In der Pertisau

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Autor: Heinrich Noé
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Titel: In der Pertisau
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aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 248–251
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1883
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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In der Pertisau.

Von 0Heinrich Noé.

Es giebt manchen Klang, welcher, sowie er das Ohr berührt, die Einbildungskraft zu einer Reihe von Gestaltungen erregt. Ein solcher wirkt wie das Schlagwort einer Scene. Die Umgebung, in welcher wir uns zufällig befinden, wenn uns der Klang berührt, hat mit dieser Wirkung wenig zu schaffen, ja ich möchte sagen, diese letztere sei um so stärker, je mehr sich jene Umgebung von der Wesenheit der Dinge unterscheidet, welche durch den Klang bezeichnet werden.

Ich pflege den Winter im österreichischen Küstenlande, in der Nähe von Triest, zuzubringen. Rings um das einsame Haus, in welchem ich meinen Schreibtisch aufgeschlagen habe, ist Felsgestein, hier und dort von Oelbäumen, wilden Myrthen und Manna-Eschen beschattet. Einen Theil des Gesichtskreises nehmen das Meer und die Lagunen von Aquileja ein. Eines Tages kam mir dort ein Brief des Herausgebers der „Gartenlaube“ zur Hand, der mich aufforderte, ihm zu einem schönen Bilde einige begleitende Zeilen zu schreiben. Das Wort Pertisau wirkte zauberkräftig. Urplötzlich sah ich Fichtendickicht und Alpenrosen, ich hörte Quellen und sah den Jäger mit erlegtem Gemsbock über den See steuern. In dessen Anschlagen gegen den von Krummholz bedeckten Strand mengte sich ein Nachhall von Citherspiel aus einer Herberge des Ufers.

So vergegenwärtigte sich mir in der Landschaft des Karstes das Bild des Achensees. Es ist kein Wunder, daß der Anschlag gerade dieses Namens solche Kraft hat. Wenn man die Natur des nördlichen Tirol als eine Dichtung auffaßt, so erscheint uns die Gestaltung der Landschaft und des Lebens um jenen See wie ein Auszug aus derselben.

Das nördliche Tirol hat außer dem Plansee keinen anderen, als diesen. Man mag das immerhin, wie es oft geschieht, als einen Mangel bezeichnen, wenn man das benachbarte, an Seen reiche baierische Hochland daneben in Vergleichung stellt. Doch ist es sicher, daß der Mangel durch große Pracht der Eiswelt, durch Wasserstürze und andere Schaustücke des Hochgebirges ausgeglichen wird. Man wird auch zugeben, daß der Königssee großartiger ist – gleichwohl aber habe ich stets gefunden, daß die Rückerinnerung der Reisenden an keiner Stätte lieber verweilt, als am Achensee.

Der hartnäckigste Rundreise-Tourist, der sich taub stellt gegen Zumuthungen, von der Bahn abzuschweifen und diesem oder jenem vom Schienenwege etwas abgelegenen Schaustücke einen Tag zu „opfern“, findet sich bereit, zu Jenbach im Innthale aus dem bequemen Waggon auszusteigen. Er läßt sich einen steilen Berg hinaufziehen, oder klimmt den vierhundert Meter hohen Anstieg sogar im Schweiße seines Angesichts zu Fuß an, um den Achensee zu sehen. Er verläßt die Ueppigkeiten des prächtigen „Tiroler Hof“ zu Innsbruck, um einen Tagesausflug an seine Ufer zu machen. Er kann ja nirgends sagen, daß er in Tirol gewesen ist, wenn er den Achensee nicht gesehen hat. Keine Gegend der nördlichen Landeshälfte ist von Dichtern mehr gefeiert worden, und es ließe sich über sie eine Sammlung zusammenstellen, in welcher vom Ausdruck lyrischer Stimmungen an bis zum volksthümlichen Drama alle Gattungen Poesie vertreten wären. Es ist ein eigenthümlicher Hauch, der über dieser Fluth weht.

