Zum Inhalt springen

Ein Genie im Wohlthun

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Wilhelm Schröder
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein Genie im Wohlthun
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[107]
Ein Genie im Wohlthun.


Wenn ein Nicht-Hannoveraner auf der letzten Station der Eisenbahnen von Berlin-Branuschweig, Köln-Minden oder Göttingen-Kassel her der Residenz an der Leine so nahe gekommen, daß er die Hauptthürme derselben, den Marktkirchenthurm und den Aegidienkirchenthurm erblickt, und nun seinen Nachbar im Coupé fragt: „Um Entschuldigung, was ist denn wohl das Merkwürdigste in Hannover, so das Sehenswertheste, wie man zu sagen pflegt, für einen Fremden?“ – so wird der Gefragte, wenn er ein echter stadthannoverscher Philister ist, antworten: „Die Waterloosäule!“ – und wenn dieser Philister noch nebenher ein Goldschmied ist, so wird er antworten: „Die Silberkammer auf dem Schlosse!“ – und wenn ein Pferdehändler: „der Königliche Marstall!“ – und wenn er kein Philister, sondern ein Gelehrter ist, so wird er antworten: „Leibnitzens Manuscripte auf der Königlichen Archivbibliothek!“ – wenn ich, Schreiber dieses, aber der gefragte Philister wäre, so würde ich unbedingt antworten: „Das Merkwürdigste in Hannover ist der Pastor Bödeker!“ – „Wie? Ein Pastor – und das Merkwürdigste – in dieser Residenzstadt von 60000 Einwohnern?“ – wird dann der Fremde erwidern. – „Ja,“ antwortete ich, „er ist das Merkwürdigste in Hannover und zwar aus dem einfachen Grunde, weil er – ein Genie ist, und zwar – ein Genie im Wohlthun.“ –

Paster Bödeker’s Weltanschauung, aus welcher sein ganzes Wirken hervorgeht, ist die: daß die Hauptaufgabe jedes Menschen, neben der fortwährenden Arbeit zur Läuterung und Besserung der eigenen Seele durch die allseitig geöffneten Erkenntnißquellen, darin bestehe, so viel als nur irgend möglich die innere und äußere Glückseligkeit anderer Menschen zu befördern. Darum hat Bödeker den größten Theil seiner Thätigkeit dahin gerichtet, das Elend der unteren und mittleren Classen zu mindern, im Großen, wie im Einzelnen, wo er solches nur aufzufinden vermag. Um aber dies aufzufinden, ist nöthig, daß man darnach suche. Und wie hat er darnach gesucht seit nunmehr einem halben Säculum, und wie sucht er noch täglich mit unverminderter Ausdauer darnach? Für diesen großen selbsterwählten Zweck hat er sein ganzes bisheriges Leben in Tagesmühen, Nachtwachen, Geldopfern von Tausenden, ja in der Entbehrung von eigenem häuslichen und Familienglück obendrein, zum Opfer gebracht, er hat für dieses Ziel nichts gescheut und durch nichts sich davon abschrecken lassen. Um so erfreulicher ist es daher, daß der gesunde Sinn des Volkes, das Vorhandensein einer vernünftigen und damit gerechten Majorität in der Menschheit unserer deutschen Gegenwart, welches sich Gottlob auch in den andern großen politischen und socialen Fragen der Epoche unzweifelhaft kundgiebt – sich auch in diesem Einzelfalle hier bei uns Hannoveranern (die wir sonst eben nicht die Vorkämpfer der deutschen Erkenntniß sind) bewiesen hat; der Pastor Bödeker ist längst allgemein anerkannt als ein wahrer Volksmann im edelsten Sinne des Wortes, als Einer der Ersten und Besten seiner Kategorie im ganzen Lande Hannover.

