Hermann von Schmid (Nachruf)
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Ende August 1865 fand in Leipzig eine Schriftsteller-Versammlung statt, zu deren Besuch ein Anfänger meines Calibers nicht berechtigt war; ich folgte nur der Aufforderung eines vielfach literarisch thätigen Hoftheater-Regisseurs, der die Gelegenheit günstig fand, mir mündliche Rathschläge in einer Bühnenfrage zu ertheilen. Wir saßen am Nachmittag im Freien vor einem Café, als ein Herr von mittelgroßer, etwas corpulenter Gestalt sich näherte und die kleinen, dichtbesetzten Gasttische durch seine goldene Brille musterte. Plötzlich sprang mein Gesellschafter auf; Anruf und Umarmung folgte, und ich empfing die Erklärung: „Doctor Hermann Schmid aus München.“
Der Name war mir bis dahin nur oberflächlich bekannt, ich hatte wenig von ihm gelesen; natürlich war ich dem neuen Ankömmling erst recht fremd, weil er mich aber neben seinem alten Freunde fand, bot er mir herzlich die Hand und ließ sich bei uns nieder. Es giebt nicht viel Gesichter, die bei der ersten Begegnung so wohlthuend wirken, so viel Vertrauen einflößen, wie die Züge Schmid's es thaten. Er zählte damals fünfzig Jahre (geboren den 30. März 1815 zu Weizenkirchen im baierischen Innviertel), und das spärliche, glatt anliegende, graumelirte Haar, wie der gleichsam aus Pfeffer und Salz gemischte Vollbart stimmten zu dem Alter, das frische Roth auf den runden Wangen hingegen widersprach ihm, ebenso die Rüstigkeit der Bewegungen und die lebhafte Sprechweise. Der süddeutsche Dialekt klang sehr angenehm in seinem Munde, und wenn man in die milden, klugen Augen sah, hatte man das Gefühl: „Der Mann dürfte gar nicht anders reden, das harte norddeutsche Idiom würde für sein ganzes Wesen nicht passen.“ Von verschwommener Weichheit jedoch war dieses Wesen weit entfernt; die kurze, präcise Art, sich auszudrücken, zeugte vielmehr von einem festen, kernhaften Charakter. Auch lächelten die freundlichen Lippen nur so lange, wie die erste Freude, einen langentbehrten Jugendgenossen wieder zu begrüßen, anhielt; als es zum Austausch der Lebensschicksale kam, flog ein Schatten über Schmid's hohe, schön gewölbte Stirn, und selbst in die feingebogene Nase grub sich eine Falte; er fing an, zu klagen, daß ihm seine Existenz nicht leichter werde, und warf mir, dem Neuling, einen Blick zu, worin das Bedauern lag: „Armer Gesell, Du hast auch die schwere Laufbahn erwählt?“
Er sei von Hause aus Jurist, ließ er hören, Doctor der Rechte, habe sogar schon eine Zeit lang die Stellung eines Stadtgerichtsassessors in München bekleidet, indeß sehr wenig Befriedigung darin gefunden und sie ohne großen Schmerz verloren, als politische und private Verhältnisse ihn 1850 in Ruhestand versetzt. Freies geistiges Schaffen, fuhr er fort, sei sein eigentliches Element, es werde ihm aber dadurch getrübt, daß er nun schon so lange schreibe, ohne „recht durchzudringen“, und das bloße „sich über Wasser halten und vor Nahrungssorgen schützen“ genüge ihm nicht.
