In und um Tirols Oberammergau/2.

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Autor: H. v. C.
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Titel: „Auf den Bergen die Burgen“ und Notburga’s Ruhm und Preis
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aus: Die Gartenlaube, Heft 42, S. 680–684
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: In und um Tirols Oberammergau (2.)
1. Das Passionsspiel zu Brixlegg
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In und um Tirols Oberammergau.
2. „Auf den Bergen die Burgen“ und Notburga’s Ruhm und Preis.


Das Passionsspiel in Brixlegg hatte ich durch- und ausgenossen (– als letzter Vorstellungstag überhaupt war der letzte Montag des September bestimmt gewesen –), und nun konnte ich mich mit derselben Ausschließlichkeit dem Genusse der Natur in der nächsten Umgebung des theaterlustigen Tirolerdorfs überlassen.

Es wäre leichtsinnig, ein Stückchen Tirol, wo wir den Ludwig Steub herumlaufen sehen, allein zu durchwandeln, ohne ihn bei der Hand zu nehmen und zu sagen: „Grüß’ Gott, nimm mich mit!“ – Und wenn gerade er Einen nicht selber mitnehmen kann, so nimmt man ihn mit, sammt seinen „Drei Sommern“, gedruckt und gebunden und überall zu haben. Und so gehen wir also jedenfalls miteinander und betrachten vor Allem den Ort selbst, wo wir eben sind.

Früher war es viel stiller in Brixlegg, als die vielen Güterwagen noch über den Brenner gingen und die Tausende von Fuhrleuten ihr Millionendonnerwetter vor den Wirthshäusern im nahen Städtchen Rattenberg abluden. Wenn sich damals hier und da ein kecker Maler bis Brixlegg verirrte, so konnte er Aufsehen und Aergerniß mit seiner Erscheinung erregen. Jetzt dreht sich wegen solcher Herren dort Niemand mehr um, seitdem der Dampfteufel die Eisenbahn in’s Ländel geführt und just bei Brixlegg eine Station hingestellt hat. Jetzt geht auch da das Gewimmel los, und vorsichtige Reisende miethen angenehme „Logis“ gleich auf den nächsten Sommer voraus. Sie sagen, die Gegend thät’s hier, das breite Innthal mit den beiden großen und nahen Einmündungen des Ziller- und des Alpachthales und dies- und jenseits des stattlichen Thales die prächtigen Berge. Dagegen ist allerdings nichts einzuwenden; unsere Abbildung von Brixlegg (S. 502) verräth dies schon, und doch kann der Künstler nur abbilden, was er mit dem Blick nach einer Richtung sieht; was wirbelt noch Herrliches an diesem vorüber, wenn er sich auf dem Absatze herumdreht!

[681] Auf unserm Bilde sehen wir vor der Kirche ein helles Haus mit einem platten Dache; das ist das sogenannte „Herrenhaus“, das ehemalige Schlößchen Graseck, das Steub sehr verwogen „ein altes Gefäß“ nennt. Es rührt vom Ende des Mittelalters her, wo die alten geharnischten Ritter ausgestorben waren und ihre Nachkommen von den Felsennestern herab in die bequemeren Thäler stiegen, in welchen zugleich ein neuer, von den Tirolerfürsten aus ansehnlichen Gewerks- und Kaufherren, gewichtigen Gelehrten und großen Künstlern erkorener Adel seine „Gefäße“ baute.

Dazumal lebte Caspar Graseck, des Erzherzogs Leopold Kammerhofbossirer, von dem (1628) die Reiterstatue seines Herrn auf dem Rennplatze zu Innsbruck herrührt. Caspar’s Sohn, Johannes Graseck, wurde Hüttenverwalter zu Brixlegg, „Herr von“ und Besitzer von Graseck, so daß er nach Steub’s gediegener Ansicht von da an ein gemachter Mann war. Schon er wäre demnach vollauf in der Lage gewesen, Das auszusprechen, was zweihundert Jahre später erst von einem Ritter der Gegenwart in die schönen Worte gefaßt ward: „Sie glauben nicht, welch’ schönes Gefühl es ist, von Adel zu sein.“

