Karsten Lehr

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Autor: Edmund Höfer
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Titel: Karsten Lehr
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aus: Die Gartenlaube, Heft 1, 2, S. 9–11, 30–32
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Im „Schlagtodt“. Originalzeichnung von Johannes Gehrts.

Karsten Lehr.
Ein Beitrag zur Geschichte des seemännischen Aberglaubens.
Aus dem Nachlasse von Edmund Höfer.

Das Nachbarhaus meines väterlichen, erzählte mir jüngst ein alter Freund, gehörte in meiner Jugendzeit einem Schiffskapitän Karsten Lehr. Der Mann saß anscheinend recht im Glück. Er war, wo ich mich seiner zuerst entsinne, etwa vierzig Jahre alt und ein fester, schmucker und fixer Gesell, dem es als echtem Seemann jener Zeit allerdings auch nicht an der nothwendigen Portion Wildheit fehlte; Besitzer eines sauberen Hauses, Gatte einer schönen und lustigen Frau, Vater von einem gesunden, frischen Knaben und endlich Eigenthümer und Führer des stattlichsten Schiffs auf diesem Platz, ein Seemann ersten Ranges und ein sogenannter „glücklicher Kapitän“ – es gelang ihm alles.

Es war aber auch hier wieder einmal nicht alles Gold, was glänzt. Karsten hatte seine Eltern früh verloren und war in fast schrankenloser Freiheit und, von Hause aus in den günstigsten Verhältnissen, auf der See herangewachsen. Sehr jung selbständig geworden, hatte er zugleich geheirathet, und die sehr brave junge Frau hatte auf ihn den allerbesten Einfluß geübt, sodaß der wilde Bursche auf gutem Wege war, ein ganz vernünftiger und auch am Lande brauchbarer Mensch zu werden. Dann aber starb sie und auch das Kind unterlag fast zugleich einer ansteckenden Krankheit. Karsten fand bei der Heimkehr von einer Fahrt sein Haus leer und fing wieder an, das Leben auf seine eigene Weise anzugreifen. Er ließ sich fortan daheim nur selten und stets nur auf kurze Zeit sehen, und alles, was man von ihm sah und hörte, zeigte ihn als eine neue Auflage des unbändigen Gesellen, über welchen man vordem den Kopf geschüttelt hatte.

Nach einigen Jahren heirathete er wieder und lebte mit der jungen Frau wieder in Lust und Freuden. Aber es waren andere Menschen und andere Freuden als vordem. Von Zufriedenheit und Einträchtigkeit war zwischen den Gatten nicht viel die Rede, beide gingen ihre eigenen Wege und schienen sich am wohlsten zu fühlen, wenn ein paar hundert Meilen zwischen ihnen lagen. Er fühlte sich daheim augenscheinlich nicht behaglich, sondern langweilte sich sündhaft, und dies mag denn, außer der alten nachbarschaftlichen Verbindung und Anhänglichkeit, Veranlassung für ihn gegeben haben, daß er sich an mich anzuschließen begann, mit mir spielte, Schiffe für mich baute und auftakelte, mit mir allerwärts umherlief, und was dergleichen mehr war. Wir staken immer zusammen und fingen bei der Rückkehr von einer neuen Fahrt genau da wieder an, wo wir bei der Abreise aufgehört hatten.

Als ich siebzehn Jahre alt war, kehrte er nach fast vierjähriger Abwesenheit auf einmal wieder zurück. Er hatte vor Jahr und Tag schon sein Schiff verloren und sich seitdem auf anderen umhergetrieben – wie es fast schien, nur um nicht nach Hause zu müssen. Sein Empfang daheim war allerdings ein wenig erfreulicher. Seine Frau hatte während seiner Abwesenheit ein leichtfertiges Leben begonnen und trat ihm jetzt trotzig und widerspenstig entgegen. Er machte nun allerdings den kürzesten Prozeß von der Welt mit ihr, indem er sie aus dem Hause jagte und diesen Abzug – das malt den unbändigen Gesellen! – von allen Musikanten der Stadt und Umgegend mit einer wahren Höllenmusik begleiten ließ. Aber was hatte er davon? Das schlechte Weib freilich war er los, aber sich selbst behielt er, und das war nichts Gutes. Es war etwas Verkommenes an ihm, leiblich und geistig; er war ruhlos und ausgelassen, unbändig und grimmig und wurde vor allem von einem unlöschbaren Durst geplagt. An mich fesselte ihn noch die alte Neigung, im Uebrigen aber war er ziemlich vereinsamt, denn die alten Bekannten gingen ihm aus dem Wege, und er seinerseits mochte auch von ihnen nichts mehr wissen.

Trotzdem hielt er länger daheim aus, als man erwartet hatte, wenn er auch von Zeit zu Zeit auf einige Wochen verschwand, ohne daß man von seinem Verbleiben etwas erfuhr. Er hatte sein gesammtes Eigenthum zu Gelde gemacht und ein neues stattliches Schiff auf den Stapel legen lassen, dessen Bau er voll Rastlosigkeit betrieb und überwachte. Und als das Fahrzeug endlich fertig geworden war – ich selbst war damals bereits zur Universität abgegangen – fuhr er eines schönen Tags mit großem Prangen davon und – ließ nichts mehr von sich vernehmen.

[10] Zehn bis zwölf Jahre später hatte ich mich in meinem jetzigen Wohnort, wo mir Verwandte lebten, als Arzt niedergelassen und ging eifrig auf Praxis aus, welche ich denn auch bald, wenn auch begreiflicherweise nicht bei „guten“, sondern unter den kleinen Leuten und besonders unter den Fischern und Bootsfährern, der Patientenzahl nach reichlich genug, fand.