„Lieber Alter,“ fiel der Mann des Theaters ein, „Dein Unglück rührt daher, daß Du nicht, wie Der und Jener von unserer Zunft, Reclame zu machen verstehst.“
„Nein,“ lachte Schmid auf einmal hell, „das versteh' ich wirklich nit, werd's auch nie lernen.“
Es kam nun zur Sprache, wie viel er schon producirt: auf dem Gebiete des Romans und der Novelle „Das Schwalberl“ (1861), „Alte und neue Geschichten aus Baiern“ (1861), „Der Kanzler von Tirol“ (in drei Theilen 1862), „Almenrausch und Edelweiß“ (Erzählung 1864), „Bairische Geschichten aus Dorf und Stadt“ (zwei Bände 1864), „Im Morgenroth“ (eine Münchener Geschichte in drei Bänden (1864). Und wie viel dramatische Erzeugnisse waren diesen vorangegangen! Das Trauerspiel „Camoëns“, das bereits 1843 in München beifällig aufgeführt worden, hatte den damals regierenden König Ludwig den Ersten auf den jugendlichen Dichter aufmerksam und zum Gönner desselben gemacht. Die politische Bewegung des Jahres 1848, der Schmid sich nicht verschließen konnte, löste die Beziehungen, und erst unter dem Enkel Ludwig dem Zweiten knüpften sie sich von Neuem, und zwar um so dauernder.
In seinen Mitteilungen unterbrach den Erzähler ein frisch und energisch auftretender Herr von militairischem Aussehen, der leise an den Tisch trat und die Hand auf die volle Schulter des Baiern legte. Es war der Begründer der „Gartenlaube“, der allverehrte Ernst Keil, mit dem Hermann Schmid schon am Vormittage ein Rendezvous vor dem Café verabredet hatte, um über einen neuen Beitrag für die Wochenschrift mit dem Herausgeber zu verhandeln.
Die ersten in der „Gartenlaube“ erschienenen Erzählungen Schmid's waren dem Publicum minder gleichgültig geblieben, als der Verfasser glaubte, Ernst Keil aber wußte, welche Kraft er an dem Münchener Mitarbeiter gewonnen, und wünschte den tüchtigen Kämpen dauernd an seine Fahne zu fesseln; denn er sagte sich richtig: Wer so in das Leben des baierischen Gebirges und seiner Bewohner eindringt, ihre Sitten, Anschauungen, Leidenschaften so treu und wahr schildert, daß Leser aller Kreise und Gesellschaftsclassen Interesse für diese Dorfgeschichten fassen, der ist dein Mann und muß es bleiben.
Allein das feste Contract-Verhältniß, in welches Schmid zur „Gartenlaube“ getreten, nahm zur Erfüllung nicht die ganze Zeit des Autors in Anspruch, der sich stets und vorzugsweise nach Erfolgen auf der Bühne sehnte. Er durfte sich ihr um so mehr zuwenden, als seine Erzählungen manche fremde Feder zu theatralischer Bearbeitung reizten; warum sollte er nicht selbst mit seinem Pfunde wuchern? Doch seltsam: er vermochte sich auf den Brettern nicht einzubürgern, obschon er nach seiner eigenen Aussage gerade seine besten Stunden an Bühnenwerke setzte.
Der Grund lag vielleicht darin, daß scenische Vorgänge nicht die behagliche Breite der Ausmalung vertragen, die oft genug der epischen Form ihren Zauber verleiht. Schmid's Dramen, in gebundener Sprache wie in Prosa, wurden nur hier und da aufgeführt und blieben Eintagsfliegen. Wer kennt z. B. seinen „Columbus“, seinen „Ludwig im Bart“? Das historische Schauspiel „Rose und Distel“, worin Oliver Cromwell den Mittelpunkt bildet, wurde zwar vor einigen Jahren im Berliner Schauspielhause gegeben, erlebte jedoch nur eine so kurze Reihe von Wiederholungen, daß es ebenfalls so gut wie unbekannt geblieben ist. Einige andere Stücke von Schmid darf sogar Niemand kennen; denn sie sind ausschließliches Eigenthum König Ludwig's des Zweiten von Baiern, der bekanntlich öfter Schriftsteller seiner Hauptstadt mit dramatischen Arbeiten beauftragt, die dann speciell vor Seiner Majestät – und zwar ganz separat – dargestellt werden. Der Monarch entschädigt die Poeten, die sich jedes Rechts auf Verbreitung so entstandener Werke begeben. Vielleicht findet die Nachwelt in der königlichen Privatbibliothek noch einmal wunderbare Schätze, die das alte Sprüchwort auf's Neue rechtfertigen: habent sua fata libelli – auch Bücher haben ihre Schicksale.