Nicht so weit brachte es ein anderer Brixlegger, Urban Mayr, obgleich er als ein „fröhlicher Hoftiroler“ mit dem Baiernkönig Max Joseph auf Du und Du stand. „Schon so oft bin ich bei Dir in Deinem Hause gewesen, wie wär’s, Herr König, wenn Du auch einmal zu mir kämest?“ sprach der Urban, und der Max sagte zu und bestellte sich Speckknödel. Und als der König kam, hatte Urban sein ganzes Haus so baierisch (Tirol war damals baierisch geworden) ausgeputzt, „daß die Nachbarn ihn für verrückt hielten“. Beim Essen fragte ihn der König, ob man im Ländel mit ihm zufrieden sei. „Mit Dir schon, aber nit mit Deinen Schreibern,“ antwortete Urban, und Max versprach, ihnen auf die Finger zu sehen. – Seinen Sohn Georg Mayr, einen seiner Zeit angesehenen Kupferstecher und Kartographen, haben unsere Leser im Jahrgang 1870, S. 60, auch als patriotischen Schriftsteller, als Biographen Speckbacher’s, des „Mannes von Rinn“, kennen gelernt. Brixlegg ist also reich an allerlei alten Ehren und läßt es auch an neuen nicht fehlen.

Ehe wir uns durch die Aussicht nach der Zillerthalseite hin verführen lassen, wollen wir erst mit unserer nächsten Nachbarschaft in’s Reine kommen: mit Rattenberg, dessen hohe Schloßtrümmer vor uns thronen und das man von Brixlegg aus in einer guten Viertelstunde erreicht.

Unsere Abbildungen (S. 503) zeigen, daß das Städtchen zwischen Inn und Schloßberg stark eingeengt wird; hinter dem Schloßberge steigt der Stadtberg so steil und hoch auf, daß er mehrere Winterwochen hindurch dem Städtchen den Sonnenschein verdeckt. Dem malerischen Straßenbilde schadet dies nicht, aber die arge Finsterniß im Innern der Häuser, für deren Herstellung die alten Rattenberger Baumeister das Aeußerste geleistet haben, findet dennoch dadurch noch einige Förderung. Viele dieser Häuser ragen mit ihrer Vorderwand weit über das durch sie versteckte Dach hinaus, was den Straßen ganz gut steht. Aber im Innern hört Alles, was Baukunst heißt, auf: da haben Lineal und Winkelmaß nirgends den geringsten Antheil an der Herrichtung der Hausfluren und Zimmer, Gänge und Treppen; kein Stockwerk gemeint’s gut mit den andern, Willkür, Bedürfniß und Thorheit haben in der Bauführung abgewechselt. Wen also derlei Bauwunderlichkeiten interessiren, für den ist Rattenberg der rechte Ort, wie es zugleich ein Bild vergangener Tage und auch einer sogenannten „guten alten Zeit“ ist. Wie oben bemerkt, brachte ehedem außer dem Bergbau das Fuhrwerk der alten Handelsstraßen und dann auch das sogenannte „Treibwerk“, das Ziehen der Schiffe auf dem Inn durch Pferde, Leben und Wohlstand in den Ort; Beides ist mit der Eisenbahn in alle Winde gefahren, und die Schachten sind längst verfallen.

Der Wanderer wird bald mit den Sehenswürdigkeiten fertig sein; vergesse er nur nicht, sich in der Hauptstraße das Geburtshaus der obersten Heiligen von ganz Tirol, der heiligen Notburga, zu betrachten, bei welcher wir auf der letzten unserer Burgen, Rottenburg, länger zu verweilen haben. Das Haus ist an den Abbildungen der von dieser Heiligen geleisteten Wunder leicht zu erkennen.

