Klage Maria Stuart’s beim Erwachen des Frühlings
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Nun hängt auf jeden Blüthenbaum
Ihr grünes Kleid Natur,
Und breitet, wie ein weißes Tuch,
Maßliebchen auf die Flur;
Und glänzt am Himmelszelt;
Doch Nichts erhellt die trübe Nacht,
Die mich gefangen hält.
Die Lerche weckt den jungen Tag,
Die Amsel lockt aus grüner Wand
Das Echo, hell und klar;
Die Drossel singt mit hellem Ton
Den müden Tag zur Ruh’;
Gefangen bist nur Du! –
Nun blüht die Lilie auf dem Feld
Die Primel an der Höh’
Der Hagedorn treibt in dem Thal
Der schlechtste Knecht im Schottenland
Tanzt froh im Abendthau;
Doch ich – der Schotten Königin,
Nur Kerkermauern schau’.
Da lebt’ ich frei und froh,
Stand glücklich jeden Morgen auf
Ging schlafen ebenso.
[111] Nun herrsche ich im Schottenland,
Und schmacht’ in fremden Banden hier,
Die er geschmiedet hat.
Was Dich betrifft, Du falsches Weib,
Du, Schwester mir und Feind,
Und Niemand Dich beweint!
Den schönsten Schatz der Frauenbrust
Hast niemals Du gekannt;
Noch ist der Balsam tiefen Weh’s
Mein Sohn! mein Sohn! O freundlicher
Sei Dir des Schicksals Schein!
Mög’ freundlicher Dein Regiment,
Als, ach, das meine sein!
Halt’ Dich von eignen frei;
Doch, wenn Du meine Freunde triffst,
Lohn’ ihnen ihre Treu’
O, bald, küßt mich der Morgenstrahl
Schau’ das bewegte Korn nicht mehr
Am schönen Sommertag!
Und in des Todes engem Haus
Bricht bald mein Lebensstab,
Auf meinem stillen Grab.