Wiewohl Hermann Schmid es mitunter schmerzlich empfand, seine Mühen für's Theater ziemlich verloren zu sehen, beschlich ihn doch nie der geringste Neid gegen Collegen, welche auf diesem Felde glücklicher waren als er. Im Gegentheil suchte er Jüngeren bereitwilligst alle Wege zu öffnen, auf denen sie sich vorwärts bringen konnten. Güte gegen seine Mitmenschen war ihm Bedürfniß, und die Freude strahlte förmlich von seinem liebenswürdigen Gesichte, wenn er an Orten, wo er Einfluß besaß, für Jemand Etwas durchgesetzt hatte. In Heftigkeit und Erbitterung gerieth er nur über Schlechtes und Gemeines. Das empörte ihn, und verlieh alsdann seinem Zorn in Rede und Schrift Ausdruck. So heiter und lustig er beim Glase sein konnte, in Stimmung zu lasciven Scherzen fiel er keinen Augenblick seines Lebens, und man durchsuche seine gesammte gedruckte Hinterlassenschaft nach einer einzigen Frivolität! Dies ist heutzutage durchaus kein blos relativer, sondern entschieden ein positiver Vorzug. Stellt Hermann Schmid gesunkene Naturen dar, so thut er's genau wie der herrliche Schweizer Volksschriftsteller Jeremias Gotthelf zu dem Zwecke, die Verkommenheit als abschreckendes Beispiel vorzuführen, und er zeigt zugleich den Pfad zu ihrer Wiedererhebung aus dem Abgrunde. So steht er in vollem, rühmlichstem Gegensatze zu der sogenannten „Schule der Naturalisten“ in Frankreich, den Herren Zola und Consorten, die wir dreist eine „Schule der Schmutzfinken“ nennen dürfen.
Man tritt zuweilen in äußerst luxuriös ausgestattete Räume [852] und ächzt sofort heimlich: „Hier könntest Du nie froh werden; hier waltet ein unsauberer Geist; hier weht ungesunde Luft.“ Wer aber aus München in die Vorstadt Giesing pilgerte und vor dem kleinen, mitten im Garten gelegenen, rings von Grün umrankten Landhause stand, das Hermann Schmid mit seiner Gattin und Pflegetochter bewohnte, dem winkte Alles einladend, anheimelnd, und in den engen Zimmern mit ihrer schlichten Einrichtung war’s so traulich, daß man gern blieb, je länger, je lieber.
Der Hausherr kam dem Gast mit unbeschreiblicher Jovialität entgegen, und ein gutes, anregendes Gespräch war augenblicklich in Fluß. Wer eine Freude mitzutheilen kam, konnte der Mitfreude sicher sein, wer Sorgen und Bekümmernisse auszuschütten hatte, fand ernste Theilnahme, milden Trostzuspruch und Aufrichtung. In der Nähe des Mannes ward Einem immer wohl, ob man ihn in seinem abgeschiedenen Heim oder auf geräuschvoller Straße traf oder ein Stündchen im Weinkeller mit ihm verbrachte. Nur einmal wurde mir weh bei der Begegnung mit ihm; das war am 7. März dieses seines Todesjahres. Der Frühling schien ungewöhnlich zeitig in die Isarstadt einziehen zu wollen; die Sonntagsglocken durchklangen die warme, helle Morgenluft; ich kam aus Paris, hatte den gütigen alten Herrn seit fünf Jahren nicht gesehen und in München erfahren, er sei schwer krank gewesen und wohl kaum schon wieder sprechbar. Dessen ungeachtet wagte ich’s, da ich mich nur wenige Tage aufhalten konnte, in Giesing anzuklopfen. Die Pflegetochter des Patienten empfing mich; er war zum ersten Mal außer Bett, und da er hörte, meine Frau, die ihn noch nicht persönlich kannte, sei mit mir, ließ er uns eintreten. Das