Im Frieden des Sabbathlichtes

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Autor: Albert Fränkel
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Titel: Im Frieden des Sabbathlichtes
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aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 313–319
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Sabbatfeier und Sederabend
Aus den vier Wänden des jüdischen Familienlebens
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Im Frieden des Sabbathlichtes.
Aus den vier Wänden des jüdischen Familienlebens.

Indem ich mich anschicke, die Blicke der Leser auf einen Lebenskreis zu lenken, der einer nicht geringen Zahl derselben ein Gegenstand hergebrachten Spottes, den Meisten aber im Grunde noch ein mehr oder weniger verschleiertes Geheimniß ist, tauchen zunächst in meiner Erinnerung zwei leuchtende Augen auf und über die edeln Züge eines ernsten Gesichts sehe ich ein wehmüthig-mildes Lächeln gleiten. Vor mir steht die hohe und elegante Gestalt eines ergrauenden Mannes, mit dem ich einst in einem lieblichen thüringischen Badeorte vier genußreiche Wochen verlebte. Er gehörte zur –schen Beamtenaristokratie und sein Aeußeres zeigte unverkennbar den Typus derselben; bereits im Jahre 1849 hatte er aber seine langjährige Stellung als Chef einer hohen Behörde aus Besorgniß vor den Conflicten verlassen, in welche ihn seine freisinnigen politischen und religiösen Ansichten mit seinem Amte verwickeln mußten. Seitdem lebt er in ungestörter Muße den mannigfachen Studien, Forschungen und Arbeiten, zu welchen ihn eine eben so tiefe wie umfassende Bildung befähigte. Niemals habe ich ein so gründliches und ausgebreitetes Wissen mit so ernster Entschiedenheit des Charakters, so viel klare Schärfe der Auffassung mit so viel feiner und herzgewinnender Manier verbunden gesehen, als in dieser interessanten und geistvollen Persönlichkeit. Wir machten zusammen viele Wanderungen und Ausflüge, zu denen die schöne Gegend besonders einladet. So hatte uns auch einst einer der strahlenden Augustnachmittage [314] Thüringens auf einsamen Pfaden weit über die Berge geführt und schon begann es leise zu dämmern, als wir zurückkehrend den ziemlich steilen Weg herabstiegen, der sich in mannigfachen Windungen von den rings umherliegenden Höhen bis in die Straßen des Städtchens zieht, das jetzt im Glanze des goldübergossenen Himmels wie träumend zu unseren Füßen lag. Mein Begleiter hatte auf dem Rückwege mit besonderer Wärme gesprochen, war aber seit einigen Augenblicken auffallend still geworden und spähte zerstreut in die Ferne, als ob seine Aufmerksamkeit durch irgend einen unerwarteten Anblick gefesselt sei. Plötzlich blieb er stehen und ich erschrak fast, als er lebhaft meinen Arm erfaßte und mit dem Finger nach unten deutend in bewegtem Tone sagte:

„Sehen Sie dort das Licht?“

Ich blickte nach der bezeichneten Richtung und hatte bald zwischen einer Reihe alterthümlicher Gebäude, die hier am Rande der Stadt ihre Vorderseite in die Berge kehren, ein kleines Haus entdeckt, hinter dessen weinumrankten Fenstern bereits das trauliche Zeichen abendlichen Beisammenseins, der röthlich in das Halbdunkel hinausblitzende Schimmer flammender Kerzen, deutlich zu bemerken war.

Der Präsident war meinen Blicken mit seltsamer Spannung gefolgt und schien befriedigt, als ich mit dem Kopfe nickte und unsere Augen nun gemeinsam auf dem einen schimmernden Punkte ruhten.

„Es freut mich, daß Sie es gefunden haben,“ sagte er mild, „es ist ja auch rings im Umkreise bis jetzt das einzige Licht und überhaupt kein Licht wie andere Lichter, d. h. für den, der es kennt. Und Sie kennen es, nicht wahr, Sie wissen, was es bedeutet?“

Ich wußte es. „Es ist heut’ Freitag,“ erwiderte ich, „und gerade die Stunde, wo überall bei den Juden, die noch an ihren alten Gebräuchen hängen, vor dem Eintreten der Dunkelheit der Sabbath beginnt und das Sabbathlicht angezündet wird. In dem Hause da unten muß eine jüdische Familie wohnen.“

„So ist es,“ rief sichtlich erheitert mein bejahrter Freund, „und dieses Licht, die glückliche Flamme, welche durch die ergreifende Leidensgeschichte der Juden die trostlose Nacht ihres Daseins wenigstens einmal in jeder Woche freundlich durchleuchtet hat, vor Allem ist es, was auf mich stets eine ganz eigenthümlich erregende Wirkung übt. So oft ich zufällig einem jüdischen Sabbath- oder Festlicht begegnen mag, kann ich es nicht sehen, ohne unwillkürlich nach einer weichen Stelle meines Herzens zu greifen, ohne mich ergriffen zu fühlen von einem unbeschreiblichen Heimweh nach jener ganz besonderen Art von harmloser Freude, von sanftem und heiterem Frieden, wie ich ihn einst nur im Schimmer dieses Lichtes genossen habe.“

