Herr Müller in Tunis

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Textdaten
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Autor: B. in T.
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Titel: Herr Müller in Tunis
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, S. 344–347
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[344]
Herr Müller in Tunis.


Es war im August des vorigen Jahres. Wir hatten vor Goletta, der tunesischen Hafenstadt, Anker geworfen, und ich benutzte den ersten freien Tag, um der Residenz des Beys einen Besuch abzustatten. In der Begleitung dreier Freunde, worunter unser Bordarzt, fuhr ich um vier Uhr Morgens auf einem Ruderboote nach Goletta. Man kann von dort aus sowohl zu Lande als zu Wasser nach der Hauptstadt gelangen; als Seeleute zogen wir die etwas längere, jedenfalls aber staubfreie Wasserstraße vor und begaben uns daher an Bord des kleinen Dampfers, welcher täglich, mit Ausnahme des heiligen Freitags, seine Tour nach Tunis zurücklegt.

Die Fahrt über den kaum drei Fuß tiefen Meeresarm, [346] Bahira genannt, an welchem die Hauptstadt liegt, bot wenig Interessantes, weshalb wir unsere Aufmerksamkeit unseren Reisebegleitern zuwandten. Mauren in ihrer malerischen Tracht, lebhafte Sicilianer, ernste Spanier und Griechen belebten in buntem Gewühl das Verdeck, und an unser Ohr schlugen arabische und italienische Laute, sowie die der Lingua franca, eines aus den beiden genannten Sprachen hervorgegangenen Idioms.

Wir hatten in der Nähe des Steuers Platz genommen und tauschten Bemerkungen über unsere Umgebung aus, als ein europäisch gekleideter Herr auf uns zutrat, uns in unserer Muttersprache begrüßte und sich als ein in Tunis ansässiger Deutscher zu erkennen gab. Hocherfreut über die unerwartete Begegnung, stellten wir uns vor und erfuhren von unserem Landsmanne, daß er Friedländer heiße und im Dienste einer englischen Missionsgesellschaft die Jugend der israelitischen Gemeinde unterrichte. Sehr zuvorkommend erbot sich Herr Friedländer, uns auf einem Gange durch die Stadt zu begleiten, und ich halte es für meine Pflicht, zu bekennen, daß ich bei ähnlichen Gelegenheiten nie einen liebenswürdigeren Cicerone getroffen habe.

Wir landeten in Tunis und begannen unsere Wanderung. Die Straßen erwiesen sich, wie dies in den meisten Städten des Orients der Fall ist, als ungepflegt und unsauber. Die Gebäude, deren Fenster, wenn nach der Straßenseite gelegen, mit Eisengittern versehen sind, zeigten theilweise geschmackvolle, wohlerhaltene architektonische Verzierungen, theilweise trugen sie das Gepräge orientalischer Fahrlässigkeit. Namentlich war dies der Fall in dem nordöstlichen Theile der inneren Stadt, dem Ghetto, in welches die Unduldsamkeit der früheren tunesischen Herrscher die Juden bannte. Uebrigens waren ehemals auch die Franken und Spanier auf besondere Stadtviertel beschränkt, und obwohl es jetzt jedem Bewohner von Tunis frei steht, in einem beliebigen Theile der Stadt seinen Wohnsitz aufzuschlagen, so wird im Ganzen genommen von diesem Rechte doch wenig Gebrauch gemacht.

Mehr als die Gebäude der Stadt fesselte uns das bunte Gewühl in den Straßen, und Freund Friedländer hatte kaum Athem genug, um alle unsere Fragen zu beantworten. Hier wandelt bedächtigen Schrittes ein Vollblut-Maure, den weißen oder bunten Burnus malerisch über die Achsel geworfen. Dort trabt ein Lastenträger in dunkler Jacke und kurzem, blaugestreiften Beinkeid, ein Dschebagli, den die Aussicht auf Verdienst aus seinen Bergen in die Stadt gelockt hat. Der braune sehnige Mann in schmutzigem Burnus, welcher, die lange Flinte auf dem Rücken tragend, sein Roß durch das Gewühl lenkt, ist ein Beduine. Hier unterhalten sich ein paar gelbe Sicilianer unter heftigen Gesticulationen; dort der ernste Mann in dem dunklen Turban ist ein maurischer Jude, und die in buntem Zuavencostüm steckenden Burschen, die in Gruppen herum hocken, sind unstreitig Soldaten, wenngleich das Strickzeug in ihren Händen auf einen friedlichen Beruf schließen läßt.