Das Alpenland wurde in den Zwanziger und Dreißiger Jahren unseres Säculums künstlerisch erobert. Die Münchener Landschaftsmaler waren es zuerst, welche sich seiner bemächtigten. Unter ihren Bildern kehrte der Achensee immer wieder. Man konnte keine Ausstellung besuchen, ohne ihm zu begegnen. Das gilt bis auf den heutigen Tag. Auch seine Begleiter verlassen ihn nicht, als da sind: die Zugspitze, der Dachstein, der Gosau- und Königssee, rebenumsponnenes Gemäuer von Meran und der Bozener Rosengarten. Alle diese halten treue Genossenschaft.

Noch blüht das Edelweiß auf den Felsen des Sonnjoch und des „Unnütz“, noch blaut das Wasser und die Alpenblumen begrüßen die Sonnenwende mit ihrer Pracht, aber der Achensee ist nicht mehr der nämliche, wie in jenen Tagen. Was mit ihm vorgegangen ist, mag uns sein nördlicher Nachbar, der Schliersee, am eigenen Beispiele aufweisen.

„Nu,“ sagte die Fischer-Liesl (die Wirthin), „jetzt seid’s den ganzen Sommer da g’west. Was schuldig seid’s, ihr Malerbuben, wollt’s wissen? Trunken habt’s g’nug, meinet ich!“

„Da hat sich nichts gefehlt,“ entgegneten die Malerbuben.

„Also rechnen wir auf Einen vier Maß alle Tag’, wird Enk wohl nit z’viel sein?“

„Gewiß nit, Liesel!“

„Also, Einer alle Tag’ vier Maß, seind zwanzig Kreuzer, macht nachher im Monat zehn Gulden. Dös habt’s allein trunken, vom Essen red’ i no gar net. Seid’s z’frieden, wenn i Enk neun Kreuzer aufschreib’ für’s ganze Essen? Waren nacher a vier Gulden und dreiß’g Kreuzer an Monat – a was, sagen wir vier Gulden!“

„Ist nit z’viel, Lisi!“

„Für d' Stub'n – was soll i Enk da rechnen? Daheim seid's a so nit g'wen, es Lumpen! Sagen wir halt an Sechser über d' Nacht, nacher waren's wieder drei Gulden. Und vier Monat seid's jetzt da gewesen – – Jeses, es derzahlt es ja nit, es habt's ja nix! Wißt's was – zahlt a Jeder für Alles zusamm' zwölf Gulden – is a Ding!“

Das war die „Rechnung“ der Fischer-Liesl am Schliersee gewesen.

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Pertisau am Achensee in Tirol. Nach einem Aquarell von Adolf Neumann.

[250] Und nicht gar viel anders waren die Sitten der Gaststätten zur Zeit der „Entdeckung“ am Achensee. Aber in Bezug auf Fortschritt scheint der nördliche Nachbar den südlichen schier überholt zu haben. Es fährt ihm die Eisenbahn dort bis an das Ufer; er hat seine Tables d'hôte, und die Malerbuben sind längst vor eindringenden Commissionsräthen und Geheimräthen verschwunden.

Gleichwohl sind auch diese Gestade dem Wandel in Verkehr und Brauch nicht entgangen, der seit etwa dreißig Jahren die Alpen heimgesucht hat. Auch die Scholastica, vor Decennien die Fischer-Liesl dieses Ufers, hat den sogenannten „Anforderungen der Jetztzeit“ einige Zugeständnisse gemacht. Dann kommt gar noch der noble „Achenseehof“ – kurzum, Master Fortschritt würde vergnügt auf „menschenwürdige“ Zustände hinweisen. Doch giebt es auch noch uralte, gemüthliche Herbergen, wie z. B. den „Muchwirth“.