Ich sah den Mann betroffen an. Auf seinem sonst etwas strengen Gesichte lag jetzt ein Zug der Verklärung, jenes wehmüthig milde Lächeln, das mir beim Beginn dieser Mittheilungen vorgeschwebt. Er bemerkte die Verlegenheit, in welche mich sein plötzlicher Gefühlsausbruch versetzt hatte, und sagte scherzend: „Sollte ich Ihnen wirklich noch nicht erzählt haben, daß ich als Jude geboren und in einem ehrbaren jüdischen Hause von gebildeten, aber noch frommgläubigen Eltern erzogen worden bin? Nun ja, wir sind zufällig nicht darauf gekommen, und man sieht mir das so leicht nicht an, die Spuren meiner Herkunft haben sich schon in früher Jugend bei mir verwischt – es sind jetzt sechsunddreißig Jahre, daß ich Christ bin – und die Kreise und Umgebungen, in denen ich später so viele Jahre hindurch gewirkt und mich bewegt habe, waren gewiß nicht dazu angethan, jüdische Traditionen in mir lebendig zu erhalten. Schon zur Zeit meines Uebertritts war ich über alle confessionellen Unterschiede und Schranken hinausgewachsen, aber ich kann wohl sagen, daß ich mich herzlich und ohne Rückhalt Allem angeschlossen habe, was sich von den Sitten und Gewohnheiten eines christlichen Hauses mit meinen freien religiösen Ansichten vereinigen ließ. Meine nächsten Freunde, Studien- und Gesinnungsgenossen waren Geistliche aus der Schule Schleiermacher’s, kurz, ich habe dem Christenthum gegenüber kein Gefühl der Fremdheit, das sich etwa auf jüdische Vorurtheile gründete. Und trotz Allem – ich erzähle eine psychologische Thatsache und stelle kein philosophisches System auf – trotz Allem lebt und regt sich in meinem Innersten ein Etwas, das jüdisch geblieben, ein tiefes Gefühl der Anhänglichkeit an Alles, ja der eigenen Ehrfurcht vor Allem, was mir in dem schönen Morgenglanze meines Lebens einst heilig und ein Gegenstand der Inbrunst gewesen ist. Ich lasse es nicht antasten und in den Schatten stellen – und,“ fuhr er erregt mit gehobener Stimme fort, „wer jemals in einem der jüdischen Hauser, wie sie vielfach noch jetzt existiren und vor dreißig oder vierzig Jahren noch durchweg bestanden, eine fromme Mutter den Festtag rüsten und mit segnend ausgebreiteten Händen das Licht entzünden sah; wem einst ein theurer Vater unter ergreifendem Aussprechen des hebräischen Segens in solcher feierlichen Stunde die Hände auf’s Haupt gelegt; wer jemals das beklommene Gefühl, die heiligen Schauer empfunden, mit dem ein jüdisch erzogenes Kind am Eingange des großen Fast- und Versöhnungstages an der Seite der Eltern und Geschwister zur Synagoge geht, mit dem es im strahlend erleuchteten Tempel die in weiße Sterbehemden gehüllten Gestalten sieht und den uralten, zuweilen wilden, aber von wehmüthig schmerzlichen Klängen durchzogenen Melodien der Synagogengesänge lauscht; … wer am Gedächtnißtage der Zerstörung Jerusalems in der finstern Synagoge unter Absingung der Klaglieder Jeremiä mit der fastenden Gemeinde auf der Erde gesessen; … wer die düsteren und strengen Trauergebräuche nach dem Tode der nächsten Angehörigen und dann wieder im Gegensatz dazu das in jüdischen Familien so unvergleichlich gemüthliche und lustige Purim-, sowie das glänzende Passah- und Laubhüttenfest … wer dies Alles – und ich könnte die Beispiele noch zwanzigfach vermehren – in regelmäßiger Wiederkehr nicht blos gesehen, sondern Jahre hindurch von Jugend an mit durchlebt hat: der ist ein Lügner oder ein gefühlloser Mensch, wenn er mir sagt, er habe diese Eindrücke abgeworfen wie ein altes Kleid, er habe sie mit der Wurzel wieder aus sich herausreißen können, wie einen schlechten und leblosen Keim. Haben Sie jemals mehr als flüchtig der Feier jüdischer Feste beigewohnt?“

„Die Feier hat etwas Strenges durch das unbedingte Ruhegebot,“ bemerkte ich, „sie schließt die Freude aus, hat nichts von der hellen und bunten Beweglichkeit der christlichen Feste.“

„Wie man es nimmt,“ lautete die Entgegnung, „man muß jede geschichtliche Lebenserscheinung eben in ihrer Eigenthümlichkeit zu erfassen wissen. Das jüdische Fest schließt nicht die weltliche Freude aus, sondern verlangt dieselbe geradezu; wohl aber schließt es das aus, was man Vergnügen nennt, die brausende Lust, Tanz, Spiel und lärmendes Gelage. So werden Sie z. B. jüdische Handwerker, Soldaten oder Dienstmägde gerade an ihren Sabbath- und Feiertagen nicht auf Tanzplätzen oder an anderen dergleichen Orten finden. Auch werden Hochzeiten und ähnliche Feste nicht an diesen Tagen gefeiert. Sonst aber haben dieselben mit dem düstern, langweiligen und kopfhängerischen Sonntag der schottischen Puritaner und unserer deutschen Betbrüder nichts gemein; es sind vielmehr meistens heitere Familienfeste, die sich wie ein immer frisch und duftig bleibender Kranz durch das bekanntlich sehr arbeitsvolle Leben des fleißigen Stammes flechten und ihr Charakteristisches eben in dem Umstande haben, daß ein Theil der religiösen Observanz in das Haus fällt, sich z. B. hier auf die vorschriftsmäßig sehr reichen und trefflichen Festmahle der Familie, auf den Dank für den Wein, auf die Bereitung des weißen Fest- und Sabbathbrodes, auf das Anzünden des festlichen Lichtes, auf den vom Vater jedem seiner Kinder und Enkel zu ertheilenden Segen und auf viele andere nur am heimischen Heerde vor sich gehende Dinge bezieht. Man besucht sich einander und giebt sich an den Abenden und in den Stunden, welche zwischen den verschiedenen Gebeten und Gottesdiensten liegen, einer ungebundenen Fröhlichkeit hin, bei welcher auch der originelle Witz und drastische Humor des jüdischen Naturells eine nicht geringe Rolle spielen. Dies Alles, und auch sogar die verschiedenen Jahreszeiten, in welche sie fallen, gehört zum Gesammtcolorit dieser Tage. Daß man mit seinem Kopfe und Wesen darüber hinauswachsen, sich persönlich davon lossagen, andere Anschauungen gewinnen und doch den von dem Dufte einer ganz unvergleichlichen Weihe durchwärmten Reiz dieser Eigenthümlichkeit nicht wieder vergessen kann, sehen Sie an meinem Beispiel. Was habe ich nicht an blendendem Glanz und großartiger Herrlichkeit gesehen von der Peterskirche in Rom bis zum Czarenpalaste in Petersburg! Und doch bedurfte es nur des Anblickes dieser armseligen, mir so lange entfremdeten Flämmchen, um geheime Saiten meines Gemüthslebens zu erschließen und mich zu diesen Ergüssen zu führen.“

