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Lenore (Bürger)

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Textdaten
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Autor: Gottfried August Bürger
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Titel: Lenore
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aus: Gedichte, S. 81–96
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum: 1773
Erscheinungsdatum: 1778
Verlag: Johann Christian Dieterich
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Erscheinungsort: Göttingen
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Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
siehe auch die spätere Fassung dieses Gedichtes bei Wikisource
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Lenore.
Im Winter 1773.


     Lenore fuhr um’s Morgenrot
Empor aus schweren Träumen:
„Bist untreu, Wilhelm, oder todt?
Wie lange wilst du säumen?“ –

5
Er war mit König Friedrichs Macht

Gezogen in die Prager Schlacht,
Und hatte nicht geschrieben:
Ob er gesund geblieben.

     Der König und die Kaiserin,

10
Des langen Haders müde,

Erweichten ihren harten Sin,
Und machten endlich Friede;
Und jedes Heer, mit Sing und Sang,
Mit Paukenschlag und Kling und Klang,

15
Geschmükt mit grünen Reisern,

Zog heim zu seinen Häusern.

     Und überal al überal,
Auf Wegen und auf Stegen,
Zog Alt und Jung dem Jubelschall

20
Der Kommenden entgegen.

Gottlob! rief Kind und Gattin laut,
Wilkommen! manche frohe Braut.
Ach! aber für Lenoren
War Grus und Kus verloren.

25
     Sie frug den Zug wol auf und ab,

Und frug nach allen Namen;
Doch keiner war, der Kundschaft gab,
Von allen, so da kamen.
Als nun das Heer vorüber war,

30
Zerraufte sie ihr Rabenhaar,

Und warf sich hin zur Erde,
Mit wütiger Geberde.

     Die Mutter lief wol hin zu ihr: –
„Ach, daß sich Gott erbarme!

35
Du trautes Kind, was ist mit dir?“ –

Und schloß sie in die Arme. –
„O Mutter, Mutter! hin ist hin!
Nun fahre Welt und alles hin!
Bei Gott ist kein Erbarmen.

40
O weh, o weh mir Armen!“ –


     „Hilf Gott, hilf! Sieh uns gnädig an!
Kind, bet’ ein Vaterunser!
Was Gott thut, das ist wolgethan.
Gott, Gott erbarmt sich Unser!“ –

45
„O Mutter, Mutter! Eitler Wahn!

Gott hat an mir nicht wolgethan!
Was half, was half mein Beten?
Nun ist’s nicht mehr vonnöten.“ –

     „Hilf Gott, hilf! wer den Vater kent,

50
Der weis, er hilft den Kindern.

Das hochgelobte Sakrament
Wird deinen Jammer lindern.“ –
„O Mutter, Mutter! was mich brent,
Das lindert mir kein Sakrament!

55
Kein Sakrament mag Leben

Den Todten wiedergeben.“ –

     „Hör, Kind! wie, wenn der falsche Man,
Im fernen Ungerlande,
Sich seines Glaubens abgethan,

60
Zum neuen Ehebande?

Las fahren, Kind, sein Herz dahin!
Er hat es nimmermehr Gewin!
Wann Seel’ und Leib sich trennen,
Wird ihn sein Meineid brennen.“ –

65
     „O Mutter, Mutter! Hin ist hin!

Verloren ist verloren!
Der Tod, der Tod ist mein Gewin!
O wär’ ich nie geboren! –
Lisch aus, mein Licht, auf ewig aus!

70
Stirb hin, stirb hin in Nacht und Graus!

Bei Gott ist kein Erbarmen.
O weh, o weh mir Armen!“ –

     „Hilf Gott, hilf! Geh nicht ins Gericht
Mit deinem armen Kinde!

75
Sie weis nicht, was die Zunge spricht.

Behalt ihr nicht die Sünde!
Ach, Kind, vergis dein irdisch Leid,
Und denk an Gott und Seligkeit!
So wird doch deiner Seelen

80
Der Bräutigam nicht felen.“ –

     „O Mutter! Was ist Seligkeit?
O Mutter! Was ist Hölle?
Bei ihm, bei ihm ist Seligkeit,
Und ohne Wilhelm Hölle! –

85
Lisch aus, mein Licht, auf ewig aus!

Stirb hin, stirb hin in Nacht und Graus!
Ohn’ ihn mag ich auf Erden,
Mag dort nicht selig werden.“ – – –

     So wütete Verzweifelung

90
Ihr in Gehirn und Adern.

Sie fuhr mit Gottes Fürsehung
Vermessen fort zu hadern;
Zerschlug den Busen, und zerrang
Die Hand, bis Sonnenuntergang,

95
Bis auf am Himmelsbogen

Die goldnen Sterne zogen.