Eines Tages im Herbst hatte ich mich tüchtig müde gelaufen und gedoktert: bei der abscheulichen diesjährigen Witterung standen Wechselfieber und Rheumatismen grade in diesem Quartier in voller Blüthe und selbst der Typhus begann schon zu spuken. Im Vorübergehen wurde ich in eine Schenke am Thor hereingerufen, wo ein Kind des Wirths plötzlich erkrankt war, und als ich fertig war und weiter wollte, regnete und wehte es dermaßen, daß ich von der Thür zurück und vorläufig in’s Gastzimmer trat. Ich bedurfte einer kleinen Stärkung und konnte dieselbe am Ende hier ebenso gut wie anderwärts zu mir nehmen, bis der Schauer vorbeigegangen wäre. Nur saß gerade eine Gesellschaft bei einander, die mir nicht allzu sehr behagte, und ich folgte daher dem äußerst höflichen Wirth ganz zufrieden in ein kleines Hinterzimmer, die „Staatskajüte“, wo ich nur einen Gast finden werde, der mich obendrein nicht belästigen dürfte.

Es war ein kleines, womöglich noch dunkleres Gemach als die Vorderstube; ein Fenster führte auf den engen, dunklen Hof hinaus, das andere auf die Straße, welche hier hart neben dem Hause von dem alten hohen Thore aus ihren Anfang nahm. In der tiefen Ecke zwischen den beiden Fenstern stand ein altes Sopha mit defektem Pferdehaarstoff bezogen, hinter einem schweren Tisch. Dort saß der angekündigte Gast, wirklich ohne anscheinend von mir Notiz zu nehmen. Es war dort übrigens so dämmerig, daß ich kaum mehr als die Masse seiner Gestalt unterscheiden konnte. Ich trat an einen anderen Tisch, der Wirth brachte mir ein Glas Grog und holte vom Sophatisch eine offene Cigarrenkiste herüber. Und dann blieb ich mit dem Stummen allein. Ich probirte den Grog und zündete eine Cigarre an – Beides war tadellos! – und nahm den „Hamburger Korrespondenten“ auf, der auf meinem Tische lag.

Nach einer Weile sagte plötzlich eine rauhe Stimme hinter mir: „Mit Erlaubniß, Sir, sind Sie der neue Doktor, der hier so viele Leute kurirt?“ – Ich erhob den Kopf rasch, denn es war in der Stimme für mich etwas Bekanntes. Er hatte sich aufgerichtet und vornüber gegen den Tisch gelegt, sodaß er mehr im Hellen saß. Allein auch so blieb der Schatten noch zu dicht, als daß von einem eigentlichen Erkennen hätte die Rede sein können. Nur sah ich, daß der größte Theil der linken Gesichtshälfte durch eine breite schwarze Binde verdeckt wurde. Das freie Auge blickte mich aber dafür desto schärfer an. – „Ja,“ versetzte ich, „der bin ich und habe hier leider viel zu thun.“ – „Es ist ungesunde Zeit,“ sagte er, die Achseln zuckend, und fuhr fort: „Ihr Gesicht, Sir, erinnert mich an einen Jungen – seine Eltern wohnten in G. und er hieß Alfred Schwarz –.“ – „Sie nennen meine Eltern und mich,“ sprach ich überrascht, und da kam er hinter dem Tisch hervor und rief: „Wirklich? Alfred Schwarz?“ – Der Arzt hatte in solchen Kreisen fast niemals einen Namen, sondern wurde kurzweg „der Doktor“ geheißen. – Und nun stand er vor mir, schaute mich fest an und hob langsam die Hand gegen mich. „Junge, kennst Du mich nicht mehr?“

Ich sah ihn aufmerksam an. Die Stimme klang, wie gesagt, bekannt, und in den Zügen war gleichfalls etwas, was mir nicht fremd erschien, aber an jemand Bestimmtes fand ich keine Erinnerung. Meine Hand lag in der seinen, aber ich schüttelte den Kopf. „Ich weiß wirklich nicht,“ sagte ich zögernd. – „Und haben doch so manches liebe Mal die Schlacht bei Navarin als getreue Maaten durchgefochten!“ – erwiderte er beinah vorwurfsvoll. Und da schoß es in mir auf – „Karsten Lehr?“ rief ich. – Hier, wo ich eben von ihm sprach, ist die Verbindung freilich eine nahe und natürliche, aber für mich und in Wirklichkeit war es doch anders: ich hatte seit Jahren an den alten Menschen mit keinem Gedanken mehr gedacht!

„Pst, mein Junge, man sagt das hier nicht so laut!“ versetzte er mit einer Art von Lachen, welches zu dem halben Gesicht, denn mehr sah man ja kaum, seltsam genug stand. „Der ist lange todt, meinen sie, und würden einen schönen Schreck kriegen, wollte er doch noch wieder kommen! Ich bin der Karsten Müller, der damals bei uns einwinterte – Du kennst ihn gut? – Komm’, setze Dich dort zu mir in den Schatten, das todte Auge thut mir weh – Gott verdamm’s!“

Solche Worte und Weise machten ihn mir glaubhafter, als sein Aeußeres, denn mit ihnen stand er leibhaftig vor mir, wie vor zehn Jahren, während das letztere mir zweifelhaft blieb. Wer nicht seinen Namen hörte oder von seiner Nähe wußte, hätte ihn, glaub’ ich, niemals wieder erkannt. Das lag aber nicht bloß in der großen Entstellung des Gesichts, sondern auch die gesunde Partie stimmte nirgends recht zu meinem Karsten Lehr. Und selbst wenn ich an die sicherlich nicht zahmen zehn Jahre dachte, um die er älter geworden war – er mußte jetzt über Sechzig zählen! – so kam der frühere Karsten dennoch nicht wieder hervor. Es war fast, als habe die Verwundung auch die andere Gesichtshälfte annähernd gelähmt, sodaß sie innere Regungen kaum noch widerzuspiegeln vermochte. Nur im Auge war noch volles, rasches Leben.