[315] Langsam waren wir unter diesem Gespräch den Berg herabgestiegen und standen jetzt vor den inwendig mit sauberen weißen Gardinen umgebenen Fenstern, welche die Anregung zu einer Erörterung gegeben hatten, wie sie wohl schwerlich jemals an dieser Stelle vorgekommen war. Die inzwischen eingetretene Dunkelheit gestattete uns einen Einblick in das Zimmer; es zeigte eine peinliche Sauberkeit und war behaglich, fast elegant eingerichtet. An der Decke brannte ein kleiner Kronleuchter, außerdem standen noch zwei silberne Armleuchter auf dem weißgedeckten Tische, um den eine zahlreiche Familie in festlichem Schmucke beim Mahle saß, in der That ein anmuthiges Bild stillen Behagens und häuslicher Zufriedenheit.

„Sehen Sie den Mann,“ sagte der Präsident, auf eine untersetzte Gestalt mit kräftigem, sonnengebräuntem Gesichte deutend, die in blendendweißer Piquéjacke auf dem Sopha saß und sich Speise und Wein sehr wohl schmecken ließ. „Wie Sie bemerken, ist er kein Ideal für romantische Seelen und nichts weniger als ein Frömmler und Kopfhänger; er ist, wie ich weiß, preußischer Soldat und Landwehrmann gewesen und ein gewandter, durch und durch deutscher Mensch. Trotzdem ist in ihm jener ideale Zug, dessen ich vorhin gedachte, mächtig geblieben. Als ich heut’ Mittag um die Stadt ging, sah ich ihn erhitzt und keuchend von einer Geschäftsreise zurückkehren. Sicher hatte er den dreimeiligen Weg von der Eisenbahnstation zu Fuße gemacht, weil die Post um fünf Uhr von dort abgeht und also erst nach Beginn des Sabbaths hier eintrifft, was den Gesetzen und der Sitte zuwider ist. So kehrt er fast an jedem Freitag um dieselbe Stunde von seinen außerhalb betriebenen Geschäften zu den Seinen zurück. Oft könnte er den Sabbath in einer Gemeinde, ja in Leipzig oder Berlin verleben, aber nein … es zieht ihn zu den Seinen, in die Stadt, wo es für ihn keinen Tempel und keinen Gottesdienst giebt … es ist ja doch kein Sabbath, wenn man nicht bei Weib und Kind ist, wenn man nicht allwöchentlich die friedlichen Sabbathengel sich auf die eigenen häuslichen Räume herniederlassen sieht. Seine Familie war ihm heute bereits im Festanzuge entgegengegangen und die Kinder trugen mit seinem kleinen Gepäck auch das dürftige Päckchen des armen Juden, der neben ihm herging und den er wahrscheinlich irgendwo unterwegs gefunden und ‚über Schabbes‘ in sein Haus geladen hat. Ich kenne das. Sehen Sie, dort sitzt nun der arme gänzlich fremde Mann, für den diese Gegend hier eine ungastliche Wüste wäre, am Familientische, und wenn noch zwei oder gar vier Andere kämen, sie würden ebenfalls freundliche Aufnahme und Stärkung finden. Daß die Juden in weltlicher Hinsicht eine Gemeinschaft oder einen Zusammenhang erhalten, wie man gewöhnlich glaubt, ist nicht wahr; ein Band ist allerdings vorhanden, aber es ist eben das rein geistige der gemeinsamen religiösen Institutionen. In dieser ohne Hülfe irgend eines Zwangsmittels, einer äußeren Gewalt bestehenden, über die ganze bewohnte Welt sich verbreitenden Uebereinstimmung der Gebräuche und Gebete liegt allerdings etwas sehr Wunderbares, fast Unerklärliches.“

In diesem Augenblicke sahen wir die Familie im Zimmer die Gebetbücher zur Hand nehmen. Einer der Söhne las; wir konnten nur so viel vernehmen, daß es Deutsch und also eine Neuerung war. Hierauf jedoch begann der Hausvater mit lauter Stimme das rituelle hebräische Tischgebet zu sprechen. „Kommen Sie,“ sagte mein Freund, mich fortziehend, „ich ertrage das nach allen diesen Eindrücken nicht mehr; es ist, als ob ich meinen alten Vater, ja noch meinen Großvater hörte. Dieselben Worte, derselbe Ton, dieselbe Melodie, länger als ein Jahrtausend hindurch mit geringen Unterschieden von einem Ende des weiten Erdenrundes bis zum andern; ja, ich kann nicht aufhören, es zu betonen! das ist und bleibt eines der ergreifendsten Geheimnisse der Weltgeschichte. Und wenn heute die Juden, die man vor Jahrhunderten verbrannt und hingeschlachtet, aus ihren Gräbern erstehen und an den Tisch dieses Mannes treten könnten, sie würden sofort Satz für Satz einstimmen in die ihnen vertrauten Klänge dieses Gebetes.“