Auch die Gesellschaft hat sich in entsprechendem Maßstabe verändert. Früher sah man Maler, Studenten mit leichten Ränzchen, Münchener Bürger, die auf ihrem Feiertagsausflug ketzerisch aus der heimathlichen Verehrung des Gambrinus in die des Etschländischen Bacchus übersprangen, Sommerfrischler aus Innsbruck. Jetzt bemerkt man all diese kaum mehr unter der Menge Jener, die „weit her sind“. Wie angedeutet, ist der Achensee bereits eine Domäne der Novellisten gewordeu, und mehr als eine schriftstellernde Dame hat, auf der Durchreise begriffen, von der Veranda ihres Gasthofes aus hier, soweit die Gegend durch ihr Binocle zu überschauen war, Stoff zu einer „Geschichte aus den Bergen“ gesammelt. Eine andere wandelte wohl zu gleichem Zweck auf stilleren Pfaden, wie z. B an dem romantischen Achensee-Ufer hinter Rainer, das unser heutiges Initial darstellt, und prägte sich tief in’s Gedächtniß die „Vokstypen“ des Tiroler Landes.

Die Wahrheit zu gestehen, ist die Gegend Pertisau jener Theil des Strandes, welcher verhältnißmäßig am spätesten sich in den Geist des Jahrhunderts gefunden hat. Die Pertisau ist eine ebene grüne Flur am südwestlichen Gestade, eine Anschwemmung von Schotter, welchen die Bäche des Falzthurn- und Gernthales allmählich in den See vorgeschoben haben, der aber jetzt schön von Gras und Bäumen überwachsen ist.

Um dorthin zu gelangen, lassen sich die meisten Fremden, nachdem sie den steilen Aufstieg vom Innthal hinauf zurückgelegt haben und beim anmuthigen Wirthshause in der Buchau (nicht ohne sich durch ein Seidel „Rothen“ gestärkt zu haben, angelangt sind, auf einem Kahn überfahren. Das ist in etwa einer Viertelstunde geschehen.

Die Anderen, welche den viel längeren Fußweg um die Ausbuchtung herum vorziehen, gehen längs des Strandes hin, den des Nachmittags, wenn der „baierische“ Wind weht, blasiger Schaum bedeckt, angesichts der grünen und grauen Kegel, welche ihnen aus Falzthurn entgegen schauen, und bald gewinnen sie, gleich denen, welche in einem Kahne fahren, die Uebersicht über den ganzen See bis zu seinem Nordende hin. Die Pertisau nimmt sich schöner aus, wenn zwischen dem Beschauer und ihrem Ufer sich noch ein Stück See ausdehnt, als von ihrem eigenen Boden aus.

Die vornehmsten Insassen der Pertisau sind Forstleute, Jäger und Fischer. Ihr stattliches Gebäude ist das „Fürstenhaus“, Eigenthum des Klosters Fiecht. An diesen Strand knüpfen sich manche Erinnerungen fürstlichen Jägerlebens, aus den Tagen, in welchen allenthalben in den nördlichen Gebirgen des Landes die Hüfthörner schallten und die Herzöge von Tirol zu Sigmundslust und Sigmundsberg, zu Thurneck und Waidburg Hof hielten.

Die Urkunden haben Manches aus jener Zeit bewahrt. Darum rathe ich Jedem, der dort in sommerlichen Lüften Kühlung sucht, sich von Innsbruck des Herrn Sebastian Ruf's „Chronik des Achenthales“ kommen zu lassen. Der grüne Alpenboden wird, indem die Gestalten der Landesgeschichte sich auf ihm bewegen, an Reiz gewinnen.

Jetzt gehört das einstmalige „Fürstenhaus“ dem Kloster Fiecht, dessen fromme Insassen es zu einem Gasthause umgestaltet haben. Und zwar ist dieses das besuchteste am See geworden. Der Wein ist von wahrhaft clericaler Reinheit, die Aussicht eine der schönsten und die Preise ohne ein Spur von liberalem Fortschritt. Darum findet sich auch das „Fürstenhaus“ die meiste Zeit bis zum Dachboden angefüllt.

Unter den übrigen Gaststätten stehen der „Pfandler“ und der „Karl“ bei den Reisenden in gutem Ansehen. Nicht Wenige ziehen den Aufentalt dort vor, und auch aus dem „Fürstenhause“ pilgern die Gäste gern dorthin, um der geistlichen Atmosphäre oder dem Fastenspeisetisch zu entfliehen.