[108] Werfen wir zunächst hier einen Blick auf Bödeker’s amtliche Berufsthätigkeit. Obwohl die Stellung eines Predigers in einer großen Stadt, um eine im höchsten Sinne des Wortes gedeihliche zu werden, eine weit schwierigere ist, als eine solche in der Landgemeinde, so gewann er sich doch bald in seiner Gemeinde nicht nur, sondern weit über die Grenzen derselben hinaus, einen so heilsamen Einfluß, wie er sonst nur einem langjährigen bewährten Freunde zu Theil zu werden pflegt. Der Hauptgrund davon lag, wie in seiner geistigen Kraft und Lebendigkeit überhaupt, so auch besonders in der natürlichen, zutraulichen und eben deshalb so leicht bewegenden Sprache im Umgange wie auf der Kanzel. Man mußte sich gestehen, daß solch ein klar verständlicher, aus dem Herzen kommender Ton neu sei in der Gemeinde, und weil zum Herzen dringt, was vom Herzen kommt, so kehrte man mit stets wachsender Liebe dort ein, wo dem schlichten Sinne, dem unverdorbenen Gemüthe stets neue Nahrung geboten wurde. Mit jedem Vortrage wuchs die Zahl der Zuhörer, damit aber auch der Eifer Dessen, dem sie horchten, und wie oft mit klopfendem Herzen und thränendem Blick! Wer auch nur wenige Predigten Bödeker’s gehört oder gelesen hat, findet gar leicht, daß sie von jenen Kunstmitteln frei sind, welche dem berechnenden Vorbedachte dienen müssen, um irgend einen wünschenswerthen Eindruck, mit einem Worte, um Effect zu machen. Die Eindringlichkeit und Kraft derselben beruht allein in der schlichten Natürlichkeit, womit die Predigten angelegt und ausgebaut sind; wir möchten sagen, sie beruht in ihrer Bürgerlichkeit, welche der Sprache der Bibel, wie sie aus der immer noch unübertroffenen lutherischen Uebersetzung bekannt ist, am nächsten kommt.

Wir können überhaupt seine felsenfeste Ueberzeugung von der Größe des geistlichen Berufes, seinen Eifer, seine innige Liebe für denselben nicht treffender bezeichnen, als mit den Worten, die wir von ihm selber vernehmen. Er sagt sehr oft: „Ich wollte, wenn ich wählen müßte, lieber Pastor sein ohne Gehalt, als die Stelle aufgeben und die volle Einnahme beziehen.“ – Dem König Ernst August, selbst eine originelle und active Natur, konnte ein solcher Pastor in seiner Residenzstadt nicht lange unbekannt bleiben; er nahm denn auch bald Veranlassung, denselben zur Tafel zu ziehen, wo die Unterhaltung zwischen dem Monarchen und dem Prediger eine sehr lebhafte und andauernde war. Nach aufgehobener Tafel äußerte einer der Cavaliere zu Bödeker: „Der König scheint Ihnen gewogen zu sein und wird Sie sicher nächstens befördern.“ Er antwortete auf der Stelle: „Ich will nicht befördert werden; ich will Pastor an der Marktkirche bleiben, das genügt mir; als solcher bin ich am unabhängigsten und kann am meisten wirken; ich werde meine Gemeinde nicht eher verlassen, als bis sie mich wegjagt.“ – Als dem Könige diese Worte hinterbracht wurden, äußerte er: „Ich hab’s dem Menschen gleich angemerkt, daß er nichts von mir haben will.“

Daß Bödeker auch als Theolog freisinnig ist, dafür möge hier nur ein Fall citirt werden. Als vor mehreren Jahren das ganze geistliche Ministerium den evangelischen Pastor Steinacker aus Triest (durch die Ultramontanen aus seiner dortigen Wirksamkeit vertrieben und hiernach an der Kreuzkirche zu Hannover zum zweiten Prediger erwählt) wegen seiner angeblichen Irrgläubigkeit verurtheilte, als darauf das königliche Consistorium, auf den Antrag jener geistlichen Herren, Steinacker’s Wahl ablehnte, da war es Bödeker, welcher Steinacker gegen seine sechs Collegen durch ein Separatvotum in Schutz nahm. Er erhielt dafür vom königlichen Consistorium einen officiellen Verweis. Steinacker ist nun bereits seit mehreren Jahren Pastor im Weimar’schen, wofür Bödeker’s Verwendung ihm auch mit behülflich gewesen.