Schweigend waren wir weiter geschritten und ich muß gestehen, daß mich der unverhoffte Einblick in eine der verborgensten Herzensfalten dieses ausgezeichneten Mannes gar seltsam bewegt hatte. Mitten auf dem freundlichen Marktplatze des Städtchens, unserer Wohnung gegenüber, blieb er noch einmal stehen, indem er sagte: „Und doch möchte ich von Ihnen nicht mißverstanden sein, als ob es mir um eine Idealisirung und Verherrlichung des orthodoxen Judenthums zu thun sei. Dasselbe ist ein religiöses Product vergangener Zeiten und wird mit den beengenden Vorurtheilen und zelotischen Einseitigkeiten, welche an ihm haften, die Schwelle einer freieren und lichtvolleren Zukunft ebenso wenig überschreiten, wie das orthodoxe, confessionell-exclusive Christenthum. Aus der Tiefe meines Bewußtseins aber und aus meiner innersten Erfahrung heraus behaupte ich, daß dieses Judenthum auf das Leben und die Gemüthswelt der Seinigen eine gleich veredelnde Wirkung geübt, eine ebenso große Weihe und sittliche Erhebung ausgestrahlt, wie die verschiedenen christlichen Kirchen der Masse ihrer Angehörigen gegeben haben. Die Frucht des verlästerten und geschmähten Judenthums ist oder war eben ein Gemeinde- und Familienleben, das mit seiner nach Innen gekehrten und deshalb wenig gekannten Seele unstreitig zu den reinsten und wärmsten Stellen der Menschheit gehört. Demonstriren läßt es sich freilich nicht, was aus dieser verborgenen Welt, aus der Fülle ihrer gemüthreichen Innigkeit und ihrer wahrhaft poetischen Momente namentlich dem Herzen des deutschen Volkes eine verwandt sich anfühlende Hand entgegenstreckt. Wäre ich ein Dichter, so würde ich es zu schildern, wäre ich ein Maler, so möchte ich es in einer Reihe jener schönen Scenen und Bilder zu verewigen suchen, wie sie unverwischlich meinem Herzen sich eingeprägt und bis an mein Ende zu den besten und liebsten Schätzen meiner Erinnerung gehören werden.“

Hiermit drückte mir der Mann die Hand, machte seine gewöhnliche Abschiedsverbeugung und zog sich für heute in sein Zimmer zurück. Er sah bleich und ergriffen aus und mochte der Erholung bedürftig sein.




Daß ich die obigen merkwürdigen Geständnisse eines hochgestellten Staatsmannes hier wörtlich mittheilen konnte, verdanke ich meinem sorgfältig geführten Tagebuche, in das ich sie damals noch frisch aus dem Gedächtnisse niedergeschrieben habe. Schon nach einigen Tagen reiste der Präsident ab und ich bin ihm seitdem nicht wieder begegnet; er hat sich, wie ich höre, in das Landleben zurückgezogen und bewirthschaftet in irgend einer der entfernten Provinzen die großen Güter einer verwittweten Tochter. Sollte ihm dieses Blatt zu Gesicht kommen, so wird es ihm mit der Erinnerung an jene bewegte Abendstunde in der Stille des thüringischen Gebirges zugleich eine wohlthuende Ueberraschung bereiten. Der Wunsch seines Herzens ist erfüllt. Ganz dasselbe Heimweh nach einem verlorenen Paradiese der Kindheit, das er wie einen geheimen Schatz in seiner Seele trägt, dasselbe Verständniß für jenen poetischen und sittlichen Zauber, von welchem viele Jahre der Entfremdung sein Gemüth nicht zu lösen vermochten, ganz jener Funke einer zarten und warmen Sympathie hatte längst auch in der Seele eines Künstlers, eines deutschen Mannes aus jüdischem Stamme, geglüht, der lebensvoll aus sich herauszugestalten und im Farbenglanze herrlicher Bilder auf die Leinwand zu zaubern wußte, was er im Leben der Seinen mit dem Auge des Poeten angeschaut und mit dem sinnigen Geiste des Denkers betrachtet hat. In Professor Moritz Oppenheim in Frankfurt a. M. hat die mißachtete, für reizlos gehaltene Welt des altjüdischen Familienlebens, haben namentlich die freundlichen und heiteren Seiten, durch welche es sich für den hartherzigen Druck und die Kränkungen der Außenwelt zu entschädigen suchte, ihren Maler gefunden. Die berühmten Bilder, zu denen ihm diese Sphäre den liebevoll erfaßten Stoff geliefert, sind nicht blos anerkannte Meisterwerke der Kunst, es sind auch interessante, natur- und wahrheitsgetreue Schilderungen, innerlich erfahrene und von der Sonne des Gemüths beleuchtete Zeugnisse für den Geist, der unter meist seltsam fremdartiger Hülle in jenen Häusern gewaltet hat. Wir haben daher zwei dieser charakteristischen und herrlich ausgeführten Scenen in gelungener Wiedergabe unseren Darlegungen beigefügt und heben zunächst die darin berührten Momente hervor, um dann später in einem zweiten Artikel noch einige andere Seiten des genannten Gebietes vorzuführen.

Noch anmuthiger fast als der eigentliche Sabbath macht sich der Rüsttag zu demselben, der alle jüdischen Herzen eigenthümlich anheimelnde Freitag, in jüdischen Gemeinden und Häusern bemerkbar. Während die Männer mit doppelter Emsigkeit in ihren Geschäften arbeiten, um „vor Schabbes“ noch fertig zu schaffen, was nothwendig ist und doch von einem genau bestimmten Augenblicke

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Sabbathanfang.
Nach dem Oelgemälde von Moritz Oppenheim.

des Abends an vierundzwanzig Stunden hindurch nicht verrichtet werden darf, ist im Hause der Reichsten wie der Aermsten das weibliche Personal mit der Beendigung einer gewöhnlich schon am Donnerstag begonnenen gründlichen Säuberung – der Sonnabendsarbeit der christlichen Häuser – beschäftigt. Namentlich muß an diesem Tage in besonderm Glanze blitzen, was blank im Hause ist, vor Allem die bereits mit frischen Kerzen besteckten Leuchter, mögen sie nur von Blech oder Messing oder von schwerem Silber sein.