Ein wohlgebahnter und müheloser Pfad führt rasch hinauf zu dem Schloß oder der Veste Rattenberg, die ehedem aus zwei Burgen, einer oberen am Stadtberge und der unteren auf dem Schloßberge zusammengesetzt war. Von letzterer ragt zwischen mächtigen Basteien- und sonstigen niederen Mauertrümmern nur noch der Thurm empor, den unsere Abbildung zeigt. Hier ist die Stätte eines schweren Verbrechens: Wilhelm Biener, der „Kanzler von Tirol“, wurde hier auf Antrieb seiner Feinde fälschlich angeklagt und verurtheilt und am 17. Juli 1651 eiligst enthauptet, während der Bote mit seiner Begnadigung schon unterwegs war. Er war ein edler und wackerer, gelehrter und geistreicher Mann gewesen, der am Hofe der Claudia von Medici, Wittwe des Erzherzogs Leopold, die ungerathenen Mitglieder des Adels und Clerus nicht sanft behandelte. Um so wilder tobte sich ihre Rache aus, als mit dem jungen leichtsinnigen Nachfolger, Erzherzog Ferdinand Karl, das Schranzen- und Pfaffenthum zur Herrschaft gelangte. Bekannt ist die meisterhafte Bearbeitung dieses reichen Stoffes durch unsern Herman Schmid. Seinen geschichtlichen Roman „Der Kanzler von Tirol“ nennt L. Steub ein lebendiges, anziehendes Bild damaliger Zeiten, damaliger Männer und Frauen, das in Tirol so viel Beifall gefunden, daß es – und damit scheint er viel sagen zu wollen – sogar in Rattenberg eingedrungen sei.

Die Eisenbahn nach Brixlegg geht unter dem Schloßberge weg; auf der Brücke, auf welcher sie dann wieder an das linke Ufer des Inn übersetzt, hat man den schönsten Blick auf das Kaisergebirg und besonders auf die malerischen Hügel mit den Burgen Matzen, Lichtwer und Kropfsberg. Dahin machen wir uns nun auf den Weg und nehmen auch wieder den unterhaltendlichen Steub mit.

Derselbe versichert uns, daß Schloß Matzen, welches wir gleich hinter dem Dorfe auf einem gefällig ansteigenden Wiesenpfad erreichen, eigentlich der archäologische Angelpunkt der ganzen Gegend sei. So freundlich und malerisch das äußere Bild dieser Burg den Lebenden entgegengrüßt, so entschieden spricht im Innern „uns Alles vorzeitlich und längstvergangen“ an. Das Schloß wird nämlich von seinen jetzigen Besitzern noch erhalten, nur um um so sicherer zu verfallen: Dach und Fenster bewahrt man in schützendem Zustande, aber keine Seele bewohnt die weiten Räume; kein Ohr hört’s, wenn das vermorschende Gebälk ächzt und das Mauergebröckel niederrieselt. Das Unheimliche solcher Nachtgeräusche hat wohl den letzten „Matzenritter“, wie er gleich seinen Vorfahren vom Volke genannt wurde, aus dem ehrwürdigen Gemäuer vertrieben; er bewohnte es in seinen jungen Jahren und baute später am Fuße der Burg ein wohnlicheres Landhaus für sich und die Seinen. Im Mittelalter saßen hier die „Frundsberge“ als Herren, deren berühmtester Karl’s des Fünften Feldoberster war.

Vom waldigen Matzenbühel aus sieht man die Burgen Lichtwer und Kropfsberg vor sich liegen. Lichtwer soll vor alten Zeiten „Liechtenwerder“ (helles Eiland oder lichte Insel) geheißen, also dazumal mitten im Wasser gestanden haben. Jetzt erhebt sich der Burghügel aus breiten Wiesen und der Inn hat sich einen Büchsenschuß davon entfernt sein Strombett gewühlt. Seit dem 12. October 1766 verdient die Burg den Namen einer rechten „Wehr des Lichts“, denn in Lichtwer ist jener Ferdinand von Sterzinger[WS 1] geboren, welcher am genannten Tage, dem Namenstage des Kurfürsten Max des Dritten, als Theatiner zu München eine Predigt hielt über „das gemeine Vorurtheil der Hexerei“. Wie haben da die alten Weiber und frommen Männer Zeter geschrieen und heulend der Welt verkündet, daß Staat und Kirche zu Grunde gehen müßten, nun der ehrwürdige Glaube an Hexen so grausam erschüttert sei! Das war die That eines Ritters vom Geiste, der sein Jahrhundert ehrt.