Auch darin sehen wir in ihm den echten Geistlichen, daß er keinen Anlaß zum Hausbesuch seiner Gemeindeglieder versäumt und daß der Aermste wie der Angesehenste dabei keinen Unterschied macht. Und überall sehen wir nicht einen Pfarrherrn, der in seinen Amtshandlungen ein Anderer ist als zu Hause oder in vertraulicher Gesellschaft: wir sehen nur den Freund, der glücklich ist in seinem Berufe. Daß er’s wirklich ist, bezeugt er selber durch einen der schönsten Aussprüche des Apostels Paulus, einen Spruch, welchen wir unter einem älteren Portrait Bödeker’s zugleich als Facsimile lesen: „Nicht daß wir Herren seien über eueren Glauben, sondern wir sind Gehülfen eurer Freude.“ –

Damit gehen wir zu jenem Theile von Bödeker’s Thätigkeit über, welche ihn vorzugsweise in den weitesten Kreisen bekannt und willkommen machte, und welche wir nicht anders als mit dem Worte „universelle Hülfsthätigkeit“ zu bezeichnen vermögen. Diese Skizze würde nun aber zu einem umfangreichen Buche sich ausdehnen müssen, wollte sie jedes Einzelne in seinem Beginn, seinen Folgen, seinem Fortbilden darlegen und alle Fälle, wo Bödeker sich als Mensch, Mitbürger, Freund und Helfer bewährte, aufzählen. Schon in Göttingen als Docent begann er seine Werkthätigkeit, indem er einigen Personen angemessene Dienststellen zu verschaffen wußte. In Hannover aber gewann diese Thätigkeit schon während der ersten Jahre eine wahrhaft überraschende Ausdehnung, – hier ist sie endlich bis zu der Höhe gestiegen, daß es im Volke längst sprüchwörtlich geworden ist, zu sagen: „Na, wenn di Keener mehr helpen kann, denn mußt du na’n Paster Bödeker gahn; wenn aber de ook keen Rath weet, denn büst du gewiß verlaarn!“ – Und Tausende, ja aber Tausende sind während der letztverflossenen 36 Jahre durch die kleine Hofpforte vor der Marktpfarrwohnung mit gramerfüllten Zügen eingegangen, und wenn sie daraus zurückschritten, erglänzte der Freudenschein einer neugeweckten Hoffnung von ihren bleichen Wangen.

So kommt es aber auch, daß bei jeder gemeinnützigen Sache, für welche die Preßorgane aufrufen, Bödeker’s Name mit an der Spitze steht und stehen muß; man kann ihn dabei nicht mehr entbehren, wollte man auch, er gehört einmal mit dazu. Erschiene eine solche Publication und man fände unter den Begründern ihn nicht mitgenannt, so würde das Publicum schon mit einem gewissen Mißtrauen die Sache ansehen, es würde sprechen: „Wie kommt’s, daß Bödeker’s Name nicht mit dabei ist? da muß wohl nicht viel daran sein!“ Und die letztere Betrachtung basirt zugleich auf dem Vertrauen, welches er universell nicht nur für seinen Willen, sondern auch für seine Einsicht sich hergestellt hat. Greift Bödeker eine Sache mit an, so ist man sicher, daß er vorher von ihrer Ausführbarkeit sich überzeugt hat, und daß er dann auch alles nur Menschenmögliche aufbietet, sie zu verwirklichen. So kommt es, daß er noch nichts von gemeinnützigen Instituten begonnen hat, was nicht auch vollendet wurde. Beweise davon sind:

1) Die Stadtschullehrer-Wittwen-Casse für die Residenz Hannover. Bödeker gründete sie, gleich nachdem er, der 24jährige Candidatus theol., zum zweiten Prediger an der Stadtkirche erwählt worden, als erstes öffentliches Dankeszeugniß für seine Erwählung, indem er den Fonds dazu mit 50 Thalern seines Ersparnisses anlegte. Durch eine fortgesetzte Sammler-Wirksamkeit seinerseits und in Folge deren ihm anderweitig zugeflossene Spenden hat sich dieser Fonds so gesteigert, daß die Schullehrer-Wittwen der Stadt nunmehr eine jährliche Pension von 24 Thaler erhalten.

