und fragte leise: „Ist Kinkel noch hier?“
Ich fühlte mein Herz und meine Pulse klopfen bei dieser Frage. „Es ist in der That ein Spion,“ sagte ich mir „wenn ein Blick, eine Miene ihm das Geheimniß verräth, dann ist Kinkel verloren.“ Ich nahm alle meine Kraft zusammen und fragte erstaunt:
„Kinkel?“
„Ist er denn nicht hier gewesen?“
„Wie sollte er hierher gekommen sein?“ rief ich verwundert.
„Aber, mein Gott, Ihr Name ist doch in der Versammlung, in welcher der Fluchtplan festgestellt ward, genannt.“
„Sie müssen im Irrthum sein, mindestens weiß ich nichts davon. Darf ich bitten mir zu sagen, in welcher Weise Sie bei der Flucht Kinkel’s betheiligt sind?“
„Ich bin der Gutsbesitzer X. aus Z. und habe Kinkel von Spandau bis Strelitz gefahren. Von Strelitz aus ist der Stadtrichter Petermann mit ihm weiter gefahren, um ihn nach Rostock zu bringen.“
„Dies kann nicht geschehen sein. Denn mein Freund Petermann würde mir jedenfalls davon Mittheilung gemacht haben. Es wäre doch zu arg, wenn man mir als einem der Führer der demokratischen Partei eine solche Begebenheit verschwiegen hätte!“ rief ich anscheinend empört. „Aber was führt Sie jetzt hierher? Ihre Anwesenheit hierselbst kann Verdacht erregen.“
„Die Ungewißheit über das Schicksal Kinkel’s hat mir zu Hause keine Ruhe gelassen. Ich wollte mich darüber hier vergewissern. Man wird mich jedenfalls mit einer Criminaluntersuchung verfolgen. Jeden Tag erwarte ich meine Verhaftung. Ich fürchte dieselbe nicht, wenn ich die tröstende Gewißheit habe, daß Kinkel frei ist. Uebrigens habe ich anderweitige Geschäfte in der Nähe und damit einen guten Vorwand für meine Herreise.“
„Ich werde Alles thun, um Ihren Wunsch zu erfüllen, und deshalb die genauste Erkundigung einzuziehen suchen. Freilich wird dies zu nichts führen, da ich nicht glauben kann, daß Kinkel sich hierher gewendet hat. Aber zu Ihrer Beruhigung will ich auch ohne Aussicht auf Erfolg das Meine thun. Wenn Sie mich morgen früh 10 Uhr wieder beehren wollen, so werde ich Sie von dem Resultat meiner Bemühungen in Kenntniß setzen.“
Der Fremde dankte mir für meinen guten Willen, versprach mich um die bezeichnete Zeit wieder zu besuchen, und verabschiedete sich.
Ich athmete tief auf, als der Fremde fort war. Die Flüchtlinge mußten von seiner Anwesenheit benachrichtigt werden. Ich wollte sofort zu ihnen eilen. Aber ich bedachte, daß der Fremde, wenn er wirklich ein Spion war, mir aufpassen könnte. Deshalb wartete ich noch eine Viertelstunde, setzte mein Licht, welches von draußen gesehen werden konnte, wieder auf den Schreibtisch, um einen etwaigen Beobachter glauben zu machen, daß ich ruhig weiter arbeitete, und ging darauf nicht zu den Flüchtlingen, sondern zu der „Lesehalle“, wo ich einen eingeweihten Freund ersuchte, die Flüchtlinge sofort von dem Besuche des geheimnißvollen Fremden in Kenntniß zu setzen. Ich erhielt die Nachricht zurück, daß die gegebene Beschreibung desselben auf den Gutsbesitzer X. paßte, daß aber, um möglichste Gewißheit zu erreichen, der Kaufmann Schwarz ihn bei mir sehen und dann über das Aeußere desselben einen detaillirten Bericht zurück bringen solle.