Dies zur Unterrichtung für Ankömmlinge. Sehr viel Anderes sieht er sofort selbst, beispielsweise, daß er sich in einer Umgebung befindet, deren erstes Lebenselement die Jagd ist. Hierher sollte man sich des guten Gerstäcker's „Gemsjagd in Tirol“ mitnehmen und alle Tage darin lesen. Hier hat dieses Buch seinen Boden. Es wäre auch als Führer zu benutzen auf die Reitwege und zu den Jagdhäusern hinauf, zu den Höhen, von welchen aus man in die Kare des Hochgebirges, in denen die Quellen der Isar zusammenrinnen, sowie auf das ferne Eis der Zillerthaler Gletscher schaut.

Einen Umstand, der manchen Fremdling zur Pertisau ziehen wird, will ich nicht verschweigen. Die Welt wird immer bequemer, und so sei es denn gesagt, daß man nirgends bequemer in’s Gebirge hinaufgeht, als zwischen Pertisau, Hinterriß, Vereinsalpe und Mittenwald. Die Jäger hören das nicht gern, die Touristen stören ihnen das Wild. Es mird aber doch nicht Jeder mit Hunden herumziehen, Steine ablassen oder Pistolen schießen. Wir leben ja in einem Zeitalter guter Sitte. Die Reviere des Herzogs von Coburg zählen einen Stand von mehr als achttausend Gemsen. Wer da auf einsamer Wanderung keine zu sehen bekommt, sieht nirgends eine.

Diese Reitwege, zum Zwecke der Jagd gebaut, erreichen den Gipfel in weit ausgreifenden Windungen. Man spürt kaum, daß man steigt. Verhält sich die Sache auch nicht so, wie der alte Postmeister von Walchensee seinen Gästen den Steig auf den Herzogstand schilderte, nämlich „anfangs wohl ein kleines Stückl lang a bißl steil, nacher aber fast schier abwärts“, so giebt es doch keinen Mann, der auf solchem Pfade den Weg zum Blumser-Joch, in die „Eng“ oder von Hinterriß in’s Karwändelthal anstrengend fände. Zugleich sei darauf hingewiesen, daß eben das letztgenannte Thal, sowie Hinterau und Gleirsch, die alle in die Scharnitz ausmünden, ebenso leicht zu begehen als unbekannt sind. Ich habe mir in meinem „Deutschen Alpenbuch“ (bei Flemming in Glogau erschienen) alle Mühe gegeben, unseren Reisenden das klar zu machen, und Bogen darüber geschrieben. Es scheint aber nichts genutzt zu haben. So sei es denn an dieser Stelle zum Nutzen derjenigen, die etwas Großes sehen wollen, wiederholt.

Die vielberufenen Ampezzaner Dolomite haben nichts, was an Schönheit über das oberste Karwändelthal hinausginge. Es wäre leicht, da einen Dithyrambus anzustimmen. Ich verschone den Leser damit und stelle zu seiner Verfügung einige Wörter, aus denen er sich das Bild alsdann zusammensetzen mag. Solche Wörter sind: Oede, Wasserfall, Wolke, Schneereste, Nebel, Adler, Felswand, Dolomitzacken.

Es giebt keinen Theil der Alpen, welcher weniger bekannt wäre, als die Quellenthäler der Isar. Man sieht auf der Landkarte keine Wirthshäuser. denkt aber weder an die chausseegleichen Reitwege noch an die Schönheiten eines Imbisses, den man sich mitträgt, etwa unter den Schatten der Ahorne oder nahe an einen sausenden Absturz. Die Linie Pertisau-Mittenwald (sei es über Karwändelthal oder über Verein) müßte wimmeln von Sommerreisenden, wenn den Leuten das Richtige gesagt würde. Dabei sind die beiden Endpunkte gleich gemüthlich, nicht minder aber auch Hinterriß, das in der Mitte liegt. Ueber Vorderriß soll der Fußgänger nicht gehen, das breite Isarthal möchte ihm langweilig vorkommen. Wer sich in Pertisau aufhält, versäume es auch nicht, über die Lamsen nach Schwaz oder über Haller Anger in’s Salzthal zu pilgern. Aus den hunderterlei Wörtern und Ziffern der Reisebücher, die auch meist ohne Schattirung malen, kennt man sich nicht leicht aus.