Er hatte sich in die Ecke gedrückt, aber sein Auge begegnete scharf dem meinen, mit einem Blick, als mache unser Zusammentreffen ihm wirklich Freude und stimme ihn fast weich. „Stoß an, Junge!“ sagte er und hielt sein Glas entgegen, „ich merk’s, Du traust mir noch immer nicht recht, aber ich bin’s! Stoß an! Mit Dir lebte sich’s gut, es war eine lustige Zeit! Und nun lasse mich von allem hören – es ist hinter mir alles aus und zu Ende.“ Und als eben der Wirth hereinkam und uns ganz verdutzt bei einander sah, fügte er hinzu: „Um den genir’ Dich nicht, Junge. Christopher ist einer von den Alten und weiß Bescheid. Bring’ uns noch ’n Glas, Alter! Den da habe ich vordem auf den Armen getragen.“

Ich zuckte die Achseln und fügte mich. Karsten lebte immer deutlicher vor mir auf: Plaudern ohne Trinken war nichts für ihn, und Widerspruch reizte ihn. Also saß ich und erzählte und that’s mit wachsender Lust, denn der Alte war voll reger Theilnahme, noch überall zu Haus und jetzt von bester Laune. Erst als ich auch nach seinen Schicksalen fragte, wurde er verdrießlich. Er sei immer der „wilde Racker“ geblieben, meinte er, und habe sich, als er das Leben satt gekriegt, hier eingethan, wo keiner von ihm und er von keinem etwas wolle. Als ich endlich aufbrach, redete er von baldigem Wiederkommen. „Der Name schreckt Dich doch nicht?“ fügte er hinzu. – „Was für ein Name?“ fragte ich verwundert. – „Ei nun, sie heißen das Nest hier den ,Schlagtodt‘, und die Hasenfüße laufen, wo sie’s nur von ferne sehen, davon, als führe ihnen schon ein Messer in die Rippen. Aber komm’ Du nur. Es geht hier bei mir ganz solide zu, und Christopher hat allerhand im Raum, wo selbst unsereiner alle zehn Finger ’nach leckt. Komm, Junge, wollen heut’ Abend ’mal hinten ausschlagen! Was sollt’ ich schlecht leben – ich habe ja doch nichts!“

Am andern Morgen sprach ich schon früh im Hause vor, um nach meiner Patientin zu sehen. Karsten war nicht da. „Der kommt nie vor zehn Uhr,“ meinte der Wirth, „dann aber sicher.“ – „Lebt er hier ganz allein und wie bringt er sich durch?“ fragte ich. – „Mutterseelenallein, Herr! Und mit dem Durchbringen; – na, viel wird nicht da sein, aber für ein paar Jahre reicht’s ja wohl noch. Und länger –,“ setzte er achselzuckend und abgebrochen hinzu – „na, Herr, ich traue ihm nicht recht. Es möchte ’mal fix mit ihm aus sein.“

Dergleichen hatte ich gestern gleichfalls schon für mich selber gedacht, und was ich in der nächstfolgenden Zeit an dem alten Menschen beobachtete, bestärkte mich in meiner Anschauung. Solche bärenhafte Naturen halten sich, zumal bei ihrer gewohnten Weise, lange; kommen sie aber einmal in’s Bröckeln und giebt’s obendrein noch gar eine Veränderung in ihrer Lebensweise, so geht es meistens auch desto rascher zu Ende. Und für Karsten war diese Veränderung leicht möglich in schroffester Weise und von heut zu morgen eingetreten, aus dem buntesten Leben zum allereinförmigsten, von der See zum Lande, von rastloser Geschäftigkeit bis zur vollsten Unthätigkeit – ein Wechsel, wie ihn niemand leicht überwindet, und der hier am allerwenigsten. Denn ich hatte genug gesehen, um zu erkennen, daß nicht bloß seine Konstitution ernstlich erschüttert war, sondern daß auch, um mich so auszudrücken, mit dem inneren Menschen etwas vorgegangen sein mußte und vielleicht noch immer vor sich ging, was ihn mehr und mehr aufrieb. Es schäumte und sprudelte zuweilen noch einmal in ihm auf, aber nur um ihn desto schneller in ein gewisses [11] finsteres Grübeln und eine Zerstreutheit zurücksinken zu lassen, welche manchmal eine verzweifelte Aehnlichkeit mit völliger Gedankenlosigkeit hatte. Ob dies mit früheren Erlebnissen zusammenhing, wurde nicht klar. Er redete, gegen früher, jetzt überhaupt auffällig wenig über sich und sein Treiben, und besonders über die letzten Jahre auf der See ersichtlich ungern, aber nicht etwa, weil ihm dabei das Eine oder das Andere unheimlich geworden, sondern augenscheinlich nur, weil es ihm langweilig war. Zuweilen erzählte er aber auch mit seiner ganzen alten Unbefangenheit und Naivetät. Er hatte auf einem englischen Kriegsschiff den Krieg gegen China mitgemacht und war auf einem andern um die Erde gefahren. Dabei hatte er in einem Gefecht mit malayischen Seeräubern das Auge verloren. Und so hörte ich noch dies und jenes, aber - es war sicher noch nicht das Rechte.

Eines Tages um Weihnachten, wo das Wetter so rauh und der Tag so grau waren, wie bei unserer ersten Begegnung, saß ich auch wieder bei ihm und plauderte, so gut es gehen wollte. Er war aufgeregt und hatte, auf meine Frage, über eine gewisse Steifheit oder Lahmheit geklagt, welche jede Bewegung erschwerte. Er lief trotzdem aber rastlos umher, fast als wolle er sich nur stets auf’s Neue von der fatalen Empfindung überzeugen, und verdammte voll Energie den „Rheumatismus“, das Leben am Lande, die Landratten, uns Aerzte und den nichtsnutzigen Rest des alten Karsten - es war alles keinen Schuß Pulver werth. Ich hatte mich mit meinem Glase an’s Straßenfenster gesetzt, wo sich alles beobachten ließ, was in’s Thor herein kam, während kleine Vorsetzer den Beobachter für die Passanten unsichthar machten. Heut, bei dem schmutzigen Wetter, war freilich wenig oder nichts zu sehen, denn jedermann blieb zu Hause.