Um 10 Uhr am andern Morgen fand sich der Fremde wieder bei mir ein. Ich sagte ihm, daß, wie ich erwartet, meine Nachforschungen fruchtlos gewesen wären, was ihn sichtlich beunruhigte. Bald darauf kam Schwarz, anscheinend in einer Geschäftsangelegenheit, betrachtete sich während des Gesprächs mit mir den Fremden, ohne daß dieser es merkte, und ging darauf wieder fort. Eine längere Unterredung mit dem Fremden erweckte in mir die Ueberzeugung, daß er in der That der Gutsbesitzer X. sei.
Am Nachmittage wollte er zur Besorgung seiner Geschäfte abreisen und am nächsten Montage über Rostock seine Rückreise antreten. Wir verabredeten, daß er dann wieder bei mir vorkomme. [154] „Ich bin nicht eher wieder ruhig, als bis ich die Gewißheit habe, daß Kinkel frei ist,“ sagte er zu mir in melancholischer Stimmung „Es wäre doch entsetzlich, wenn das bis dahin so glücklich durchgeführte Unternehmen noch mißlingen sollte.“ Wir verabschiedeten uns von einander. Es that mir wahrhaft weh, daß ich ihm kein tröstendes Wort auf den Weg geben durfte.
Schwarz kam am Mittage zu mir zurück und berichtete, daß kein Zweifel über die Identität der Person des Fremden mit dem Gutsbesitzer X. sein könne. Er habe über dem Daumen seiner Hand eine wundgescheuerte viereckige Stelle bemerkt und dies an Kinkel und Schurz berichtet. Diese aber hätten bezeugt, daß der Gutsbesitzer X. sich beim Hineinziehen der Pferde in den Stall des Wirthshauses in Fürstenberg in der bezeichneten Weise an der Thür des Stalles verletzt habe. Dessenungeachtet bestimmte uns die Vorsicht, dem Fremden nicht mitzutheilen, daß die beiden Flüchtlinge hier noch anwesend wären. Um ihn aber nicht ohne Trost von hier scheiden zu lassen, ward verabredet, und dies geschah im Einvernehmen mit Kinkel und Schurz, daß ich noch vor seiner Abreise ihn im Allgemeinen über das Schicksal Beider beruhigen solle. Ich ging darauf zu ihm in sein Gasthaus und traf ihn allein. Er kam mir erwartungsvoll entgegen. „Herr X.,“ sagte ich zu ihm, „es ist mir jetzt gelungen, Näheres über die beiden Flüchtlinge zu erfahren. Ich kann Sie nicht wegreisen lassen, ohne Ihnen davon Mittheilung zu machen. Kinkel und Schurz sind, wenn auch noch nicht gerettet, doch so gut wie in Sicherheit, fragen Sie nicht nach weiteren Details, ich darf Ihnen noch nicht mehr sagen. Aber vertrauen Sie meinem Wort. Am Montage werde ich Ihnen wahrscheinlich Näheres mittheilen können.“
X. drückte mir gerührt die Hand und sagte bewegt: „Ich danke Ihnen, Sie haben mir einen Stein vom Herzen genommen.“
Mit einem „Auf Wiedersehen am Montage“ trennten wir uns.
Die Ladung war am Freitag so weit completirt, daß sie als Ballast genügte. Am Abende legte sich der Sturm. Die „Anna“ ging am Sonnabend nach Warnemünde, und die Abfahrt von dort wurde definitiv auf den Sonntag festgesetzt. Frau Brockelmann hatte mit mütterlicher Geschäftigkeit dafür gesorgt, daß es den Flüchtlingen nicht an Speise und Trank und warmer Bekleidung während der Seereise fehlen sollte. Herr Brockelmann enthob sie durch Ausstellung von Creditbriefen aller Sorge für die nächste Zukunft. Wir Andern sorgten für Lectüre. Eine englische Grammatik, englische Lexica und Lesebücher sollten als Vorbereitung zur Erlernung der ihnen bis dahin unbekannten englischen Sprache dienen, deren Kenntniß ihnen später so werthvoll werden sollte. Die damalige Kolatschek’sche Monatsschrift und andere Novitäten waren für die Mußestunden bestimmt. Am Sonnabend Nachmittag reiste Schwarz nach Warnemünde, um Alles für die Abfahrt vorzubereiten und zugleich zu sondiren, ob die Küste rein sei.