Auch Frauen, doch in geringer Anzahl, waren auf der Straße zu finden. Maurische Mädchen, in den Haik gehüllt, eine Art Mantel, welcher, über den Kopf geworfen, bis auf die Kniekehlen herabfällt und die mit weißen Tricots bekleideten Beine unbedeckt läßt, trippeln durch die Menge; ihr Gesicht ist schwarz verhüllt, und nur für die Augen ist eine kleine Lücke gelassen. Vornehmen maurischen Damen genügt nicht einmal der schwarze Schleier, sie bedecken ihr Gesicht noch mit dem Haik und eilen scheu durch das Gedränge.

Aber auch unverschleierte Frauen sahen wir; Negerinnen, deren grelle Kleidung die Häßlichkeit ihrer Züge um so mehr hervortreten läßt, bieten Lebensmittel feil; Kabylinnen, mit deren schmutzigen Röcken und Turbanen die goldenen Spangen und Ohrringe seltsam contrastiren, laufen ohne Schuhe durch den heißen Staub, und die schöne Malteserin in der modischen schwarzen Seidenrobe unterscheidet sich, wie sie coquettirend vorüberschwebt, von unseren europäischen Damen nur durch den schwarzen Schleier, welcher, das Gesicht freilassend, in reichen Falten vom Scheitel auf Hals und Nacken herabwallt. Jüdinnen bemerkten wir des Sabbaths halber nicht auf der Straße; doch konnten wir uns später überzeugen, daß sich ihre Tracht von der der maurischen Damen nur durch den Mangel eines Schleiers unterscheidet.

Am lebhaftesten gestaltet sich das Straßenleben in den Bazaren, und hier war es auch eigentlich, wo wir die eben angeführten Beobachtungen machten. Sowohl die Vorstädte, als auch die innere Stadt haben Bazare aufzuweisen. Derjenige, welcher dem Residenzschlosse des Beys von Tunis gegenüberliegt, ist der ansehnlichste; seine doppelten Arcaden dehnen sich über einen beträchtlichen Theil der Stadt aus, und ohne unsern liebenswürdigen Führer würden wir uns schwerlich aus dem Labyrinth herausgefunden haben. Hier wird dem Käufer Alles geboten, was er braucht, und überdies giebt’s dort unzählige Dinge, die er nicht braucht. Unser Interesse wurde aber durch die in den Hallen auf- und abwogende Menschenmenge so gefesselt, daß wir den zum Verkaufe ausgestellten Gegenständen, sowie denen, die uns von schreienden Hausirern angeboten wurden, nur wenig Aufmerksamkeit schenkten; ich entsinne mich nur, daß uns eingelegte Tischlerarbeiten, geschmackvolle Gewebe, Pantoffeln, Fez’s und reiche Pferdegeschirre in die Augen fielen.

Wir sagten nach einer fast dreistündigen Wanderung dem Bazar Ade. Gar zu gern hätten wir die Moschee Mohari’s, an welcher wir vorüberkamen, betreten, aber Freund Friedländer erklärte dies für ein Ding der Unmöglichkeit. Dafür versprach er, uns in ein jüdisches Bethaus und später in ein maurisches Privathaus zu führen.

Der jüdische Tempel war klein, aber mit Andächtigen dicht gefüllt. Frauen waren nicht sichtbar; die Männer trugen meistens maurische Kleidung, aber stets von dunkler Färbung; die europäische Tracht war sparsam vertreten. Sowohl in dem Bethause als auch in den Familien einiger reichen jüdischen Kaufleute, die wir am Abend besuchten, waren wir, Dank der Einführung des Herrn Friedländer, respectirte Gäste.

Die lange Wanderung, der Staub, die Hitze und die mannigfaltigen Eindrücke, die wir empfangen hatten, hatten uns ermüdet. Wir verfügten uns daher in’s „Hôtel Paris“, einen Gasthof nach europäischem Schnitte, und nahmen daselbst eine Erfrischung, und zwar ebenfalls nach europäischer Weise, zu uns; nur unser Doctor ließ es als gründlicher deutscher Gelehrter sich nicht nehmen, nach arabischer Art zu speisen. So weit ging er allerdings nicht, daß er sich nach morgenländischer Art zum Essen niederließ. Er saß wie wir zu Tische; aber auf einem Nationalgericht bestand er, und es ward ihm. Aus dem schmerzlichen Zucken der Gesichtsmuskeln meines Freundes und aus der rothen Färbung des Gerichtes zu schließen, war letzteres mit dem landesüblichen spanischen Pfeffer etwas stark gewürzt; aber der Brave behauptete steif und fest, so etwas Vorzügliches habe er in seinem ganzen Leben noch nicht genossen, und würgte das Essen bis auf den letzten Bissen hinunter. Ob er später auch seinen Durst in arabischer Weise gestillt hat, ist mir nicht mehr erinnerlich.