Schon am frühen Morgen ist die Hausfrau auf den Markt oder zum Fischer gegangen, um heute selber die Hechte oder Karpfen auszusuchen, die am Freitagabend zu den Lieblingsgerichten der Juden gehören. In der Küche geht es dann schleunig an die Bereitung der aus feinem Weizenmehl bestehenden, geflochtenen und mit Mohn bestreuten Weißbrode (Berches oder Barches genannt), über welche beim Beginne der verschiedenen Festmahlzeiten der Segen, d. h. ein Dankgebet für die Erschaffung der Feldfrüchte gesprochen wird. Da während des Sabbaths, der mosaischen Vorschrift zufolge, im Hause kein Feuer angezündet und also auch nicht gekocht wird, muß heute auch schon für den morgenden Mittagstisch gesorgt werden; es wird die wohlgemästete Gans in den Bratofen geschoben, es werden jene eigenthümlichen Mehlspeisen

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Am Sederabend.
Nach dem Oelgemälde von Moritz Oppenheim.

und Gemüse bereitet, welche die Bestimmung haben, über Nacht bis zum nächsten Mittage in einem gewöhnlich von der Gemeinde unterhaltenen Ofen zu brodeln, um dann aus demselben als jenes sabbathliche Nationalgericht hervorzugehen, das die Juden „Schalet“ oder „Scholent“ nennen und für dessen eigenthümlich pikante Reize, wenn es gut bereitet ist, auch die Zungen vieler christlichen Gourmands eine schwärmerische Vorliebe empfinden. Auch Heinrich Heine gedenkt der jüdischen Festtagsfische und des Schalet an verschiedenen Stellen seiner Schriften mit humoristischer Sehnsucht.

Die gute Frau – wir nehmen eine wohlhabende Familie an – erfüllt alle diese drängenden und nicht mühelosen Pflichten mit dem eifrigsten Ernste, wird aber in ihrem Geschäfte vielfach unterbrochen. Es kommen viele durchreisende arme Juden, Männer, Frauen und Kinder, meistens zerlumpte Jammergestalten, die eine Gabe oder eine Einladung zum heutigen Abend und morgenden Mittag erwarten, es kommen Männer und Frauen mit Büchsen der verschiedenen wohlthätigen Gesellschaften, z. B. der barmherzigen Brüder und Schwestern, welche in den Gemeinden für die Beerdigung der Todten und die Pflege der Kranken sorgen etc., es kommen die Armen und Gebrechlichen, die Lahmen und Blinden aus der Gemeinde. Mit Jedem muß ein freundliches [318] Wort gesprochen, Jedem nach Kräften gegeben werden und schon ist ein Körbchen mit Silbergeld, das abseits auf einem Tische steht, sowie manches Behältniß des Küchenschrankes seines Inhaltes ziemlich entleert. Auch bei dem Manne im Comptoir oder im Laden stellen sich heute viele solcher mündlicher und schriftlicher Gesuche, sogar manche ziemlich anspruchsvolle ein, und auch er hält für den Zweck eine Casse bereit. Denn am Sabbath soll in der Gemeinde Niemand Noth leiden, an diesem Tage der Ruhe und Freude Jeder wirklich ruhen und sich freuen können.

Im Laufe der Nachmittagsstunden sind endlich die Vorbereitungen beendigt. Kinder und Erwachsene haben die festlichen Gewänder angelegt, der große Eßtisch im Wohnzimmer ist mit blendend weißer Damastdecke belegt, die Weinflasche bereits zwischen den Leuchtern und den Vasen mit duftenden Blumen neben den Becher gestellt, der nur zum Segensspruch über den Wein benutzt wird. Auch die vom Bäcker zurückgekommenen Segensbrode mit der weißen Mohndecke auf der hellbraunen Kruste liegen appetitlich auf dem Tische. Bettler pflegen am Nachmittage nicht mehr anzuklopfen, es müßte denn ein verspäteter Reisender sein. Frauen und Töchter haben schon ihre Strickstrümpfe, Nähereien und Stickereien zur Seite gelegt und ausruhend irgend ein Buch zur Hand genommen; ein Geist der Stille, der Sammlung, der feierlichen und doch heiteren Erwartung zieht mit dem Nahen der Abendstunde in die festlich geschmückte Wohnung. Auch der Hausvater hat seinen letzten wichtigen Brief geschrieben, sein letztes Geschäft beendigt, seinen Laden oder sein Comptoir geschlossen und auch – seine letzte Pfeife oder Cigarre geraucht. Denn das alte Verbot des Feueranzündens erstreckt sich auch auf das moderne Tabakrauchen, und der altgläubige Jude, wenn er selbst der leidenschaftlichste Raucher ist, entbehrt in diesen vierundzwanzig Stunden mit immerhin bewundernswürdigem Heroismus den streng verpönten Genuß. Er wirft ihn mit den Kleidern, den Gedanken, Geschäften und Zerstreuungen der Woche hinter sich und läßt nun einen Blick freundlich musternder Zufriedenheit auf Weib und Kind und auf all’ den wohlthuenden Veranstaltungen ruhen, welche an diesem Tage selbst das dürftige Hüttchen des Aermsten zu einer Stätte des Ausruhens und der behaglichen Sammlung machen.

