Häuser (Tucholsky)
Häuser
Mittleres Haus in der Köpenicker Straße, in der Avenue des Ternes, am Harvestehuderweg –
du bist vollgelebt.
Hinter deinen Tapeten hat sich Angelebtes versammelt,
nachts knistert es,
mittleres Haus.
Kotdurchrieselt stehst du,
von Drähten durchzuckt,
ein lebendiger Leib;
mit Recht spannen sich die Radiotrapeze, auf denen die Ätherwellen turnen, auf dem Dach aus,
neben den Hypotheken –
denn wer könnte Hypotheken handeln,
ohne die abendliche Hilfe Beethovens!
in denen das Mauerleben längst abgestorben ist;
tot ruht der Kalk,
die Wanzen weinen
und beißen, angefüllt mit Verzweiflung der Isoliertheit;
schweigsam ist die Tür wie ein gefalteter Greisenmund.
So alte Leute sagen nichts mehr –
sie haben zu viel gesehn.
Du bist ein mittleres Haus.
in deren weißgetünchte Schubschachteln der Mensch hineinfällt,
hier seine Scheidung, seine neugebornen Kinder, seine Malheurbriefe zu erwarten;
kindisch gluckert die Badewanne, das junge Ding,
albern blitzen die Klinken,
wie mühsam ist es, ein so funkelnagelneues Behältnis vollzuwohnen!
So junge Leute sagen nicht viel –
sie haben noch zu wenig gesehn.
In ihnen vergeben die Mieter ihre Kraft – seelische Trockenwohner.
Du hast schon viel in dir gehabt, Mutter der Möbel,
aber noch nicht genug.
Empfang, schlürf ein, spei aus:
Jeder Umzug eine kleine Geburt.
Deine Rohre rauschen, es kocht in den Ausgüssen, es brodelt im Badeofen.
Durch deine Steine sickert Weinen,
deine Ziegel schwitzen Elend aus
und gerinnendes Stöhnen der Komödien der Nacht.
Durchbrüllt vom Lärm der Wirtschaften,
vom sinnlosen Klingeln
und vom Quäken näselnder Phonographen!
Mancher wohnt oben in dir,
Und abends,
wenn der Film der Geschäftigkeiten ruht,
steckt ein Hund seinen Kopf zum Fenster heraus,
ernsthaft wie Gottvater die Straßenwürmer betrachtend,
das ist für ihn eine zweite Erde.
Mittleres Haus.