Indem trat aber gleich eine ganze Gesellschaft aus dem Thore hervor - ein ältlicher Mann, der Kapitän eines größeren Handelsschiffs, voraus, achtbar von Kopf zu Füßen, groß, hager, ein wenig gebeugt, hinter ihm zwei flotte Matrosen mit Gepäck, und als vierter, gleichfalls beladen, ein schon grauköpfiger Neger. Sie waren augenscheinlich erst vor kurzem angelangt und suchten ein Unterkommen. Der Führer machte Halt und redete einen Vorübergehenden an, die Matrosen schauten sich neugierig um, und der Neger schüttelte sich vor Frost und schnitt ein Gesicht, daß ich lachen mußte.

„Der wundert sich, daß hier noch Menschen leben!“ sagte ich.

„Wird sich bald noch mehr wundern,“ meinte Christopher, der hereingekommen war und bei mir stand. „’s ist ein Amerikaner, hör’ ich, heut’ Morgen mit schwerer Havarie binnen gekommen; will nach Reval. Geht’s noch? Was meinst Du, Karsten?“

Ich hatte vor den Fremden nicht an den Alten gedacht, aber auch nichts von ihm gehört, und da ich jetzt nach ihm aufschaute, hockte er auf der Sophalehne, hart vor mir, die Hände zu Fäusten geballt und das Auge noch finster auf den Punkt geheftet, wo der Fremdling eben ein paar Sekunden lang Halt gemacht hatte. Auf Christopher’s Frage wandte er diesem grade langsam den Kopf zu, sah ihn zerstreut an und sagte dann in ebensolchem Ton: „Reval? Hm! - Amerikaner? Weißt Du mehr von ihm? - „Casper war draußen und hat ihn einlaufen sehen,“ lautete die Antwort. „‚Drei Brüder‘ von Baltimore, Kapitän Webster.“ - „Hm, so? Dachte zuerst, kenne ihn - Unsinn, ist lange todt! - Will mich ’mal nach dem Schiff umsehen.“ - Und nach diesen abgerissenen Worten rutschte er von seinem Sitz herunter, strich mit beiden Händen hart über den Rücken nieder und grollte. „Gott verdamme den infamen Rheumatismus! Christopher, ein neues Glas!“

Am nächsten Tage fehlte Carsten, ein unerhörter Fall, der selbst den Wirth verblüffte. Bleibe der Alte länger aus, wolle er nach ihm sehen lassen, meinte er, einstweilen werde es noch nichts zu sagen haben. Carsten habe gestern Abend nach einer schweren Sitzung mit ein paar Andern den „Rheumatismus“ nach seiner Behauptung „untergekriegt“ und möge sich heut, bei dem hellen Morgen, wohl einmal draußen nach dem „Amerikaner“ umsehen. „Der liegt ihm am Herzen, merkte ich!“ fügte Christopher kopfschüttelnd hinzu. [30] In den folgenden Tagen war viel vom „Amerikaner“ die Rede, der ein besonders großes Schiff war und vermuthlich hier überwintern mußte. Der Kapitän sollte ein höflicher, aber im Ganzen zurückhaltender Mann sein und sich im ersten Gasthof einquartiert haben. Ich begegnete ihm ein paarmal auf meinen Gängen. Das Wetter war hell geworden und zum leichten Frost umgeschlagen. Er schien sich in Begleitung des Negers die Stadt anzusehen. Ich hörte ihn mit dem Burschen englisch reden, doch sollte er sich sonst auch deutsch mit ziemlicher Geläufigkeit ausdrücken.

Als ich zu Anfang der folgenden Woche einmal wieder in den „Schlagtodt“ kam, fehlte Karsten aufs neue, und der Wirth machte ein sorgenvolles Gesicht. „Ich hätte Sie heut’ noch rufen lassen, Herr,“ sagte er. „Es ist nicht gut mit dem Alten. Er klagt nicht, aber er will nicht aus dem Loch und sitzt allein und trinkt Tag und Nacht – das bringt einen Riesen um. Reden Sie mit ihm, auf mich hört er nicht.“ – „Gut, so will ich gleich zu ihm. Wo wohnt er? Ich hörte nie von seiner Wohnung,“ versetzte ich. – Und da erwiderte Christopher grollend: „Ja Herr, das gehört auch dazu. Er hat sich mit dem alten Wallis gezankt und ihm den Stuhl vor die Thür gesetzt. Da hab’ ich ihn denn wohl hier bei mir einlogiren müssen.“ – „Schon recht, wo find’ ich ihn also?“ fragte ich. – „Ich muß Sie selber hinbringen, Herr,“ erwiderte er, halb verdrießlich, halb verlegen. „Es hat mit dem Platz so seine eigene Bewandtniß – es darf nicht davon geredet werden.“ – Ich sah ihn ganz verwundert an. „Was giebt’s, Herr Wirth?“ – „Ei Herr, der Platz muß unbekannt bleiben,“ sagte er achselzuckend. „Nichts für ungut, es ist ’mal nicht anders.“

Er führte mich die Treppe hinauf, durch einen langen Gang und wieder über eine steile Stiege, unter dem Dach hin und zwischen aufgeschichtetem Torf entlang, bis an die durch allerlei altes Gerümpel verstellte Schlußwand. Da trat er um ein paar Möbelstücke und klopfte taktmäßig an. War’s eine Wand oder eine Thür? Es war hier so dunkel, daß man von seiner Umgebung so gut wie nichts zu unterscheiden vermochte. Und nun ging eine Thür auf, und ein kleines, nur durch ein Oberlicht und eine Kerze auf dem Dach dämmerig erhelltes, von Cigarrenrauch erfülltes Gemach lag vor uns. Am Tisch saß Karsten vor Flasche und Glas und schaute uns mit stierem Blick entgegen, ohne sich übrigens zu regen. „Da sitzt er,“ sagte der Wirth. „Wenn Sie hernach gehen, Herr, so soll meine Frau auf Sie passen.“ Und damit trat er zurück und drückte die Thür hinter sich ins Schloß.