Der Sabbath der Juden geht bekanntlich, wie jedes ihrer Feste, von einem Abend zum anderen und beginnt ungefähr eine Stunde vor dem vollen Eintritt der Dunkelheit, eine Zeitbestimmung, die sich also nach der Jahreszeit richtet und genau in den Kalendern bezeichnet ist, so daß z. B. der Anfang im December schon zwischen drei und vier, im Juni erst gegen acht Uhr fällt. Dieser Wechsel ist natürlich auf das Colorit des Sabbathlebens nicht ohne Einfluß, da der Augenblick – selbstverständlich heutzutage nur bei denen, welche diese Gebräuche noch minutiös beobachten – mit strenger Genauigkeit eingehalten wird. Je näher er rückt, desto ernster pflegt in den frommen Häusern die Stimmung der Familienglieder zu werden. Endlich setzt der Vater seinen Hut auf, sieht nach der Uhr und winkt der Gattin freundlich mit den Augen, oder sagt wohl auch: es ist Zeit. Und die Hausfrau – es ist das eine ihrer durch das Gesetz vorgeschriebenen Pflichten – zündet nun langsam die Kerzen oder Lampen an, breitet segnend ihre Hände gegen dieselben und spricht: „O Gott, mögen wie diese Zündlichter einst leuchten und strahlen meine Kinder in deiner heiligen Lehre!“ Sofort nach Beendigung dieser andächtigen Ceremonie ist der Sabbath eingekehrt, die Arbeit muß ruhen, die Sorge soll schweigen, die Seele ganz nur sich, ihrem Gotte und den Familienfreuden leben: es ist der Moment, welchen Oppenheim auf dem nebenstehenden Bilde aus dem Hause einer jungen Familie so lebenswahr und anheimelnd dargestellt hat.

Sehe man sich in diesem Zimmer um; man bemerkt, die liebliche, jetzt von tief andächtiger Ergriffenheit umstrahlte Frau hat redlich ihre Freitagspflicht erfüllt. Der Mann trägt die Tracht des vorigen Jahrhunderts, wo diese Gebräuche, unberührt von dem Hauche einer neuen Zeit, in allen jüdischen Häusern bestanden; doch zeigt sein bartloses Gesicht und seine ganze Erscheinung schon die Ablegung mancher Vorurtheile und starke Hinneigung zu europäischer Eleganz und Bildung. Auch in dem schönen, sauber und geschmackvoll herausstaffirten Knaben begegnen wir dieser Mischung von deutsch-moderner und noch streng-religiöser Erziehung. Während der Vater noch einmal auf die Uhr sieht, befindet sich der Liebling schon in ungeduldig fortschreitender Stellung; er will mit seinem großen hebräischen Gebetbuche, das er bereits fertig zu lesen versteht, den Anfang des sabbathlichen Abendgottesdienstes nicht versäumen. Bald sind Beide auf der Straße, und je näher sie ihrem Gotteshause kommen, um so größer wird das Gewimmel der von allen Seiten in ihren besten Kleidern herbeiströmenden Glaubensgenossen. Alle haben sie in ihren Häusern soeben dieselbe Scene gehabt. Mancher, der verreist gewesen oder immer erst am Freitag von Märkten und Dörfern zurückkehrt, wird mit einem Händedrucke und dem alten Zurufe „Schalom alechem“ (Friede sei mit Euch!) willkommen geheißen. Aus dem Innern des Tempels strahlt bereits der Glanz einer reichen Erleuchtung. Draußen am Eingange stehen abseits einige gebeugte, nicht festlich gekleidete Gestalten; es sind Leidtragende, die in dieser Woche einen ihrer allernächsten Angehörigen begraben haben. Sie treten erst später bei dem Punkte des Gottesdienstes ein, wo das Gebet für die Gestorbenen gesprochen wird, und werden dann von der ihnen entgegengehenden Geistlichkeit mit einem biblischen Trostspruche empfangen. Der Gottesdienst hat bereits begonnen. Auf der Altarestrade, gegenüber der Bundeslade, die heute gleichfalls ihr Wochengewand abgelegt und mit einem kostbaren Vorhang geschmückt ist, steht der Vorsänger mit seinen Choristen und singt den Lechododi, wie der alte Sabbathhymnus heißt, der seit Jahrhunderten bis zum heutigen Tage um diese Stunde in allen Synagogen der Welt ertönt. Das schöne Lied, in welchem der Sabbath als eine Braut vorgestellt ist, hat durch Heine und andere Dichter eine poetische Berühmtheit erlangt.[WS 1]

Nach Beendigung des nicht langen Abendgottesdienstes gehen die Mitglieder der Gemeinde unter dem gegenseitigen Zurufe „gut Schabbes“ auseinander und Jeder eilt mit seinen Gästen – an denen es früher nur selten fehlte – dem heimischen Heerde entgegen, wo nun erst das einladende Sabbathstübchen winkt.

Beim Eintritte in dasselbe begrüßen sich auch die Familienmitglieder mit dem obigen Festgruße und dem Hausvater nahen sich seine Kinder und Enkel jedes Alters und halten ihm nach der Reihe das Haupt hin, auf das er sodann beide Hände legt und dazu jedes Mal den alttestamentlichen Segen spricht, wie er vom Judenthum aus auch in alle christlichen Kirchen übergegangen ist. Gegenseitige Küsse pflegen diese Feierlichkeit zu beschließen, und erst dann setzt man sich zu Tische, singt die Danksprüche über Wein und Brod – eine uralte Ceremonie, aus welcher unstreitig das christliche Abendmahl entstanden ist – und läßt dann je nach dem Bildungsgrade heiteren Gesprächen und einer urgemüthlichen Fröhlichkeit für den Rest des Abends freien Lauf. Was freilich außerdem an allem diesem Sabbathceremoniell noch von belastenden Erschwerungen, von peinlicher Casuistik und mancherlei Aberglauben hängt, soll hier keineswegs gelobt werden. Der Kern aber war sicher ein guter und edler und der Zweck, eine vollkommene Ruhe und Entwölkung der Seele, bei den edelsten wie bei den rohesten Naturen einen unumflorten Blick auf die tieferen und idealeren Seiten des Lebens zu ermöglichen, wurde allerdings durch das Heer vieler, uns jetzt seltsam und lächerlich erscheinenden rabbinischen Verbote in möglichster Vollkommenheit erreicht.