2) Die „Marienstiftung“, durch welche jahraus, jahrein eine Anzahl armer junger Mädchen der unteren Volksclassen zu tüchtigen Dienstmädchen ausgebildet wird.

3) Das Rettungshaus in Ricklingen, unweit Hannover. Dem Verwaltungsrathe desselben übergab Bödeker ein schuldenfreies Grundstück nebst Hause im Werthe von 5000 Thaler; in dieser Anstalt werden jährlich 20 bis 30 sittlich verwahrloste Knaben gebessert, bis sie zum Eintritt in eine Lehrlingsschaft geeignet sind.

4) Die allgemeine Volksschullehrer-Wittwen-Casse für das ganze hannoversche Land. Bödeker gründete dieselbe im Jahr 1834 mit einem Votiv-Geschenk von 3 Louisd’or seitens eines Mitgliedes seiner Gemeinde; der Fonds dieser Wittwen-Casse, für welche Bödeker ebenfalls unermüdlich sammelte und endlich auch die directe Beihülfe des Königs und des Ministeriums wie deren Fundation als „milde Stiftung“ durchsetzte, beläuft sich gegenwärtig auf 170,000 Thaler und gewährt den in drei Classen eingeschriebenen Volksschullehrer-Wittwen des Landes eine jährliche Pension von resp. 13, 17 und 26 Thalern, welcher Betrag sich allmählich immer mehr erhöht.

5) Das „Schwesternhaus“, belegen in der Aegidien-Thors-Gartengemeinde vor Hannover, ein Stift für 40 bis 50 unbescholtene Frauenzimmer des Bürgerstandes in vorgerücktem Alter, welche sich für eine geringe Einkaufssumme ein lebenslängliches Asyl erwerben.

6) Der „Mäßigkeits-Verein“, vor nunmehr zwanzig Jahren gestiftet.

7) Der „Thierschutz-Verein“, ebenfalls seit fast ebenso lange durch ihn gestiftet. Als Filial davon hat Bödeker mit seinem Gelde und unter seiner Leitung in Hannover die erste Pferdeschlächterei errichtet. Es floriren jetzt zwei Pferdeschlächtereien in Hannover, und es sind, nach deren Ausweis, im letzten Jahre [109] 300 Pferde mit einem Gesammt-Ergebniß von circa 150,000 Pfd. gesunden Fleisches geschlachtet worden.

Pastor Bödeker.

Es ist selbstverständlich ebenso herzergreifend wie interessant, in den Vormittags-Sprechstunden, wo Bödeker Jedem zu Rath und That zugänglich ist, die Bevölkerung seines Vorzimmers zu betrachten. Alte gebrechliche Männer und Frauen der ärmsten Classen, welche sich von ihm ihre wöchentliche oder monatliche Unterstützungssteuer von 10, 12, 15 Groschen und darüber holen; andere Bedürftige, für die er aus seiner großen wohlhabenden Bekanntschaft Röcke, Jacken, Strümpfe etc. herbeigeschafft hat; Schulkinder, welche Bibeln, Gesangbücher, die kleinsten, welche Spielsachen geschenkt bekommen; dort eine hülflose Arbeiterfrau, welcher der Mann gestorben und deren Säugling er bei einem vermögenden kinderlosen Ehepaare eine dauernde Aufnahme an Kindesstatt verschaffte; ein Student, der seine Fürsprache zur Erlangung eines Stipendiums, ein während seiner Studienzeit durch ihn unterstützter Candidatus theol., welcher seine Empfehlung zu einer vacanten Hauslehrerstelle nachsucht; ein kleiner Bürgersmann, dem wegen Kündigung eines Capitals, das er nicht wieder anschaffen konnte, sein Haus verkauft werden soll, und der nun auch zu ihm seine letzte Zuflucht nimmt etc. – Und wenn nun zwischen alle diese Armen, Hilfsbedürftigen und Geringen plötzlich ein vornehmer Besuch hineinschneit – denn auch vernehme Leute kommen genug zu ihm, theils um einen Mann von so ungeheurer Popularität sich befreundet zu erhalten, theils weil auch sie mitunter bei ihm Rath und Hülfe suchen – dann treibt er all die geringen Besucher nicht etwa zur Thür hinaus, sondern sagt einfach zu dem vornehmen Herrn: „Bitte, mein Verehrtester, warten Sie ein wenig, bis ich diesen guten Leuten erst gerecht geworden bin;” – und wenn dann der vornehme Herr nicht zu warten Zeit oder Lust hat, so läßt Bödeker ihn getrost gehen, unbekümmert, ob er überhaupt danach wiederkomme oder nicht.