Gern hätten wir zu dem Kaffee, mit welchem wir unser Mahl beschlossen, eine tunesische Zeitung gelesen; aber Herr Friedländer belehrte uns, daß der Tunese seine Neuigkeiten im Bazar oder im Kaffeehause erfahre; eine Zeitung erscheine daher in Tunis nicht. Glücklicher Weise war im Hôtel kein Mangel an europäischen Blättern, und so konnten wir uns einen lange entbehrten Genuß wieder einmal verschaffen.

Die Sonne brannte mit mittägiger Kraft auf unsere weißen Sonnenschirme, als wir nach kurzer Siesta unverdrossen durch die staubigen Straßen auf das Maurenviertel Bab Dschesira lossteuerten. Dort, hatte Herr Friedländer uns versprochen, werde sich auf sein Klopfen das Haus eines der Bewohner unseren neugierigen Blicken öffnen.

In Schweiß gebadet, hielten wir endlich vor einem kleinen, unscheinbaren, aber sauber gehaltenen Hause. Herr Friedländer pochte an das verschlossene Thor, und alsbald ertönte aus dem Innern ein mit kräftiger Stimme gerufenes arabisches „Halt! Wer da?“ Zu unserm größten Erstaunen erwiderte Herr Friedländer in deutscher Sprache. „Machen Sie nur auf, Herr Müller! Es sind Freunde und Landsleute da, die Sie besuchen wollen.“

Der Riegel wurde zurückgeschoben, und wir traten durch das offene Thor in den Hofraum. Vor uns stand ein großer ältlicher Mann in arabischem Hauscostüm und barfuß.

„Herr Müller aus Westphalen, Leibgardist Seiner Hoheit des Beys von Tunis,“ stellte Herr Friedländer den Hausbesitzer vor, nachdem er diesem unsere Namen und Titel genannt hatte.

[347] „Sie sind herzlich willkommen!“ erwiderte der westphälische Araber und schüttelte uns kräftig die Hände. „Sie werden hoffentlich entschuldigen, daß ich“ – er zeigte auf seine bloßen Füße – „Sie so empfange“ aber –“

Wir tauschten die üblichen Höflichkeitsphrasen und folgten dem Leibgardisten in ein Gemach. Daß unsre Neugier auf’s Höchste gespannt war, ist selbstverständlich. Herr Müller ließ es sich trotz unserer Einwendungen nicht nehmen, seine Uniform, auf die er sehr stolz zu sein schien, anzulegen. Vor unseren Augen hüllte er sich in seinen reich mit Gold betreßten Rock und setzte eine etwa fußhohe Mütze auf, welche an ihrem oberen Ende mit einer pfundschweren Metalleinlage versehen war, damit sie genügend steif auf dem Kopfe sitze und andererseits die militärischen Embleme auf der Vorderseite nicht eingedrückt werden.

Während des Ankleidens erzählte uns Herr Müller, was wir zu wissen wünschten; allerdings war sein Bericht sehr lückenhaft, und wir hüteten uns wohl, durch eine indiscrete Frage irgend einen wunden Fleck in der Brust des alten Abenteurers zu berühren. Müller war – weiß Gott, wie er dazu kam – einstens Kämpfer in der algerischen Fremdenlegion gewesen. Wie er aus den Diensten der Franzosen in die des Beys von Tunis gekommen, das zu ergründen überließ er unserem Scharfsinn. So viel stand fest, daß er schon seit Jahren wirklicher Leibgardist des Beys, Moslem und nachgeahmter Maure war, der alle Gewohnheiten des Landes angenommen hatte.

Herr Müller zeigte uns nun seine häusliche Einrichtung. Der viereckige, gepflasterte Hof, in welchen wir von der Straße aus getreten waren, war auf der dem Thore gegenüber liegenden Front durch einen mit Betten, Schränken und Kisten vollgestopften Salon abgeschlossen, während den linken Flügel des Gebäudes die Vorrathskammer, den rechten, ärmlichsten die Gemächer der Frau des Hauses sammt Familie und Geflügel einnahmen.