Gar malerisch hebt Kropfsberg die grauen Trümmer seiner Mauern und Thürme über sein frisches Hügelgrün empor. Innen aber ist’s fürchterlich; in den öden Fensterhöhlen wohnt das Grauen, seitdem die Brandenberger Bauern im Jahre 1703 das einst so stattliche Schloß, in welchem die Herzöge Friedrich mit der leeren Tasche und Ernst einmal eine Versöhnung gefeiert hatten, mit Sturm und Brand vernichteten. – Unser nächster Gang führt uns nach Schloß Thurneck. Mitten durch den wunderschön gelegenen Burg- oder Schloßbau leitet die stets belebte Straße von der Eisenbahnstation Jenbach in das Zillerthal, [682] und das Schloß selbst, das nirgends etwas Ruinliches zeigt, stellt sich uns jetzt als ein Stift frommer Schwestern vor, und wer’s Glück hat, kann sie im Schloßgarten lustwandeln sehen.

Wir folgen der Zillerthaler Straße und wenden uns dann rechts, um

Schloß Lichtwer.
Nach der Natur aufgenommen von R. Püttner.

endlich zu unserer letzten Burg zu gelangen, zur Rottenburg, wo wir der heiligen Notburga zu Lieb’ längere Einkehr halten. Herr Püttner hat sein Bildchen von der von Brixlegg herführenden und im Thale unter der Burg dahinziehenden Landstraße aus aufgenommen; die Feldcapelle im Vordergrunde steht wirklich dort am Wege, und wer’s kennt, weiß es, daß selbst die ärgsten Ketzer unter unseren Malern ein solch heiliges Bauwerk nicht unbenutzt stehen lassen. Und dahinter, jenseits des goldenen Aehrensegens, ragt’s über dem Buchenwalde des Bühels wie zwei Thürme heraus. Steub fand in dem Getrümmer noch ein von einem sogenannten Baumann mit seiner Familie bewohntes Gelaß; von Notburga’s Kämmerlein wußte Niemand etwas. Und doch wäre die Burg mit ihrem Rittergeschlechte längst

Kropfsberg.
Nach der Natur aufgenommen von R. Püttner.

vergessen, wenn die arme Magd nicht beiden zu legendenhafter Unsterblichkeit verholfen hätte. Darum ist’s gewiß nicht mehr wie billig, daß wir ihre sehr kurzweilige und doch noch so Vielen unbekannte Geschichte an dieser Stelle nicht unerzählt lassen.

In Rattenberg haben wir auf das Haus aufmerksam gemacht, in welchem 1267 Notburga als die Tochter eines Hutmachers geboren wurde, also keineswegs bei Schloß Rottenburg und als Kind gemeiner Eltern, wie Beda Weder zu Steub’s gerechter Entrüstung in seinem „Land Tirol“ auszusprechen sich unterstanden. Mit achtzehn Jahren trat Notburga als Köchin in den Dienst der Ritter von der Rottenburg. Das waren gar hochmögende Herren, die alle Heinrich hießen und viele Menschenalter lang sogenannte „Hofmeister von Tirol“ gewesen sind, bis der letzte derselben, genannt „der große Hauptmann von Kaltern“, welcher Herr von 99 Burgen war, an Stelle des Herzogs Friedrich mit der leeren Tasche Graf von Tirol zu werden gedachte. Da starb er eines unbestimmten, aber raschen und gewaltsamen Todes, 1411, und alle Herrlichkeit der Rottenburg hatte ein Ende – ehe noch die Glorie der Notburga recht angefangen hatte. Denn wenn das fromme Mädel auch arg unter der Hartherzigkeit ihrer Ritterfrau litt, so blühte doch ihr Heiligenruhm außerordentlich langsam im Verborgenen auf. Zunächst war es jedenfalls sehr verdienstvoll, daß sie wegen ihrer Wohlthätigkeit gegen die Armen, und weil sie diesen und nicht den herrschaftlichen Schweinen die Brosamen vom Herrentische vergönnte, aus der Rottenburg schimpflich entlassen wurde. Sie trat nun in Dienst bei einem Bauern in Eben auf einer Hochebene beim Achenthale; das Haus soll noch stehen und auch die Wiese, wo das erste große Wunder der Notburga sich zugetragen. Denn als einst ihr Bauer an einen Sonnabend Abend nach dem Gebetläuten auf’s Feld kam, Notburga beten sah und deshalb zornig ward und ihr Faulheit vorwarf, da schleuderte die fromme Maid ihre Sichel in die Höhe und ein Gotteswunder fügte es, daß sie in der Luft hängen blieb. Steub, der auch in ernsten Dingen manchmal keine unebenen Gedanken hegt, beklagt es mit Recht, daß diese Sichel nicht für immer in der Luft hängen geblieben sei, weil das doch für alle Schwergläubige die einfachste Ueberzeugung von dem Wunder wäre.