Daß nun die Bevölkerung, wenn es Anlaß giebt, einem solchen Manne ihre öffentliche Anerkennung zu beweisen, damit nicht säumig ist, können wir Gottlob denn auch von den Hannoveranern rühmen. Die erste bedeutendere Gelegenheit hierzu gab es bei Bödeker’s 25jährigem Dienst-Jubiläum, am 27. November 1848. Elf Deputationen erschienen da bei ihm zur Gratulation, welchen sich Hunderte von persönlich Glückwünschenden aller Stände, von den Ministern an bis zu den geringsten Arbeitern hinab, anreihten. Ein anderes Mal, da Bödeker (vor etwa drei Jahren) wochenlang am Nervenfieber daniederlag, kamen täglich Hunderte von Personen, Hoch wie Niedrig, sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Und endlich, als Bödeker, nachdem Gott ihn von seiner kranken Frau erlöst, ein Jahr darauf sich zum zweiten Male mit einer, wie an Jahren ihm nahestehenden, so durch Herzens- und Geistesbildung würdigst ihm entsprechenden hannoverschen Bürgerstochter vermählte, da bereitete ihm die öffentliche Liebe wieder ein großes Herzensfest. Nicht nur, daß auf eine einfache Anregung im „Tageblatt”, überschrieben „Wir wollen ihm auch einmal eine Freude machen!”, in Kurzem eine freiwillig aus Thaler- und Groschen-Beiträgen gesteuerte Summe von über 500 Thalern zusammenkam, wofür ihm ein prächtiger silberner Tafelaufsatz zum Ehrengeschenk hergestellt wurde, sondern es harrten da auch, als er mit seiner Neuvermählten von seiner Hochzeitsreise nach Hannover zurückkehrte, Tausende von Menschen seiner Ankunft am Bahnhofe, welche ihn mit nicht endenwollendem Vivatrufen bis an seine Wohnung [110] geleiteten, wo dann bis spät in die Nacht ein musikalisches Ständchen mit dem andern abwechselte. Kein geliebter Fürst, kein großer kriegerischer oder politischer Befreier dürfte eines allgemeineren Empfangsjubels, der so ganz und recht aus dem Herzen kommt, sich berühmen können. –