Wohl wissend, daß es ein Verstoß gegen den guten Ton ist, sich bei einem Muselmann nach dem Befinden der Frau Gemahlin zu erkundigen, wagte ich keine diesbezügliche Frage. Aber siehe da, Madame Müller (Herr Friedländer theilte uns später mit, daß sie dem Pensionsstande des Harems des Beys entnommen sei) kam uns aus freien Stücken entgegen, und zwar unverschleiert. Sie erklärte in gutem Arabisch, daß ihr Haus durch unsern Besuch gesegnet sei, zog sich aber bald wieder zurück.

Unser Wirth führte uns jetzt in die Speisekammer, wo sämmtliche Vorräthe in riesigen irdenen Töpfen aufbewahrt standen. Durch den Umstand, daß im Hause des Arabers Mehl, Fleisch, in Oel conservirt, und alle sonstigen Victualien in Masse vorräthig sind, wird es den Bewohnern möglich, oft mondenlang ihr Heim nicht zu verlassen. Nachdem uns der arabische Müller seine Schätze gezeigt und seine Hauseinrichtungen erklärt hatte, führte er uns zurück in den Salon. Dort begann er unter einigen Papieren, welche sein Familienarchiv bildeten, herumzukramen und zog endlich einen Brief hervor, der den Poststempel einer Stadt in Westphalen trug, deren Namen ich leider vergessen habe. In dem Schreiben befand sich als Einlage eines jener Flugblätter über Episoden aus dem deutsch-französischen Kriege und trug den Titel: „Die Schlacht bei Sedan“.

Mit stolzen Blicken wies Müller auf dieses Blatt, das ihm, wie er berichtete, sein Neffe geschickt hatte, und erzählte gleichzeitig, daß der Junge auch mitgefochten habe.

Am Eingang der erwähnten Flugschrift war die erste Strophe der „[[ Die Wacht am Rhein|Wacht am Rhein]]“ abgedruckt.

„Von dem Lied,“ sagte Müller, „habe ich schon viel gehört; die Worte gefallen mir auch sehr gut, und ich möchte wohl einmal das Lied singen hören.“

„Dem Mann kann geholfen werden,“ meinte unser Doctor, der sich einer kräftigen Baßstimme erfreut. „Auf, ihr Herren, bilden wir einen Chorus und singen wir unserm freundlichen Wirth ‚die Wacht am Rhein‘ vor!“

Wir Andern, obgleich minder gute Sänger, waren gern dazu bereit und stimmten an:

„Es braust ein Ruf – – –“

Neugierig kam Frau Müller aus ihrem Gemach herbei, und neugierig drängten die Kinder nach. So etwas hatten die Wände des kleinen Araberhauses noch nie zu hören bekommen. Wunderbar aber war es anzusehen, welche Veränderung in den Zügen unseres Wirthes vorging. Zuerst zeigte sein gefurchtes Gesicht den Ausdruck der Spannung, und die Haltung seines Körpers war die des Lauschens. Als aber die Frage ertönte:

„Wer wird des Stromes Hüter sein?“

da richtete sich der Mann hoch auf; seine Brust dehnte sich; seine Hände ballten sich. Und als wir sangen:

„Lieb’ Vaterland, magst ruhig sein – – –

da zuckte es schmerzlich in seinem Antlitz und seine Augenwimpern bewegten sich hastig auf und nieder.

Immer mehr nahm seine Rührung überhand, und als wir geendet hatten, saß der Renegat wie gebrochen auf seinem Schemel; er hatte sein Gesicht mit den Händen bedeckt; helle Thränen quollen zwischen seinen runzeligen Fingern hervor; seine Brust hob und senkte sich krampfhaft, und endlich schluchzte er wie ein Kind. Selbst auf die Frau des Hauses schien der Gesang, dessen Worte sie nicht verstand, einen gewaltigen Eindruck gemacht zu haben, und auch wir waren in eine weiche Stimmung versetzt worden, als wir die mächtige Erregung sahen, welche über den alten Abenteurer gekommen war.

Gesegnet von dem Ehepaar und begleitet von dessen besten Wünschen zogen wir von dannen, und wenn ich jetzt meine Erinnerungen an Afrika auffrische, verweile ich stets mit Vorliebe im Hause des arabischen Müller, wo ich in so ergreifender Weise von der Macht des deutschen Liedes überzeugt wurde.
B. in T.