Seit Notburga die Rottenburg verlassen hatte, war dort das Unglück ein- und ausgegangen; als daher die böse Ritterfrau gestorben war, nahm der Ritter die ebenso fromme als schöne Notburga wieder zu sich, und sie verbreitete Glück und Segen um sich, bis sie 1313 starb. Da [683] hatte sie nun wegen ihrer Begräbnißstätte verordnet, daß sie da sein solle, wo ein Paar Ochsen, die den Wagen mit ihrer Leiche frei, wohin sie wollten, ziehen sollten, von selber stehen bleiben würden. Die Ochsen zogen den Leichenwagen der Notburga den Schloßberg hinab,

Schloß Thurneck.
Nach der Natur aufgenommen von R. Püttner.

durch den Inn, der ihm, wie das Rothe Meer den Juden, zum Durchzug Platz gemacht haben soll, und zuletzt hinauf nach Eben, und hier ward sie begraben. Hier stand damals eine Capelle des heiligen Ruprecht, und jetzt steht die Sanct Notburgen-Kirche da.

Unsere Leser werden unsere Ansicht theilen, daß die Lebensgeschichte der Notburga eigentlich sehr einfach und kurz sei. Es kann daher kaum ohne ein Wunder möglich geworden sein, daß der Leibmedicus Guarinoni drei Jahre über dem Studium dieses kurzen Lebens zubrachte und der Jesuit Johannes Perierus einen starken Quartband darüber schrieb, der 1753 zu Antwerpen gedruckt wurde. Daraus ersehen wir, daß wir erst zweihundert Jahre nach ihrem Tode die erste schriftliche Aufzeichnung über sie finden, wobei aber

Reste der Rottenburg.
Nach der Natur aufgenommen von R. Püttner.

natürlich die vielen in ihrer Kirche geschehenen Wunder nicht vergessen sind. Auch sollen dort vormals zahlreiche und kostbare Weihgeschenke vorhanden gewesen sein, von denen Niemand weiß, wo sie jetzt sind. Wohlgeborgen waren nur die Gebeine der seligen Notburga geblieben, denn sie lagen noch da, wo sie begraben worden waren. Nun legen aber, wie Steub mit seinem erprobten Scharfsinne erforscht hat, „die Gläubigen der katholischen Kirche vielen Werth auf heilige Knochen und verehren sie mit Inbrunst“ – und so flehten denn im Jahre 1718 auch die Ebener Bauern ihren Herrn Bischof von Brixen an, die Gebeine ihrer Notburga ausgraben zu dürfen. Und dies geschah. Unter der Aufsicht einer bischöflichen Commission gruben die Ebener Männer sieben Tage lang, bis die Commission ein Gerippe fand, das sie als das der seligen Notburga erkannte. Da ward der unschätzbare Fund mit Jubel begrüßt und unter Böllerschüssen in einen Kasten gelegt und in die Kirche getragen. Bald darauf ließ nun der Gerichtsherr von Eben, der Graf J. A. von Tannenberg, den Kasten in seinen Palast zu Schwaz bringen, allwo zwei Gräfinnen von Tannenberg, des Herrn Grafen Frau Mutter und Schwester, die Knochen kunstreich zum Skelet zusammensetzten und es mit Gold, Edelsteinen und Stickereien nach Verdienst und Würdigkeit verzierten. Darauf ward es in einen Glaskasten gelegt, in feierlicher Procession unter Begleitung des Herrn Bischofs und vieler sehr vornehmer Herrschaften in die Ebener Notburga-Kirche zurückgeführt und dort auf dem Hochaltare zur Verehrung und zum Wunderthun aufgestellt.