Das angeführte Verhältniß muß um so mehr in Verwunderung setzen, als sich den Sommer über so viele Leute in der Pertisau aufhalten. Aber weiter als Hinterriß kommen die wenigsten. Beim Karl-Wirth, wo meistens die Jäger einkehren, geht es mitunter zu, wie in der bekannten Erzählung von Jacobs „Der Mittag auf dem Königssee“.

Der gute Jacobs würde aber wohl, wenn er statt seiner Gewährsleute einen der Pertisauer Jäger oder etwa den Oberjäger Moderecker in Mittenwald gehabt hätte, andere Sachen zu [251] hören bekommen haben, denn da ist der Wildgarten von Tirol. Was es überhaupt im Hochgebirge geben kann, kommt hier vor. Während man an der Table d’hôte im Fürstenhause, so viel aus den sich kreuzenden Schallwellen zu entnehmen ist, meist über Dinge spricht, die nicht in die Alpen gehören, und dort die Zeitung den tagtäglichen Gedankenvorrath liefert, kann der stille Beobachter in den anderen Gaststätten die Lücken seiner Kenntniß der Waidmannssprache, insbesondere der des Hochgebirges, ausfüllen lernen.

Da gellt es in die Ohren von guten Böcken, Geltgeisen, Jahrlingen und Kitzen – von Blatt und Grind, von Latschenstreifen, vom „auf haben“ und „Graben“ ausgehen – mitunter aber auch von „Lumpen“, das heißt von Wildschützen.

So belehrend es für den Neuling sein mag, dem Gespräche der Männer zu folgen, so wenig wäre es angezeigt, Unwissenheit durch Fragestellung oder andere Eingriffe zu verrathen. Nicht selten würde sich daraus einer jener Zwischenfälle entwickeln, welche während allgemeiner Dürre den Mühlen unserer Witzblätter Wasser liefern.

Die Gemse ist im Gebirge überhaupt der vornehmste Gegenstand der Touristenneugierde. Gilt dies schon für die Schweiz, wo es kläglich mit dem Vorkommen dieses Jagdthieres bestellt ist, wie viel mehr alsdann für das wildreichste Gebiet sämmtlicher Alpen!

Die Pertisau ist der beste Ort, von dem aus Gänge unternommen werden können, die den Zweck haben, der Gemse in ihrer Freiheit ansichtig zu werden.

Da war nun einmal eines Tages die Rede gewesen vom Venediger Mannl, das im Hochsee am Dalfazer Joche Fische mit goldenen Zähnen fand; vom Irdeiner See am Sonnwendjoche, der laut „billt“, wenn ein Ungewitter heraufzieht; vom Silberhannsl in der Scharnitz, der im Karwändelthale Schätze aufgrub; vom Erdbeersammler, der auf dem Stanser Joche dort abfiel, wo jetzt das Marterl steht; vom Streite der Ebener drüben mit den Goldsuchern; von den Zauberstollen am Roßkopfe. – Da fiel es einem Fremdlinge, der das für Narrethei erklärte, ein, beim stimmführenden Forstwarte anzufragen, ob es wahr sei, daß die Gemsen Wachen ausstellten.

Glücklich war also wieder einmal das unvermeidliche Thema der „Wachjemse“ angeschlagen.

„Das ist natürlich,“ entgegnete der Forstwart.

„Und die Wachen pfeifen, nicht wahr?“

„Gewiß.“

„Wie machen sie denn das?“

„Ganz einfach. Haben Sie einmal Gassenbuben in der Stadt beim Pfeifen zugeschaut?“

Und bevor der Neugierige bejahend antworten konnte, hatte der Forstwart den Zeigefinger und den Mittelfinger der rechten Hand in die Mundhöhle gesteckt. Es gellte, daß man es bis zum Ueberführer in der Buchau hätte hören können.

„Nu, schauen Sie, so machen’s die Gamsböck’, die auf der Wach’ stehen. Dazu hat ihnen unser Herrgott die gespaltenen Hufe gegeben. So stecken sie den Vorderlauf zwischen die Zähn’!“

Jetzt wußte unser Reisender, wie die „Wachjemsen pfeifen“. In Jagdbüchern steht das freilich ein wenig anders – aber der Forstwart, der muß es doch wissen.