Nun, und wie bewegt sich dieser Mann denn sonst im geselligen Verkehr? Auf eine so liebenswürdige Weise, daß er für alle Cirkel, die nur irgend seiner habhaft werden können, als das willkommenste Mitglied gilt. Daß ein Mann von seiner geistigen Rührigkeit auch mit einer guten Dosis Witz und Humor begabt sei, wird man naturgemäß finden. Er ist ein vortrefflicher Erzähler, überhaupt der unterhaltendste Gesellschafter, aber sein Scherz ist stets harmlos, sein Witz nie persönlich wehthuend. Und geschieht es auch einmal – was wohl mitunter ihm passirt und worüber die Grämlichen schon des Oefteren Zeter geschrieen – daß er sich von der Heiterkeit des Augenblicks zu weit fortreißen läßt, ein wenig über die Grenze der pastoralischen Würde hinaus, so darf man mit Recht ein Wort Goethe’s über Lessing auch auf ihn anwenden. Goethe sagte nämlich einst in Bezug auf Lessing’s heftige Ausfälle gegen Götze: „Ja, Lessing darf in der Diskussion mitunter sogar so derb werden, daß er auf Augenblicke selbst die persönliche Würde von sich wirft, weil er der Mann ist, dieselbe jeden Augenblick wieder aufgreifen zu können.“ Dasselbe gilt von Bödeker. Als dahin gehörig sei hier unter Andern nur erwähnt, daß, wenn er auf der Straße einen Jungen antrifft, der den vor seinen Wagen gespannten Hund mißhandelt, er, als Präsident des Thierschutzvereins, nicht Anstand nimmt, den Jungen eigenhändig mit seinem Stocke durchzuhauen. Ebenso ist es bei ihm in der Ordnung, wenn er ein schwaches Kind auf der Straße Wasser holen sieht, ihm das Einpumpen zu besorgen, und wenn ein Hausknecht den Karren nicht über’s Trottoir bringen kann, mit in’s Rad zu fassen, oder wenn ein stätisches Pferd nicht anziehen will, mit nachzuhelfen; sowie er auch auf der Straße in derselben Minute dem Minister und gleich hinterdrein dem Arbeiter die Hand schüttelt.[1]

Einige pikante Einzelzüge, wovon es in Hannover eine ganze Anekdoten-Geschichte giebt, von denen wir aber nur einige uns gerade erinnerliche hier geben, werden das Bild dieses seltenen Mannes zu vervollständigen dienen.

Wie wenig er sich z. B. aus der Etikette macht, erfuhren wir einst in einer Gesellschaft, wo ein Fremder den vielgenannten Pastor Bödeker anwesend weiß und neugierig ist, ihn kennen zu lernen. Der Fremde bittet einen der Anwesenden, ihm denselben zu zeigen. „Das brauche ich nicht,“ sagte der Angeredete, „der formloseste Mensch, den Sie hier treffen, das ist der Pastor Bödeker.“ Und alsbald hatte der Fremdling ihn herausgefunden und stellte sich ihm vor.

„Darum bleibe ich doch immer Pastor Bödeker,“ sagt er, und wenn er auch mal Abends einem angetrunkenen Bürger den Arm reicht, ihn „wegen plötzlichen Schwindels“ gütig nach Hause zu führen.

Als er einmal in einer Versammlung behufs Gründung eines Vereins für einen Humanitätszweck zum Secretair gewählt wurde und ein Mitglied der Gesellschaft seitwärts äußerte, er hätte zum Präses gewählt werden müssen, erwiderte ein Dritter: „Macht ihn in Gottes Namen zum Schwanz; bei seiner Thätigkeit, Einsicht und Liebe wird er von selbst schon der Kopf werden, und auf den äußerlichen Rang kommt’s ihm ja nicht an.“

Entlassene Sträflinge oder solche, deren Entlassung bevorsteht und die die Absicht haben, sich zu bessern, wenden sich persönlich und brieflich an ihn, mit seiner Hülfe eine neue ehrliche Existenz zu gewinnen. – Dem unverschuldet bankerott gewordenen Miethskutscher schießt er 200 Thaler vor, um wieder zu miethkutschern, einem Schmied desgleichen kauft er Hämmer, Ambos und Blasebalg etc., um wieder zu schmieden. – Dem (wegen Trunks) abgesetzten Schulmeister verschafft er bei einem befreundeten Gutsbesitzer eine Hauslehrerstelle in der einsamen Haide, wo er keine Gelegenheit zum Kneipen hat und sich so des Branntweins entwöhnt, und sorgt schließlich für Wiederanstellung des Gebesserten im Staatsdienste. Einst begegnet ein verzweifelnder Familienvater auf seinem Pfade zum Wassertode einem Mitbürger und erklärt demselben auf Befragen, er wolle sich ersäufen. Da fagt der Letztere: „Dann sprich doch aber erst mit dem Pastor Bödeker!“ Der Mann gehorchte, und Bödeker sorgte für ihn und seine Familie, und noch jetzt segnen sie Alle den lieben Mann.