So war ich mit Karsten allein, und hatte mich das Bisherige überrascht, so bestürzte mich beinah, was ich nun vor mir sah. Ich hatte den Alten seither nicht blos ruhiger, sondern auch gewissermaßen solider gefunden, als er sich in den alten Zeiten zu geben pflegte. Sein Durst gehörte nun einmal ebenso gut zu ihm, wie der Stoff, mit dem er ihn am liebsten löschte, eigentlich übernommen aber hatte er sich vor meinen Augen bisher nie, wie groß ein paarmal auch seine Aufregung, wie tief zu anderen Zeiten seine Versunkenheit gewesen, von der ich gesagt habe. Er hatte sich, so wie's darauf ankam, stets rasch und vollständig wieder aufzuraffen vermocht. Mit dem hier vor mir schien es jetzt aber ganz zu Ende zu sein, und die Veranlassung war nicht zweifelhaft. Die Rumflasche war fast leer, in der Wasserflasche fehlte kein Dropfen, und das Glas enthielt den reinen Stoff. Von seinem Aussehen habe ich schon gesagt, seine Antwort auf meinen Gruß war ein unverständliches Murmeln, und die Hand, welche er mit einer sozusagen willenlosen Bewegung in die meinige legte, war so welk, als sei kein einziger Knochen darin.

Ich behielt sie in der meinigen und schaute ihn fest an. „Nun, was ist denn mit Dir, alter Mensch?“ fragte ich nicht grade freundlich, denn ich sorgte weniger um ihn, als daß mich dieser Zustand anwiderte. Er blickte nicht auf, sein Gesicht blieb unverändert, die Hand gleich leblos. „Schlafen, Junge, schlafen – ich kann’s nicht!“ murmelte er in klanglosem Ton. – Ich faßte die Hand fester, sie wäre mir sonst entfallen. „Ja, wie kann man denn hier schlafen?“ fragte ich, mich in dem armseligen Gelaß umschauend, – „in diesem licht- und luftlosen Loch, immer allein und mit der Rumflasche als Tröster?“ – Er saß regungslos in seinem dumpfen Brüten, vielleicht hatte er meine Worte auch gar nicht gehört.

„Mach’, daß Du hinaus und hinunter kommst,“ fuhr ich fort, „unter Menschen! Hier erstickst Du oder wirst toll.“ Es regte sich noch immer nichts und da sagt’ ich – der Vorwurf von Feigheit hätte ihn, wie ich wohl wußte, früher von den Todten aufgerufen! – mit allem Bedacht: „Oder hast Du Angst vor den Menschen und verkriechst Dich hier blos?“

Es zuckte wie ein Blitz durch ihn hin; die Hand wurde hart wie Eisen und die Finger spannten sich um die meinen; der Kopf flog auf mit einem Ruck, das Auge traf mich mit drohendem Blick. „Was weißt Du? Wer hat Dir ’was gesagt?“ fuhr er mich ingrimmig an. Und er stand auf den Füßen, – „wird’s, Junge?“ – Ich kann nicht sagen, daß ich erschrocken gewesen wäre, denn ich erlebte einen so jähen Wechsel an ihm nicht zum ersten Mal und hatte, wie gesagt, durch meine Worte eine solche Wirkung zu erzielen gewünscht. Ueberraschend aber blieb ein derartiger Ausbruch immer, und ich mußte mich ernstlich zusammen nehmen, daß ich nicht nachgab, denn dann würde mein Wagniß umsonst geblieben und er entweder in sinnlose Wuth gerathen, oder in die frühere Stumpfheit zurückgesunken sein. Und ich sah ihm fest in das brennende Auge und versetzte so kalt wie nur möglich. „Bist Du schon toll geworden, Karsten? Was sollt’ ich wissen? Wer sollte mir ’was gesagt haben? Oder traf ich’s wirklich, und verkriechst Du Dich hier tatsächlich in dem Hundeloch?“

Er stand vor mir, bebend vor Aufregung; das Auge funkelte, das erstarrte Gesicht hatte ein unheimliches Leben gewonnen, seine Fäuste ballten sich – wollte er mich anpacken? Aber jählings zuckte es durch die wilden Züge und ließ sie, zumal um den Mund, starr und hart werden wie nie zuvor.