Niemals geht ein Tourist über das Joch, ohne daß ihm sein Führer eine Gemse zeigt. Ich habe einen schlauen Holzknecht gekannt, der sich in solcher Eigenschaft, wenn einmal der Zufall in der That kein Stück zu Gesicht führte, ganz gut zu helfen wußte. Der gab an einer geeigneten Stelle seinem Begleiter – und wäre derselbe ein Consistorialrath gewesen – einen derben Schlag in die Seite und zeigte zugleich mit der linken Hand nach einer vorspringenden Felswand oder einem Graben hinter Geröllhalden. Und ehe der erschreckte Mann, der nicht wußte, wie ihm geschah, zu Wort kommen konnte, rief der Führer schier erzürnt:

„Himmelsakr…, ja bald S’ nit hinschaun! Grad is dort a Gams eini g’sprungen!“

Alles Anstrengen der Augen blieb nutzlos. Das „Gams“ wollte sich nicht mehr zeigen.

Mittlerweile hatte das zurückgebliebene Fräulein die Beiden eingeholt.

„Sieh mal, Mathilde, wie schade. Auf ein Haar hätten wir eine Gemse zu sehen bekommen!“

„Jägerisch“ geht es zu in der Pertisau. Freilich. wenn man das kleine Chronikbüchlein des oben gedachten Herrn Sebastian Ruf durchblättert, so möchte man sich schier darob wundern, wie überhaupt noch ein Stück Wild in jenen Bergen vorhanden sein kann. Denn man ersieht aus ihm, daß die Bauern, so oft irgendwo ein Rummel in der Welt los war, der ihren Drängern, mochten es Fürsten oder Aebte sein, den Athem nahm und ihnen etwas Anderes zu schaffen gab, als sich um das Achenthal und seinen Wildstand zu kümmern, sofort zugriffen. Dann gab es ein allgemeines Niederschlagen von Hirsch, Reh und Gemse. Alles wurde umgebracht. Es waren so und so viele „1848“ im Hochgebirge. Hinterher kamen dann immer wieder die strengen Verordnungen und Strafen. Gewiß mehr aber noch als diese hat dem Waidwerk die Ausdehnung der Bergwildnisse geholfen. In den unbewohnten Thälern zwischen Achensee, Isar und der Seefelder Höhe wird der Gemsbock so leicht nicht ausgerottet.

Die schönste Jagd ist freilich zu einer Zeit, wo kein Mensch in die Berge reist. Ich meine die Jagd auf den Auer- und Birkhahn. Da meine Worte nicht vermögen, ein Bild jener regen Frühlingstage zu geben, so verweise ich den Leser, den ein gutes Geschick zum Achensee führt, auf ein schönes Gemälde im gastlichen Hause des Oberförsters zu Vorderriß. Dasselbe stellt einen Hahn vor, der in dämmeriger Morgenfrühe des Maientages in die Frühlingsluft des Hochgebirges hinaus balzt. Das Bild hat die Form einer Schießscheibe und eben einer jener Malerbuben hat es gemacht, die sich noch immer zwischen Achensee und der Isar herumtreiben.

So empfehle ich die Reise in die Pertisau. Wenn der Ankömmling beim „Zigeunerbrünnl“ lagert und seinen Blick in die blaue Tiefe des Sees versenkt, oder von der herrlichen Hoch-Iß oder vom Unnutz aus (der wohl den Achenthalern ein „Unnutz“ ist, weil sie Hochgebirg ohnehin genug haben, nicht aber dem Fremdling) zugleich in die Münchener Fläche und in die Eiswelt schaut, dann wird er mir in Gedanken Recht geben, daß ich ihn auf diesen Strand als auf eine der schönsten Tiroler Sommerfrischen hingewiesen habe. Ich aber wünsche mir, um der Erinnerung in weiter Ferne nachzuhelfen, ein Bild desselben für meine Schreibstube. Ich werde es mit Edelweiß umkränzen.