Der Sonntag kam heran.
Am Morgen 9 Uhr stießen zwei Boote vom Strande ab, um nach Warnemünde zu fahren. In dem einen saßen Kinkel und Schurz zusammen mit Ernst Brockelmann, dem Capitain eines demselben gehörenden Grönlandsfahrers und einigen Herren, welche auf seinem Comptoir angestellt waren. In dem andern Boote waren verschiedene im Dienste des Herrn Brockelmann befindliche zuverlässige Personen. Etwas früher ging ich mit Bluhme zu Fuß nach dem eine halbe Meile von Rostock entfernten und an der Warnow gelegenen Dorfe Bramow. Um Aufsehen zu vermeiden, wollte ich nicht in Rostock in’s Boot mit einsteigen. Es war gelindes Frostwetter und dichte Schneeflocken fielen vom Himmel. Wir gelangten zur verabredeten Zeit an die vom Ufer in die Warnow führende kleine Brücke bei dem Wirthshause zu Bramow, welche zum Anlegen von Booten bestimmt ist. Es dauerte auch nicht lange, daß das Boot mit den beiden Flüchtlingen und den übrigen Personen anlegte und uns aufnahm. Die Luft, so kalt auf dem Lande, war auf dem Wasser ganz warm, wie dies immer in der kältern Jahreszeit der Fall, so lange das Wasser noch nicht mit Eis bedeckt gewesen ist. Der Schnee hörte auf, und der Himmel fing an sich aufzuklären. Eine frische Brise aus Ostnordost blähte die Segel und trug unser Schifflein leicht über die plätschernden Wogen.
Wie schön, wenn das Boot ohne Ruderschlag, wie durch unsichtbare Mächte getrieben, dahin fliegt und die sinnenden Blicke die durch das Steuerruder gebildete blänkernde Wasserfurche in ihren Schlangenwindungen weithin zurück verfolgen, oder den glänzenden Wasserspiegel betrachten, welcher, gleich neckischen Nixen, vor ihnen zu fliehen scheint! Alles um uns athmete Frieden. Die Ufer mit ihren Feldern, mit ihren weißen Häusern und grünen Fichten zogen wie Schattenbilder in tiefer Sonntagsruhe an uns vorüber. Das geschäftige Treiben auf dem Flusse, der Lärm vorbeipassirender Dampfer und Schiffe, das Schreien und Rufen der Matrosen, das Geräusch von Ruderschlägen, welches alles an Alltagen die Scene belebt und die Nähe der Seestadt verkündet, hatte einer tiefen Stille Platz gemacht. Man hörte nur das einförmige Geräusch der Wellen und das Gemurmel des das Wasser durchschneidenden Boots. Ab und zu ward die Stille durch den „Goden Morgen“-Gruß eines in einer vorbeifliegenden Jölle hintenüber lehnenden einsamen Steuermanns unterbrochen.
Wir waren Alle in feierlicher erwartungsvoller Stimmung. Jeder hing schweigend seinen Gedanken nach.
Wir hatten uns dem „Breitling“ genähert. Es ist dies ein etwa eine halbe Stunde breites und eine Viertelstunde langes Wasserbecken, zu welchem sich die Warnow kurz vor Warnemünde erweitert. Von dort gelangt man in den „Durchstich“, einen Canal, der erst in neuerer Zeit mittelst Durchgrabung einer Landzunge angelegt ist, um den „Breitling“ mit dem in die See ausmündenden Strom zu verbinden und so einen directen und näheren Weg zum Strom und zur See zu gewinnen, als man früher hatte, wo man der krummen Windung des Flusses folgen mußte.