Ein selbst von Steub noch nicht aufgeklärtes, gewiß ganz außerordentliches Wunder ist nun aber dies: daß der wissenschaftliche Fachmann auf den ersten Blick erkennt, daß das hier ausgeschmückte und verehrte Gerippe niemals einem Weibe angehörte, sondern ein männliches ist, und daß trotz alledem die Wunderkraft des Heiligthums deshalb nicht den allergeringsten Schaden erlitten hat. Ich habe viel über die Sache nachgedacht, bis ich zu dem Satze kam: „Der Hauptwerth der Reliquien besteht ohne Zweifel darin, daß es ganz einerlei ist, ob sie echt oder unecht sind, denn dafür ist der Glaube da.“ Und diesen Satz fand ich auf’s Glänzendste bestätigt, als am siebenundzwanzigsten März 1862 der freilich damals noch nicht unfehlbare Papst Pio Nono auf das inständige Bitten des Fürstbischofs von Brixen die selige Notburga mit ihrem männlichen Gerippe in die Gesellschaft der Heiligen aufnahm. Darüber war ganz Tirol glücklich, denn ich möchte den Tiroler Ort kennen, der gar kein Bild, keine Statue, kein Bildstöckl von der allbeliebtesten Landesheiligen [684] Notburga hätte! – Noch Eines! Steub ist ärgerlich darüber, daß in Tirol überall neben Notburga als männlicher Beistand der spanische Heilige Isidor abgebildet und verehrt werde, und kein Einheimischer. Da kommt mir die Frage: Sollte das männliche Gerippe der heiligen Notburga nicht einem verkannten Heiligen, der durch dieses Wunder zu seiner Verehrung gelangte, angehören, und könnte der nunmehr unfehlbar gewordene heilige Vater in Rom nicht diesen, wie ja so manchen anderen Heiligen geschehen, die, wie Sanct Nepomuk, die elftausend Jungfrauen etc., gar nicht existirt haben, für Geld und gute Worte etwa als heiligen Notburgus canonisiren? Damit würde Steub’s Sorge, „ob sich mit den geeigneten Mitteln nicht ein bairisch-tirolischer Knecht, Bauer oder Wirth zum Heiligen heranziehen ließe“, am kürzesten gehoben.

Eine lange Verzögerung duldet dieser Schritt jedoch nicht, denn die Welt wird, nach dem Zeugniß des heiligen Vaters, alle Tage schlechter, und wie leicht droht sogar der heiligen Notburga der Tiroler das Schicksal, das den Volkshelden der Schweiz, den Wilhelm Tell, erreicht hat, das schreckliche Schicksal, daß Niemand mehr an sie glaubt! Denn es wird kommen der Tag, wo sogar die einheimischen Naturforscher beweisen müssen, daß eine Sichel nicht in der Luft hängen bleibt, der Inn einem Ochsenpaar nicht ausweicht und noch nie ein männliches Gerippe in einem weiblichen Körper gesteckt hat. Dann bleibt nur die freundliche Schnitterin von Eben und die liebenswürdige Köchin von der Rottenburg übrig, und sie kann Gott danken, wenn ein germanistischer Mytholog sie nicht wegen ihrer Sichel in eine heidnische Mondgöttin verwandelt. Jetzt schützt sie noch das „Notburgibüchel“ gegen solche Gefahr, und ihr einsichtigster Verehrer, der fromme Ludwig Steub, von dem wir bei dieser schönen Gelegenheit, mit dem besten Dank für die angenehme Begleitung, hiermit Abschied nehmen.
H. v. C.



Anmerkungen (Wikisource)