„Verkriechen – ich – vor dem Gesindel? – Oh!“ knirschte er, die Fäuste schüttelnd. Er wandte sich zum Tisch und stürzte das noch halb gefüllte Glas ’runter. Und es hart niedersetzend, kehrte er sich wieder gegen mich. „Komm’ mit, Junge, will Dir was zeigen!“ grollte er und trat von mir fort, gegen die Wand. Da schob er etwas wie einen bisher nicht sichtbaren Schieber zurück und ließ eine Oeffnung erscheinen, durch welche plötzlich das scharfe Licht des klaren Wintertags in das halbdunkle Gemach schoß. „Da tritt hin und guck’ hinaus – da ist’s!“

Mir wurde ein überraschender Anblick. Es war nur eine Mauerlücke, wie sie hie und da die Gerüststangen zu hinterlassen pflegen, vielleicht zwei, höchsteus drei Mauersteine groß und dennoch für ein nahes Auge groß genug, um ihm eine wunderbare Aussicht zu eröffnen Ich habe erzählt, daß der „Schlagtodt“ hart am Hafenthor lag, sodaß die Rückwand seiner Hintergebäude nothwendig an die alte Stadtmauer stoßen oder, wie auch anderwärts, durch diese selbst gebildet werden mußte. So lag denn wirklich, bei geringer Wendung des Blicks, ein großer Theil des Hafens vor mir, ein Vorzug, dessen sich vermuthlich kein anderes Haus dieser Stadtgegend rühmen durfte – denn die Steuerbehörde duldete hier nichts wie eine Fensteröffnung – und ein besonderer Vorzug des kleinen Zimmers, in dem wir weilten. Denn wahrscheinlich diente es gelegentlich zum sicheren Aufenthalt für Bursche, welche ihrem Schiffe entlaufen waren und sich des Wirths Protektion verschafft hatten, ihr Fahrzeug aber dennoch gern im Auge behalten wollten, bis sie nichts mehr von ihm zu besorgen hatten.

Leben war da draußen in dieser Jahreszeit nicht viel; die Schiffe lagen fast oder ganz abgetakelt, hüben und drüben gedrängt am Bollwerk entlang, mit einer leichten Schnee- oder Reifdecke überzogen und ohne einen Mann an Bord – Wächter pflegten nur Nachts aufgestellt zu werden. Nur ein einziges war voll Bewegung – der Amerikaner „Die drei Brüder“, der uns gegenüber an der Werft lag und die Zimmerleute an Bord hatte. Es war, wie bemerkt, ein spiegelklarer Tag, sodaß ich von meinem [31] Guckloch aus alles deutlich sehen und die einzelnen Gestalten unterscheiden konnte. Der Kapitän und der Schwarze waren unter ihnen.

Und wie ich das sah, kam es über mich wie eine Eingebung, und der Morgen, wie jener Mann da durchs Thor gekommen war, und Karsten’s ganzes Verhalten dabei standen auf das Lebhafteste vor mir. Ich wandte mich zu dem Alten um. Er stand einen Schritt zurück, den Kopf ein wenig vornübergebeugt, das Auge mit bohrendem Blick über meine Schulter hinaus auf das Schiff da drüben gerichtet, das Gesicht wie erstarrt. Ich trat zurück und ließ ihm den Blick frei.

„Leugne nicht, Karsten – vor denen da bist Du retirirt!“ sagte ich. „Du kennst das Schiff und seinen Kapitän.“

Er drehte langsam das Auge mir zu und wieder zurück, seine Züge blieben unverändert, nur war’s mir, als höre ich etwas wie einen knirschenden Laut, und endlich grollte es dumpf hervor:

„Ob ich ihn kenne, und den Schuft von Nigger dazu.“

Sein Auge kehrte wieder langsam zu mir zurück und er sprach, jetzt wirklich knirschend. „Ja, vor ihnen bin ich retirirt oder, wie Du sagst, habe ich mich verkrochen! Aber Gott verdamme mich! nicht aus Angst! Ich bin hier auf Wache, Junge, und die Stunde kommt, und ich fasse ihn!“

Mir wurde unheimlich zu Muth, denn was sich hier vor mir erhob, ging über alles Gefürchtete weit hinaus – solche Vorstellungen und Pläne in dem kranken Kopf da ließen, wenn man nicht rasch vorbeugte, das Schlimmste nicht unmöglich erscheinen, denn einmal im Gang, wich Karsten Lehr vor nichts mehr zurück. Ich mußte mehr wissen, und vor allem, wie viel Theil etwa trotz alledem der Rum an diesem Ausbruch hatte, und ich machte es, wie vorhin, indem ich möglichst kaltblütig sagte. „Wozu der Lärm, Karsten, oder hast Du zu viel getrunken?“

Er fuhr jählings auf.

„So, meinst Du? Der da und der schwarze Hund haben mir den Kleinen gestohlen und das Glück dazu! Aber jetzt hab’ ich ihn und mein Auge hält ihn, und –“ Er wandte sich auf dem Absatz um und zum Tisch, goß den Rest aus der Flasche ins Glas und stürzte es aus. „Schließe den Schieber, Junge, oder ich breche schon jetzt aus!“

Ich wußte nicht, was ich sagen, nicht was ich thun sollte, denn die Situation wurde immer unheimlicher, und während mein Bleiben allem Anscheine nach kaum etwas nützen konnte, schien es mir durchaus unthunlich, ihn gegenwärtig auch nur so lange allein zu lassen, daß ich mich mit dem Wirth hätte verständigen können.

„Karsten,“ sagte ich so kaltblütig wie nur möglich, „es ist doch, wie ich vorhin sagte: Du hast zu viel getrunken, denn Du könntest sonst unmöglich so tolles Zeug schwatzen. Was ist das für ein Unsinn mit dem ‚Kleinen‘, der Dir gestohlen sein soll? Du hast nie ein Kind an Bord gehabt!“

Er fuhr auf, faßte sich augenscheinlich sogleich wieder und erwiderte mit einer Art von Ungeduld: „Verstelle Dich nicht, Junge! Du weißt gut genug, was ich meine.“

„Nein,“ versetzte ich, „das weiß ich nicht.“

„Du wüßtest nicht, was der ‚Kleine‘ für ein Ding ist und für Unsereinen bedeutet?“ fragte er, finster mich anblickend.