„Dort, wo die beiden weißen Kreuze hervorschimmern,“ sagte ich zu den beiden Flüchtlingen, „ist die Einfahrt zum Durchstich. Wenn Schwarz dort mit einer brennenden Cigarre steht, so ist dies das verabredete Zeichen, daß die Luft rein ist, und wir segeln geradezu in den Durchstich. Sehen wir ihn dort nicht, so drohet Gefahr, und wir wenden uns rechts nach jenem weißen Häuschen im Holze, dem „Schnatermann“, und landen daselbst. Wir gehen dann längs der mit Holz bewachsenen Küste, welche sich dort, wie Sie sehen, nach Nordosten hin erstreckt, und zwar bis zur äußersten Spitze derselben, genannt die „Nase“, wo wir von Warnemünde aus nicht mehr gesehen werden können. Die „Anna“ läuft inzwischen aus und segelt bis zur „Nase“, von wo ein Boot an’s Land kommen wird, um Sie an Bord des Schiffes zu bringen. Sie sehen, daß wir unsere Vorsichtsmaßregeln gut getroffen haben.“
Ernst Brockelmann hatte indeß sein Fernrohr herausgeholt und lugte nach der Einfahrt des „Durchstichs“. Wir folgten gespannt mit unseren Blicken der Richtung des Fernrohrs.
„Doa steiht Eener, Herr Brockelmann,“ sagte der Capitain des Grönlandsfahrers nach einer Pause, mit der ruhigen Zuversicht, welche den Seemann auszeichnet.
„Waraftig – Sei hebben – Recht – Captein,“ erwiderte Ernst Brockelmann. „Sei sehn ja beter so, as ick mit minen Tubus. Doa steiht waraftig Eener.“
Wiederum eine kurze Pause.
„Dat is so ehr Swiegersöhn, Herr Brockelmann,“ sagte der Capitain weiter, indem er einen halb mitleidsvollen, halb verächtlichen Blick auf das Fernrohr warf.
„Das ist wirklich mein Schwiegersohn,“ rief Ernst Brockelmann frohlockend nach einer abermaligen Pause. „Es wird Alles in Ordnung sein.“
„Aber die Cigarre?“ wandte Carl Schurz ein.
„Sehn Se denn nich, dat et rookt, as wenn et achter em brennt?“ fragte der scharfsichtige Capitain.
Wir waren dem Durchstich jetzt so nahe gekommen, daß auch wir Landratten mit unseren bloßen Augen den Kaufmann Schwarz erkennen konnten, wie er aus einer Cigarre Dampfwolken von sich blies und uns heranwinkte. Wir fuhren in die Nähe des Ufers, jedoch ohne den Lauf unseres Bootes zu hemmen.
„Alles in Ordnung,“ rief Schwarz. „Die „Anna“ liegt gleich vorn am „Rostocker Ende“. Steigen Sie von der Wasserseite ein – der Dampfer ist bereits vorgespannt.“
Eine Centnerlast fiel uns vom Herzen. Der Augenblick der Befreiung nahte.
„Zieht die Segel ein, Kinder,“ rief Ernst Brockelmann, sich die Hände reibend und das Gesicht vor Freude strahlend, „und nehmt Eure Ruder. Der Strom läuft ein. Vorwärts!“
In wenigen Minuten erreichten wir die „Anna“, legten an und kletterten an Bord. Das andere Boot war dem unsrigen auf dem Fuße gefolgt. Kinkel, Carl Schurz, Ernst Brockelmann und ich stiegen sofort in die Cajüte. Die anderen Herren vertheilten [155] sich auf dem Deck der „Anna“ und des vorgespannten Dampfschiffs, das dicke Rauchsäulen aus seinem Schornstein blies und rasselnd den Dampf aus dem Ventil entsandte.