Der eigentliche Sabbath selbst erreicht die Weihe und den keuschen Glanz des Freitagsabend im Ganzen nicht wieder. Nach einer nochmaligen Versammlung der Gemeinde im Tempel und mit dem wiederholten Segnen der Kinder und dem gegenseitigen herzlichen Zurufe „gute Woche“ ist er beschlossen und der Werkeltag tritt wieder mit seinen Sorgen und Anforderungen an die Seelen heran. In wohlhabenden Familien ist gewöhnlich dieser Abend des Sonnabends den am Sabbath verpönten Vergnügungen, wie Spiel, Tanz u. s. w. bestimmt. Mancher arme Jude aber schnürt nach Beendigung des letzten Gebets und dem Anzünden der ersten Pfeife bereits seine Bündel zusammen, umarmt unter dem Wunsche einer guten Woche Weib und Kind und wandert seinem Erwerbe entgegen in die Nacht hinaus. Eine Woche hindurch wird er draußen sich mühen und abhetzen, von schwarzem Brode und Kaffee leben, um an seinem lieben Freitag in sein geschmücktes Haus zurückzukehren und wiederum vierundzwanzig Stunden ein Priester und ein König zu sein.

Hat auch der allwöchentlich wiederkehrende Sabbath bei den heutigen Juden durch den Fortschritt der Aufklärung und die Anforderungen der modernen Verhältnisse, besonders in einigen Theilen Deutschlands, viel von seinem alten poetischen Zauber eingebüßt, so daß es viele Häuser giebt, in denen er gar nicht [319] mehr gefeiert wird, so ist dies doch weniger bei den anderen Festen des jüdischen Kirchenjahres der Fall, vielleicht weil sie seltener erscheinen, vielleicht auch weil alte Traditionen, Erinnerungen und Beziehungen der Gemüther hier mächtiger wirken. Vor Allem zeigt sich dies an den ernsten Bußfesten im Herbste. Geht man an diesen Tagen z. B. durch die Straßen Berlins, so findet man in allen Gegenden der Stadt vom niedrigsten Trödler bis zu den prachtvollen Magazinen Gerson’s alle öffentlichen Geschäfte der Juden geschlossen. Ebenso ist es in Hamburg, Wien und Paris und besonders in den kleinen Städten. Allen europäischen Börsen sind diese Tage bekannt. Wo der Glaube ihre Beobachtung nicht mehr gebietet, wird sie von der ungebrochenen Sitte gefordert. Ein Einblick in Wesen und Feier gerade dieser Feste ist für die Kenntniß des jüdischen Lebens von großer Wichtigkeit; wir müssen darauf zurückkommen, wollen uns aber für dieses Mal nur noch mit einer und zwar mit der auf unserer zweiten Illustration dargestellten Scene beschäftigen, welche sich auf die Feier der jüdischen Ostern bezieht.

Dieses Passah- oder Peßach-(Oster-) Fest, das zum Gedächtniß an den Auszug aus dem Sclavenhause Aegypten begangen wird, ist aus diesen fast vorgeschichtlichen Zeiten her eines der hervorragendsten Hauptfeste der Juden geblieben und hat in den Jahrhunderten des Druckes und der Verfolgungen, durch das Gefühl des Triumphes und Trostes, welches die Verfolgten aus der lebendigen Erinnerung an jene Erlösung von Tyrannei und Knechtschaft schöpften, eine erhöhete und sehr poetische Bedeutung erhalten. Es weht, wie der bekannte Cremieux verschiedentlich hervorgehoben hat, ein volksthümlich-demokratischer Hauch in jener Wärme, mit dem wir Jahrtausende hindurch ein zerstreutes und so vielfach mißhandeltes Volk alljährlich unter allen Leiden zu einer Feier zurückkehren sehen, welche einer einstmaligen Befreiung aus den Banden eines übermüthigen Despotismus gewidmet ist. Doch neben dieser freundlichen Erinnerung bietet das Fest dem denkenden Juden der neueren Zeit auch eine sehr ernste und wehmüthige. Denn an diesem Tage sind zu verschiedenen Zeiten und an den verschiedensten Orten einst Tausende seiner Väter und Mütter in ihren Wohnungen überfallen und hingemordet worden, weil Fanatiker oder Böswillige das damals schon gründlich widerlegte Märchen ausgesprengt hatten, daß sie, die nicht einmal einen Tropfen Thierblut genießen dürfen, des Blutes christlicher Kinder zur Feier gerade dieses Festes bedürften!

Schon Wochen vorher beginnen die Rüstungen dazu und liegen den mit besonderer Scheu und Zähigkeit an dem betreffenden Ceremoniell hängenden Frauen ob, während die Männer nur recht weit ihre Geldbeutel zu öffnen haben. Denn es ist ein kostspieliges Fest, auch dadurch, daß den Mittellosen von den Einzelnen sowohl, als aus Gemeindemitteln Alles reichlich umsonst gegeben wird, was zur würdigen Begehung desselben nöthig ist. In jedem Hause ist für die ziemlich neuntägige Festzelt im Voraus der ausreichende Bedarf an ungesäuerten Kuchen (Mazzoth) zu schaffen, die sich in der traditionellen Form, wie wir sie jetzt noch sehen, gewiß aus dem allergrauesten Alterthum herschreiben; es muß ferner für dieselbe Zeit, als ob man eine Belagerung oder Hungersnoth erwarte, selbst in sonst sehr frugal lebenden Familien Küche und Keller mit hinlänglicher Proviantirung, namentlich von Allem versehen werden, was an Speisen und Getränken, an kostbaren Erfrischungen und Leckereien dem Genusse nicht verboten ist.