„Nein,“ sagte ich nochmals, aber es durchzuckte mich eine Ahnung von Aberglauben, auf den ich hier stieß, den ich jedoch am allerwenigsten in dem Alten gesucht hätte. Denn mochte Karsten im Uebrigen sein, wie er wollte – ein Träumer oder Grübler war er nie, vielmehr ein kluger und nüchterner Kopf und in allen – sage ich: übersinnlichen Dingen der richtige Freigeist. Ich sah ihn fest an. „Redest Du am Ende gar von dem lieben Herrn Klabautermann?“

Sein Auge traf finster das meine. „Leugne das Blaue vom Himmel herunter, es hilft Dir nichts. Was ist, das ist!“ sagte er dumpf. „Hättest Du’s nur einmal erlebt – Du glaubtest wie ich! Sieh, ich lachte auch darüber,“ redete er ebenso weiter, „aber an Bord des Holländers lernte ich’s verstehen und schwor mir zu, wo ich noch einmal mit meinem eigenen Schiff segle, thue ich’s nicht ohne den Kleinen. Nun –“ er strich mit der Hand über die gefaltete Stirn und das düstere Auge – „ich kam nach Hause, damals, Junge, als ich das schlechte Weibsbild austrieb, und ließ die Bark auflegen. Da brachte ich’s in Gang. Ich wußte aus meiner Jungenzeit von einer Eiche im Galower Forst, bei der es umgehen sollte, weil an ihrer Wurzel ein neugeborenes und ungetauftes Kind verscharrt war. Solche Seelchen gehen in den Baum über und mit dessen Holz in das Schiff und bleiben diesem treu, so lange noch ein Stück des Baumes drinsteckt. So besorgte ich’s, und da der Baum schlecht war und wenig nutzbares Holz bot, so ließ ich wenigstens ein Stück einfügen an einem gut verborgenen und wohl versicherten Platze.“

Als er hier schwieg, sprach ich auch nichts. Ich beobachtete ihn voll ernsten und schweren Nachdenkens, wie er zuerst ganz versunken saß, dann den Kopf fast lauschend erhob, mit seinem Auge vorsichtig zu mir und voll Haß und Grimm zu dem kleinen Schieber hinüberstreifte – was war aus diesem Kopf geworden, und was kann aus einem Kopf werden! Mich fröstelte. Und ich horchte ins Haus hinein, ob sich nicht vielleicht etwas von dem Wirth oder seiner Frau hören lasse. Nein – nichts, ich mußte mir selber helfen!

„Karsten, Du alter Seebär, das hätte ich von Dir nie im Leben geglaubt!“

Er schaute düster, aber dennoch mit einem, ich möchte sagen: sehenden und gegenwärtigen Blick, wie befreit von seinen Phantasien, zu mir auf. „Ja, lache mich nur aus, Junge! Hab’ es selber gethan und mich grausam verhöhnt, und war drauf und dran mich loszumachen! Aber es ging nicht – er war da: ich hörte ihn, ja, Junge, ich sah ihn auch, und die Jungen glaubten so fest an ihn, wie ich selbst. Lustigere Fahrten giebt’s nicht, als damals die unseren in den ersten zwei Jahren, und eine lustigere und fixere Mannschaft findest Du an keinem Bord. Es glückte uns Alles, kein Sturm und keine See schädigten uns. Man durfte das Tollste wagen.

Da stießen wir einmal auf ein treibendes Boot und fanden in ihm unter den verwesenden Leichen noch zwei Lebende, die aber gleichfalls schon so weit herunter waren, daß sie die Todten nicht mehr hatten über Bord werfen können – das waren die Beiden da,“ unterbrach er sich mit einer Art von Knirschen. „Damals nannte er sich aber Jack Morris. – Sie waren vor vier Wochen von Rio abgesegelt, hatten Schiffbruch gelitten und waren, so viele sich ihrer in das Boot salvirt hatten, mit diesem herumgetrieben, bis alle außer den zweien verschmachteten. So sagten sie. Wir aber hatten unsere eigenen Gedanken. Es trieben sich damals ein paar Kreuzer auf jener Höhe herum, mit denen Niemand gern zu thun hatte. Die Engländer waren scharf hinter ihnen her und machten, wo sie einen trafen, kurzen Prozeß. So war’s, wie wir kürzlich von einem Amerikaner gehört hatten, vor vierzehn Tagen einem von ihnen ergangen, das Schiff verbrannt, von der Mannschaft nichts Lebendes mehr an Bord. Daran dachten wir und sahen uns die Beiden darauf an, kümmern aber that’s uns weiter nicht. Wir hatten sie ’mal und fütterten sie heraus, bis sie wieder Menschen waren. Jack Morris machte sich währenddeß an mich und brachte es dahin, daß wir gut Freund wurden, Kompagnie machten und Jahr und Tag mit einander segelten.

Nun, Junge, davon ist nicht weiter zu reden,“ sprach er weiter, aber noch immer in dem bisherigen, verhältnißmäßig ruhigen Tone. „Es war eine Zeit der Tollheiten, und Du weißt, Junge, zu dergleichen und wo es was zu wagen giebt, war mir immer leicht gepfiffen. Meine Jungen waren auch keine Duckmäuser, sondern hatten einen guten Spaß und hübschen Verdienst gern, und dazu half Morris uns stets von Neuem, und das Glück blieb uns allerwärts treu. Die spanischen Zöllner waren blind und taub, oder wurden, wo sich’s doch ’mal so traf, abgeklopft, daß es eine Freude war. Und so ging’s fort, bis ich einmal wieder an Land mußte. Das kam zu Zeiten, neuer Geschäfte wegen, vor und wurde stets von mir selber oder durch meinen Steuermann besorgt, da wir dem Morris neuerdings nicht mehr recht trauten: es waren ein paarmal kuriose Dinge vorgekommen. – Und als ich jetzt am dritten Abend spät an Bord zurückkehrte, war er mit dem Schwarzen auf und davon. Er hatte, wie mir der Steuermann sagte, der krank darniederlag, die Leute von mir abwendig zu machen gesucht und war, da er böse Worte zu hören bekam, Abends zuvor ans Land gegangen – mit dem höhnischen Wunsch, daß ‚der Kleine‘ uns treu bleiben möge.“