Der Führer der „Anna“, Capitain Niemann, war ganz bestürzt und erstaunt, als er beim Eintreten in die Cajüte dieselbe von so vielen Herren besetzt fand. Er hatte keine Ahnung davon gehabt, daß er in seiner kleinen Cajüte noch Passagiere beherbergen solle.
„Capitain,“ sagte Ernst Brockelmann zu ihm. „Sie nehmen diese beiden Herren,“ auf Kinkel und Schurz zeigend, „mit nach Newcastle. Bei Helsingoer segeln Sie, ohne anzulegen, vorbei und zahlen den Sundzoll auf der Rückreise. Bei ungünstigem Winde setzen Sie lieber das Schiff an der schwedischen Küste auf Strand, als daß Sie nach einem deutschen Hafen zurückkehren. Paßt Ihnen der Wind nach einem andern Hafenort der englischen oder schottischen Ostküste besser als nach Newcastle, so segeln Sie dorthin. Es kommt nur darauf an, daß Sie möglichst rasch nach England kommen. Ich werde es Ihnen gedenken, wenn Sie meine Ordres pünktlich ausführen.“
Nachdem Brockelmann dem Schiffer diese concise und entschiedene Instruction ertheilt hatte, umarmte er die beiden Flüchtlinge, wünschte ihnen aus der Tiefe seines Herzens eine glückliche Reise und trennte sich von ihnen, um an’s Land zu gehen. Es war eine kurze ergreifende Scene, die uns Allen Thränen in die Augen brachte, wie die Flüchtlinge sich von ihrem Erretter verabschiedeten.
Inzwischen war auch Schwarz an Bord gekommen und zu uns in die Cajüte gestiegen. Das Commando zur Abfahrt wurde gegeben, und der Dampfer setzte sich in Bewegung. So wohl war Alles arrangirt, daß zwischen der Zeit unserer Beilegung am Schiffe und der Abfahrt kaum zehn Minuten verstrichen waren. Der Steuermann der dem Großherzoge gehörigen Vergnügungs-Yacht war von der Ironie des Schicksals dazu ausersehen, auch auf dem Dampfschiffe, welches die „Anna“ mit den Flüchtlingen in die freie See bugsirte, das Steuerruder zu führen.
Als wir die letzten Häuser des Ortes passirt waren, stiegen wir aus der Cajüte auf’s Deck. Die Sonne war aus den Wolken hervorgetreten und erhellte mit ihren glänzenden Strahlen, wie wenn der Himmel selbst seine Freude über das Gelingen des Befreiungswerks bezeigen wollte, das vor uns liegende weite Meer. Auf der Mole, welche links von uns sich tief in die See hinein erstreckt, sahen wir Ernst Brockelmann etwa dreißig Schritte vor uns auf laufen, um noch, ehe wir vorbeipassirten, die äußerste Spitze der Mole zu erreichen. Kinkel und ich standen am vorderen Mast. Carl Schurz stützte sich mit dem Elbogen auf die vordere Schanzkleidung und betrachtete Kinkel von der Seite mit einem Blick, in welchem die Freude über die Errettung des Freundes, die Genugthuung über das Gelingen des Wagestücks und der Triumph über den Sieg wider die Feinde, deren mächtigen Händen er das Schlachtopfer entrissen, sich ausdrückten. Ernst Brockelmann war kaum am Ende der Mole angelangt, als auch schon das Dampfschiff an ihm vorbeidampfte. Darauf machte er Front gegen uns, und in demselben Augenblick, wo die „Anna“ an ihm vorbeipassirte, schwenkte er seine Mütze und warf sie mit lautem, jauchzendem „Hurrah“ wiederholt in die Luft. Die von der Sonne beschienenen grauen Locken wehten um das würdige entblößte Haupt. Wir wurden wie elektrisirt und jubelten laut und grüßten wieder. Kinkel ward überwältigt von dem Moment. Er stürzte sich schluchzend an meine Brust und bebte wie vom Fieberfrost geschüttelt in meinen Armen. Als er sich wieder erholt hatte, sagte er, melancholisch vor sich hinblickend: „Ich weiß nicht, soll ich mich freuen über meine Rettung oder soll ich trauern, daß ich wie ein Verbrecher und Ausgestoßener mein theueres Vaterland fliehen muß?“ –
