Hoffnung (Die Gartenlaube 1895/4)
[68] Hoffnung. (Zu dem Bilde S. 65) Als die „ältere gesetztere Schwester“ der ewig beweglichen Phantasie hat Goethe die Hoffnung bezeichnet und, während er jene als „seine Göttin“ pries, diese „seine stille Freundin“ genannt –
„O daß die erst
Mit dem Lichte des Lebens
Sich von mir wende,
Die edle Treiberin,
Trösterin, Hoffnung.“
Feuriger hat Schiller sie gefeiert; ihn hatte in entbehrungsreicher
Jugend die Erfahrung gelehrt, sie auch als mächtige Führerin durch des Lebens Wirrnis
zu schätzen, welche dem Verzagenden Kraft und Mut verleiht, die lichtlose Gegenwart im
Ausblick in lichtere Zukunft zu ertragen. Seinen kühnen schönen Dichterträumen von Völkerglück und Menschenwürde, die noch heute als Fortschrittsideale der Menschheit wirken, lieh sie den beglückenden
Glauben an ihre Erfüllbarkeit. Der Maler unseres Bildes, der in München lebende Schöpfer so vieler fein und tief empfundenen Bilder, George von Hößlin, schildert die Hoffnung als Trösterin in tiefem Herzeleid; die schönen Augen, die sich hilfesuchend nach oben richten, sind noch vom Schimmer vergossener Thränen umflort. In den gramvollen Zügen des schönen bleichen Weibes lesen wir: sie hat schweren Verlust zu betrauern, Unersetzliches hat sie verloren; aber ihr Herz richtet sich schließlich doch auf, gehoben vom milden Zuspruch der treuen Freundin der Trauernden, der Hoffnung, die auch aus Gräbern neues Leben hervorzuzaubern vermag. J. P.