Wir sind damit zum Schlusse unserer Skizze gediehen, die hoffentlich dereinst eine stärkere Feder und mit mehr Muße zu einer vollständigen Biographie ergänzt. Im Uebrigen war es uns nicht darum zu thun, dem Manne einen Panegytikus zu halten; er selbst bedarf dessen nicht und lechzt nicht darnach. Beweis ist, daß noch die Artikel der Art über ihn in Zeitungen oder Zeitschriften erschienen, wo doch Hunderte von anderen Personen, die ihm nicht bis an die Sohle reichen, sich haben illustriren, biographisiren und glorificiren lassen. Er würde fortfahren zu handeln, wie er handelt, wäre und würde auch nie ein Wort der öffentlichen Anerkennung über ihn gedruckt. Um seiner selbst willen brauchten wir also nicht zu, schreiben; aber es geschah um der Andern willen. – Denn das Wort des Historikers Johannes von Müller aus seiner Gedächtnißrede auf einen großen Todten ist von unumstoßlicher Wahrheit: „Eroberungen können verloren gehen, Triumphe kann man streitig machen. Aber der Ruhm und der Vortheil, den das Beispiel gewährt, sind unzerstörlich, unverlierbar. Der eine bleibt seinem Urheber eigenthümlich, der andere zugesichert allen Denen, die ihm nachahmen. – Wenn eine solche Lobrede, wie die hier gehaltene, keiner Künste bedarf, um die Theilnahme großer Seelen zu wecken und die Schwachen tröstend aufzuhalten, die im Begriff sind, sich selbst aufzugeben, dann ist die Weihe vollbracht; ein solcher Mann gehört, wie die unsterblichen Götter, nicht einem gewissen Land, nicht einem gewissen Volk – diese können veränderliche Schicksale haben – der ganzen Menschheit gehört er an, die so edler Vorbilder bedarf, um ihre Würde aufrecht zu erhalten.“

Dr. Wilhelm Schröder.

  1. Und selbst den geselligen Verkehr in engerem Kreise beutet er auf das Schönste für seine Wohlthätigkeitslust aus. Um sogar seiner körperlichen Rüstigkeit sich nicht allein zu freuen, stiftete er einen „Norddeutschen Morgenpromenadenbeförderungsverein“. Die Mitglieder desselben wandern jeden Morgen, Winter und Sommer, in rechter Frühe nach dem sogenannten Lister-Thurme, um da gemeinsam ihr Frühstück zu nehmen und dann frisch gestärkt an ihre Tagesarbeit zu gehen. Kommt aber mit der Weihnachtszeit, wie nun seit 20 Jahren, von Hildburghausen her Friedr. Hofmann’s „Weihnachtsbaum für arme Kinder“ in Bödeker’s Hände, so verwandelt er rasch die Promenadenvereinler in eifrige Christbescheerungsväterchen. Die (60–80) Exemplare sind rasch und stets einträglich verkauft, und am Christtagmorgen wandelt mit den alten Herren eine ausgewählte Schaar armer Kinder mit zum Lister-Thurme. Und wenn dort die Kleinen durch des Herrn Pastors Fürsorge, mit Kaffee und Kuchen sich aufgewärmt haben und die jungen Herzen in die rechte Verfassung gebracht sind, so werden sie unter den strahlenden Christbaum geführt, singen Weihnachtslieder, empfangen die Gaben der Christfestfreude und ziehen auch als glückliche Kinder wieder von dannen. Das nennt dann Bödeker die heiligen Weihestunden seines Morgenpromenadenbeförderungsvereins.
    D. R.