Der Wind war zu Gunsten der Flüchtlinge ein wenig mehr nach Norden umgegangen. Aber er hatte doch noch einen Strich von Osten, so daß die „Anna“ ohne Hülfe des Dampfers die vorspringende „Nase“ nicht anders umschiffen konnte, als wenn sie verschiedene Male gekreuzt hätte. Da wir nun das kreuzen derselben im Angesicht des Hafens vermeiden wollten, so ließen wir sie durch das den stricte nördlichen Cours steuernde Dampfschiff etwa zwei Meilen in See über die „Nase“ hinaus bugsiren. Die „Anna“ setzte darauf die Segel bei, das Schlepptau des Dampfschiffes ward losgeworfen, wir sagten den Flüchtlingen Lebewohl und stiegen in das Boot des Dampfschiffes, um uns an Bord desselben bringen zu lassen. Die „Anna“ drehte inzwischen beim Winde bei, die flatternden Segel füllten sich, und den östlichen Cours haltend schoß sie vorwärts. Zum letzten Abschiedsgruß feuerten wir unsere Pistolen ab, während die Flüchtlinge ihre Seemannshüte schwenkten.
Als wir eine Stunde später wieder im Warnemünder Hafen anlangten, sahen wir von der „Anna“ nur noch einen kleinen schwarzen Punkt. Ernst Brockelmann erwartete uns mit einem Mittagsessen im Wöhlert’schen Gasthause, an welchem die ganze Gesellschaft, welche die Flüchtlinge begleitet hatte, Theil nahm. Wie fröhlich wir waren, mag der Leser sich ausmalen. Am Abende bei herrlichem Mondschein fuhren wir auf unseren Booten nach Rostock zurück.
Noch an demselben Abend ging, unter den gehörigen Vorsichtsmaßregeln, ein Brief an Johanna Kinkel ab.
Am Montag kam, wie verabredet, der Gutsbesitzer X. zu mir. Wie glänzte sein Gesicht vor Freude, als ich ihm die fröhliche Mähr von der gestrigen Abreise der Flüchtlinge meldete! „Nun, da ich weiß, daß sie gerettet sind, will ich gern alle Folgen auf mich nehmen,“ sagte er.
„Aber, mein Herr,“ erwiderte ich scherzend, „wie haben Sie mich und uns Alle so erschrecken und mich in die unangenehme Lage bringen können, Ihnen die Unwahrheit sagen zu müssen!“
„O, Sie haben Ihre Revanche genommen,“ rief er lachend. „Ich kann Ihnen das Zeugniß ausstellen, daß Sie Ihre Rolle meisterhaft gespielt haben.“ Bei einer Flasche Portwein schlossen wir Freundschaft und trennten uns nach einer Stunde wie alte Bekannte. Ich habe ihn seitdem nie wieder gesehen.
Aus den Schiffslisten erfuhren wir, daß die „Anna“ am 19. November im Sunde angekommen war, wir wurden aber zugleich durch die Nachricht alarmirt, daß um jene Zeit auch das preußische Kriegsschiff „die Amazone“ den Sund passirt habe. Das Zusammentreffen beruhte indeß glücklicher Weise auf reinem Zufall. Die Ankunft der Flüchtlinge in Leith und Edinburg, wohin sie sich, anstatt nach Newcastle, des besseren Windes wegen gewandt hatten, berichtete Kinkel in einem Briefe an die Brockelmann’sche Familie. Am 1. December hatten sie den freien Boden Britanniens betreten. Von Edinburg waren sie mit der Eisenbahn nach London gefahren. In Paris sah Kinkel seine Frau, welche noch kurz vor ihrer Abreise dahin eine polizeiliche Haussuchung zu bestehen gehabt hatte, und seine Kinder wieder.