Karsten saß zusammengesunken und starrte düster vor sich hin. Aber nach ein paar Augenblicken hob er den Kopf auf, that einen tiefen Athemzug und redete – es war etwas Grollendes [32] in seiner gedämpften Stimme – weiter: ‚Dann müssen wir gleich hinaus,‘ sagte ich, ‚daß uns am Ende nicht die Bande über den Hals kommt!‘

‚Ja, mich wundert, daß sie nicht schon da ist,‘ sprach der Steuermann. ‚Glaubt’s Herr, er ist ein regulärer Schuft – ich habe nie etwas auf ihn gehalten.‘

Und so liefen wir denn aus und – gerade einem spanischen Zollschoner in die Arme, der draußen auf uns paßte. Es wurde ein harter Kampf, wo uns Alles schief ging, kein Manöver gelang und keine Kugel traf, sodaß mir mit einem Male jene hohnvollen Worte des Schuftes in den Kopf kamen und einen Verdacht wachriefen – Junge, ich stürzte hinunter und sah mich um und – Gott verdamme mich hier und dort!“ setzte er knirschend hinzu, die Stirn drohend gefaltet und die Fäuste geballt, „der Klotz war ausgesägt – der ‚Kleine‘ fort – oh! –

Da wußt’ ich Bescheid und sprang hinauf, um bei meinen noch übrigen Jungen zu bleiben. Die Zöllner enterten gerade und in fünf Minuten lag ich mit dem Hieb durch das Auge besinnungslos darnieder und – die Affaire war zu Ende. Man hat mich und ein paar Andere zur Aburtheilung ans Land gebracht und, wie ich gehört habe, die armen Teufel auch richtig gehängt,“ sprach er nach einer kurzen Pause weiter. „Mich sparte man auf, bis ich wieder bei Verstand wäre. Dann aber kam ich durch ein paar gute Freunde davon und warf mich auf die Spur des Schuftes. Drei Jahre lang bin ich ihr gefolgt, wohin sie mich wies, von einem Schiff und einem Hafen zum anderen. Denn der Bnrsche floh vor mir, er wußte wohl, was ihm blühte. Aber ich hatte kein Glück mehr und traf ihn nicht, bis ich, es werden jetzt auch wieder drei Jahre sein, von einem seiner alten Maaten, den er auch betrogen hatte, vernahm, er sei auf Barbados am gelben Fieber gestorben. So war’s denn aus, auch mit mir. Ich dachte, ich hätte mir die Ruhe verdient, und machte mich hierher und fraß meinen Grimm in mich. Aber –“ und noch einmal kam das Knirschen wieder, sein Auge brannte düster und die Fäuste zuckten – „aber, ich habe doch noch Glück! Da ist er und jetzt ist er mein! – Er ist schlau, der Hund, und geht nicht allein, und spürt herum! – Aber ’s hilft ihm nichts – ich packe ihn schon!“

Er stand auf und ging zum Schieber, stieß ihn auf und schaute hinaus. Und nach einer Weile sprach er über die Schulter zurück: „Packe Dich, Junge! Ich brauche keinen Doktor, ich will mich schon selbst kuriren!“ –

Ich sage nichts mehr von mir, nicht von meinen Gedanken, nicht von meiner Stimmung. Als ich mich entschloß zu gehen, gab ich der Frau drunten einen Wink, daß sie auf den Alten achten und ihn im Hause festhalten solle, und suchte dann den Wirth auf, um ihn von dem Vernommenen und meiner Ansicht über Karsten zu unterrichten. Der rauhe Mann war ganz bestürzt und stimmte mit mir überein, daß hier kein Augenblick zu verlieren sei. Er wolle die Sorge für den Unglücklichen übernehmen, bis ich Kapitän Webster unterrichtet hätte und mit ein paar Wärtern des Krankenhauses zurückkehren könnte, um den Unglücklichen in Verwahrung zu nehmen.

Aber all unser Eifer und all unsere Vorsicht waren umsonst. Denn schon nach einer Viertelstunde, als ich im Krankenhaus weilte, durchflog das Geschrei die Stadt, daß der Kapitän Webster, der allein von seinem Schiffe fortgegangen war, nahe vor der Brücke, die zum Thore führte, von dem tollen Karsten Müller, wie er bekanntlich hier genannt wurde, überfallen und niedergestochen worden sei. Der Thäter habe sich unmittelbar darauf ins Wasser gestürzt und sei noch nicht gefunden worden.

Die Erklärung, wie das Unglück so schnell möglich geworden, schien nicht schwierig zu sein. Karsten hatte zweifellos durch den Ausguck seinen Feind das Schiff allein verlassen sehen und sich die Gelegenheit augenblicklich zu Nutze gemacht, das Haus mit der ihm eigenthümlichen Schlauheit und Vorsicht durchschleichend – vielleicht schon während der Minute, wo ich droben mit der Wirthin im Zimmer verhandelt hatte. Draußen war dann weiter kein Hinderniß mehr, denn wer den alten Menschen wirklich erkannte, hatte am Ende keinen Grund, ihn aufzuhalten da er am allerwenigsten etwas wie sein jetziges Vorhaben argwöhnen konnte. Der Kapitän aber war, als er den Angreifer erblickt hatte, auch bereits niedergestoßen worden und ohne einen Laut gestorben.

Er hatte aber, wie man von dem Neger erfuhr, sich vordem eine Zeitlang wirklich Jack Morris genannt, sodaß Karsten wenigstens von jenem Vorwurfe, in der Blindheit seines Hasses vielleicht nur durch eine zufällige Aehnlichkeit getäuscht worden zu sein, freigesprochen werden mußte. – Ich habe nichts mehr zu sagen.