Das weitläufige Ceremoniell des Festes soll hier nicht berührt werden; die meisten Bestimmungen desselben, auf welche die Talmudisten all’ ihren Scharfsinn verwendet haben, erscheinen unserem heutigen Sinne unbegreiflich, unverständlich, ja lächerlich. Und dennoch war das beabsichtigte Gesammtresultat wiederum ein gutes, indem ein über die ganze Judenheit der Erde gleichmäßig sich verbreitendes, die Gemüther erhebendes, wahrhaftes Gemeinde- und Familienfest geschaffen und erhalten wurde. Und wenn ein Jude aus der Wüste Sahara oder von den Ufern des Mississippi, aus Persien oder aus Kairo und Tunis in dieser Zeit in eine Gemeinde tritt, wird er der Geschäftigkeit der jüdischen Frauen ansehen, daß sie „Peßach machen“, wie es eben überall beobachtet und hergerichtet wird.

Erst am Abend vor dem Rüsttage sind die Vorbereitungen beendigt, dieser selber gehört von Morgens neun Uhr an schon halb und halb zum Feste. Die Hausfrau ist nur noch im besten Zimmer ihrer Wohnung mit der Anordnung des Tisches für den Abend, den glänzendsten Abend des Judenthums, beschäftigt. Wie sehr auch der Sabbath und andere Feste durch freundlichen Schmuck geehrt werden, für dieses Fest und namentlich für diesen ersten Abend desselben wird in den Schränken des Reichsten wie des Aermsten doch das Kostbarste und Funkelndste an Leuchtern und Kelchen, an Gedecken und Geschirren bereit gehalten und nachher sorgfältig wieder verschlossen, um ein Jahr hindurch nicht benutzt zu werden. Wer jemals ein solches Zimmer, einen solchen Tisch gesehen, diesen Abend in einem „frommen“ Judenhause verlebte, wird gewiß den eben so ernsten wie freundlichen Eindruck nicht wieder vergessen und zu der Ansicht gelangt sein, welche einst Goethe in Bezug auf ihm fremde religiöse Gebräuche zur Fürstin Gallitzin geäußert hat: „Mir fällt es nicht schwer,“ sagte er, „mit einem klaren unschuldigen Blick alle Gegenstände zu beachten. Manches, was ich nicht gerade billige, mag ich gern in seiner Eigenthümlichkeit erkennen; da zeigt sich denn meist, daß die Anderen eben so recht haben, nach ihrer eigenthümlichen Art zu existiren, als ich nach der meinigen.“

Je näher der Abend (er heißt der Seder-Abend) kommt, desto freudiger schlagen ihm die Herzen entgegen. Endlich ist der Abendgottesdienst beendigt und der Hausvater – wir denken an einen schon bejahrten vermögenden Mann – tritt in das hell erleuchtete Zimmer, wo er von Söhnen, Töchtern, Enkeln und Gästen erwartet und herzlich begrüßt wird. Es beginnt die oben bereits erwähnte Ceremonie des Segnens, dann tritt Schweigen ein, der Greis wandelt langsam, leise Danksprüche murmelnd um die blinkende Tafel, an deren Mitte sich sein Patriarchenthron, ein reich und weich mit Teppichen, Decken und Polstern drapirter Sessel befindet, auf dem ein schneeweißes Gewand liegt, sein Sterbehemd, mit dem man ihn einst in die Erde legen wird und das er auch am Versöhnungstage in der Synagoge trägt, wie heut Abend an seinem funkelnden und strotzenden Tische. Und wenn der junge Enkel, überrascht durch diese Umkleidung, die Mutter nach der Bedeutung derselben fragt, erhält er sicher die Antwort: „Damit wir auch in unserer Freude nicht vergessen, daß wir einst sterben müssen.“

Hat das Haupt der Familie Platz genommen, so kommt eine Tochter des Hauses mit silbernem Becken und gleicher Kanne daher und begießt nach orientalischer Sitte dem Vater drei Mal die Hände. Dann, nachdem auch die Anderen sich niedergelassen und die auf ihren Plätzen liegenden Gebetbücher zur Hand genommen haben, deutet er mit der Hand auf die drei Osterkuchen, welche vor ihm auf einer Schüssel liegen, und sagt: „Solches Brod aßen unsere Väter im Lande Aegypten … wer Hunger hat, möge kommen, es mit uns zu theilen – wer es braucht, möge sich hier satt essen …“

Die rituelle Feier, welche in einer von symbolischen Gebräuchen begleiteten, von Beziehungen auf die spätern Schicksale der Juden unterbrochenen Erzählung des Auszugs aus Aegypten besteht und die zu schildern hier nicht der Ort ist, zerfällt in zwei Theile. Nach Beendigung des ersten wird unter fröhlicher Geselligkeit das gewöhnlich sehr splendide Mahl eingenommen und nachher wieder mit Psalmensingen und verschiedenen Ceremonien fortgefahren, so daß die Festlichkeit oft erst um Mitternacht beendigt ist. In angeregtester Stimmung und dem muntersten Geplauder gehen die Leutchen dann auseinander, als ob sie von einem Ball, einem lustigen Gelage kämen. Ist doch nach langem Winter und manchem Familienungemach der erste Act eines ihrer liebsten Feste mit erbaulicher Würde begangen worden. In dieser ungetrübten Weltfreude, bei aller Frömmigkeit und Innigkeit des Gemüths, liegt das Eigenthümliche, das Meister Oppenheim auch auf dem Bilde, welches die genannte Feier zeigt, so anmuthig zur Anschauung gebracht. Man sieht, es ist in diesem Augenblicke nicht von theologischen Dingen die Rede, es muß ein für das Familienleben und die liebliche Tochter sehr zartes Thema berührt worden sein, vielleicht eine artige Anspielung des als Gast anwesenden Rabbiners auf den leer neben ihr stehenden Stuhl, der im nächsten Jahre vielleicht schon einem neuen Mitgliede des Hauses bestimmt sein wird.

A. F–l.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Heinrich Heine, Prinzessin Sabbath