In dem nachstehenden, auf der Fahrt nach England entstandenen Gedichte, welches er der Brockelmann’schen Familie zusandte, schildert Gottfried Kinkel die Empfindungen, welche ihn beim Scheiden aus ihrem Kreise bewegten.
Nun sinken böse Sterne
Tief hinter mir in Nacht.
Es ladet mich die Ferne
Mit frischer Morgenpracht.
Mit weißem Kamme schwellen,
Von Süden weht’s mit Macht.
In wenig Stunden fodert
Der Bootsmann mich zum Strand.
Des Abschieds scharfer Brand.
Die Lippe fragt so bange:
Wie lang’, ach, auf wie lange
Meid’ ich das Vaterland?
Ich frisch mich wende nun,
Eh’ neues Schlachtgetose
Mich ruft zu kühnem Thun:
War es mir doch beschieden
Noch einmal auszuruhn!
Ich kam auf Flüchtlingspfaden
Geächtet und gebannt;
Ich kam von Schmerz beladen,
Es schlug die Flucht mir Wunden,
Sie wurden mir verbunden
Von mütterlicher Hand.
Hier fand ich deutsche Seelen
Sie setzten ohne Wählen
An mich ihr Glück und Gut;
Hier an des Landes Marken,
Da fand ich noch den starken,
O Eure fromme Güte,
Sie that sich nie genug!
Sie stillt mir im Gemüthe
Den Ingrimm, den ich trug;
Daß ich vermag zu ziehen
In’s Elend ohne Fluch.
Drum Segen diesem Heerde
Und Heil ihm ewiglich,
Das fromme Gastrecht wich!
Auf allen ihren Wegen,
Mein Kind, den Deinen Segen,
Und Segen auch auf Dich!
Mit mütterlichem Sinn,
Des eignen Hauses walten
Zum freudigsten Gewinn;
Dem trefflichen Gemahle
Du liebe Schaffnerin!
Auch uns, drauf magst Du trauen,
Fällt anders bald das Loos.
Und rasch zu Euren Auen
Aus Franken und aus Sachsen
Soll dann Zusammenwachsen
Ein Deutschland frei und groß!
- ↑ Wir brauchen den Verfasser obiger Schilderung unseren Lesern nicht erst vorzustellen; sie Alle kennen den Ehrenmann, der als Präsident der mecklenburgischen Kammer, wie durch seine längere Haft sich Achtung und Theilnahme in ganz Deutschland erworben. Von ihm ist keine andere, als eine ruhige und durchaus würdige Darstellung jener denkwürdigen Begebenheit zu erwarten. Die Nennung der Namen der Hauptbetheiligten geschah, so weit sie vorkommt, mit ausdrücklicher Zustimmung derselben.D. Red.
- ↑ Im Wesentlichen habe ich die nachfolgende Erzählung in der Isolirzelle des Zuchthauses niedergeschrieben. Vervollständigt habe ich sie später. Bei der Darstellung der Flucht aus Spandau ist mir die Einsicht wichtiger Actenstücke in Sachen des Gefangenaufsehers Brune, des Rathsherrn und Gastwirths Krüger und des Studenten der Medicin Carl Schurz, betr. die Befreiung Kinkel’s, welche mir nach meiner Entlassung aus dem Zuchthause zu Gebote stand, sehr zu statten gekommen. Diese Einsicht war auch insofern sehr werthvoll für mich, als sie mich beurtheilen ließ, in wie weit ich die mir bekannten Thatsachen veröffentlichen durfte. Um Niemanden nachträglich zu compromittiren, habe ich Einzelnes, das nicht ohne Interesse gewesen wäre, verschweigen müssen.D. V.
- ↑ „Schoten“ ist ein Kunstausdruck für die Taue am unteren Ende des Segels, mit welchen dieses am Boote befestigt wird.
- ↑ WS: s. a. Berichtigung (Die Gartenlaube 1863/24)