Fräulein bereitete mich vor, ich würde den Papa sehr verändert finden. Am Fenster mit der Aussicht auf den Balcon saß er in dem sonnedurchschimmerten Arbeitszimmer. Das Herz stand mir einen Moment still: statt der lebensvollen, rührigen Gestalt, die ich in der Erinnerung trug, streckte mir ein welker Greis mit eingefallenen, schlaffen Wangen die abgemagerten Hände matt aus dem hohen Lehnstuhl entgegen, und das müde Lächeln fiel ihm schwer. Sein Bart war schneeweiß geworden. Wie strengte ihn jedes liebe Wort an, das er meiner Frau sagte! Er kämpfte beständig mit Athemnoth. Wiewohl wir seine Hoffnung nicht theilen konnten, suchten wir sie dennoch zu unterstützen, indem wir die Zuversicht aussprachen, daß ein Sommeraufenthalt in den Tiroler Bergen, an denen er so sehr hing, ihm die volle Genesung bringen werde. Vielleicht wollte er wieder in’s Etschthal nach Schloß Lebenberg bei Meran, wo es ihm stets ungemein gefallen, wo er häufig Stoff zu Arbeiten für den Winter gesammelt und auch seinen fünfbändigen Roman „Mütze und Krone“ 1869 zu Ende geführt. Im Rath des Schicksals aber war anders über Schmid’s thätigen Geist beschlossen.
Ein Vorgefühl davon mußte ihn plötzlich bei unserem Aufbruch ergreifen; denn als ich seine Lippen zum Abschied berührte, traf mich ein langer Blick aus den glanzberaubten Augen; dann wendete er mit einer Thräne den Kopf; die Lider schlossen sich; wir eilten hinaus, um unsere eigene Erschütterung nicht zu verrathen und die ausgesprochene Sommerzuversicht nicht Lügen zu strafen. Schmid's Lebensflamme war aufgezehrt; am 19. October verglühte ihr letzter Funke.
Von seinen beliebt gewordenen Werken sind noch zu nennen: „Friedel und Oswald“ (3 Bände, 1866), „Die Türken in München“ (2 Bände, 1872), „Concordia“ (1874) und „Der Bauernrebell“ (1876). Die Genugthuung, die ihm bei unserem ersten Zusammentreffen fehlte, sich nach Verdienst anerkannt zu sehen, erlebte er wenigstens im letzten Jahrzehnt seines Wirkens, wo er auch zugleich festeren Fuß auf der Bühne faßte; denn hatte er 1866 das Amt des Dramaturgen am Münchener Actientheater mit Verdruß niedergelegt, weil Offenbach’s Operetten die Herrschaft über das Repertoire gewannen, so wurde er nach dem Bankerott des Theaters entschädigt. König Ludwig erwarb es und legte die artistische Leitung in Schmid’s Hand; nun konnte der Dichter seinen sittlichen Geist walten lassen, eine wahrhafte Volksbühne herstellen und echte Volksstücke schreiben wie „Der Tatzelwurm“, „Die Auswanderer“, „Vineta“, und andere, die auch außerhalb Münchens fortleben.
Wieviel sein Landesfürst von Schmid hielt, bewies er vor vier Jahren durch Verleihung des Kronordens, mit dem in Baiern der persönliche Adel verbunden ist. Auf den inneren Adel, der dem Verewigten von der Natur in’s Dasein mitgegeben worden und zur Erscheinung kam in Allem, was er dachte, sprach und schrieb, übte diese äußere Auszeichnung des Dichters keinen Einfluß. Er blieb nach wie vor der Mensch und Denker, wie er als „ein Erzähler der ‚Gartenlaube‘“ im Jahrgange 1867 unseren Lesern in Bild und Wort dargestellt worden ist, und so hielt er auch bis an sein Ende fest an seinem Lieblingsspruche:
„Die Kraft ist Schicksal – unser ist der Wille!“