     Und aussen, horch! ging’s trap trap trap,
Als wie von Rosseshufen;
Und klirrend stieg ein Reiter ab,

100
An des Geländers Stufen;

Und horch! und horch! den Pfortenring
Ganz lose, leise, klinglingling!
Dann kamen durch die Pforte
Vernemlich diese Worte:

105
     „Holla, Holla! Thu auf, mein Kind!

Schläfst, Liebchen, oder wachst du?
Wie bist noch gegen mich gesint?
Und weinest oder lachst du?“ –
„Ach, Wilhelm, du? - - So spät bei Nacht? - -

110
Geweinet hab’ ich und gewacht;

Ach, grosses Leid erlitten!
Wo komst du hergeritten?“ –

     „Wir satteln nur um Mitternacht.
Weit rit ich her von Böhmen.

115
Ich habe spat mich aufgemacht,

Und wil dich mit mir nemen.“ –
„Ach, Wilhelm, erst herein geschwind!
Den Hagedorn durchsaust der Wind,
Herein, in meinen Armen.

120
Herzliebster, zu erwarmen!“ –


     „Las sausen durch den Hagedorn,
Las sausen, Kind, las sausen!
Der Rappe schart; es klirt der Sporn.
Ich darf alhier nicht hausen.

125
Kom, schürze spring’ und schwinge dich

Auf meinen Rappen hinter mich!
Mus heut noch hundert Meilen
Mit dir ins Brautbett’ eilen.“ –

     „Ach! woltest hundert Meilen noch

130
Mich heut ins Brautbett’ tragen?

Und horch! es brumt die Glocke noch,
Die elf schon angeschlagen.“ –
„Sieh hin, sieh her! der Mond scheint hell.
Wir und die Todten reiten schnell.

135
Ich bringe dich, zur Wette,

Noch heut ins Hochzeitbette.“ –

     „Sag an, wo ist dein Kämmerlein?
Wo? Wie dein Hochzeitbetchen?“ –
„Weit, weit von hier! - - Stil, kühl und klein! - -

140
Sechs Bretter und zwei Bretchen!“ –

„Hat’s Raum für mich?“ – „Für dich und mich!
Kom, schürze, spring und schwinge dich!
Die Hochzeitgäste hoffen;
Die Kammer steht uns offen.“ –

145
     Schön Liebchen schürzte, sprang und schwang

Sich auf das Ros behende;
Wol um den trauten Reiter schlang
Sie ihre Lilienhände;
Und hurre hurre, hop hop hop!

150
Ging’s fort in sausendem Galop,

Daß Ros und Reiter schnoben,
Und Kies und Funken stoben.

     Zur rechten und zur linken Hand,
Vorbei vor ihren Blicken,

155
Wie flogen Anger, Haid’ und Land!

Wie donnerten die Brücken! –
„Graut Liebchen auch? - - Der Mond scheint hell!
Hurrah! die Todten reiten schnell!
Graut Liebchen auch vor Todten?“ –

160
„Ach nein! - doch las die Todten!“ –

     Was klang dort für Gesang und Klang?
Was flatterten die Raben? - -
Horch Glockenklang! horch Todtensang!
„Last uns den Leib begraben!“

165
Und näher zog ein Leichenzug,

Der Sarg und Todtenbaare trug.
Das Lied war zu vergleichen
Dem Unkenruf in Teichen.

     „Nach Mitternacht begrabt den Leib,

170
Mit Klang und Sang und Klage!

Jezt führ’ ich heim mein junges Weib.
Mit, mit zum Brautgelage!
Kom, Küster, hier! Kom mit dem Chor,
Und gurgle mir das Brautlied vor!

175
Kom, Pfaff’, und sprich den Segen,

Eh wir zu Bett’ uns legen!“ –

     Stil Klang und Sang. - - Die Baare schwand. - -
Gehorsam seinem Rufen,
Kam’s, hurre hurre! nachgerant,

180
Hart hinter’s Rappen Hufen;

Und immer weiter, hop hop hop!
Ging’s fort in sausendem Galop,
Daß Ros und Reiter schnoben,
Und Kies und Funken stoben.

185
     Wie flogen rechts, wie flogen links,

Gebirge, Bäum’ und Hecken!
Wie flogen links, und rechts, und links
Die Dörfer, Städt’ und Flecken! –
„Graut Liebchen auch? - - Der Mond scheint hell!

190
Hurrah! die Todten reiten schnell!

Graut Liebchen auch vor Todten?“ –
„Ach! Las sie ruhn, die Todten!“ –

     Sieh da! sieh da! Am Hochgericht
Tanzt, um des Rades Spindel,

195
Halb sichtbarlich, bei Mondenlicht,

Ein luftiges Gesindel. –
„Sasa! Gesindel, hier! Kom hier!
Gesindel, kom und folge mir!
Tanz’ uns den Hochzeitreigen,

200
Wann wir zu Bette steigen!“ –


     Und das Gesindel husch husch husch!
Kam hinten nachgeprasselt,
Wie Wirbelwind am Haselbusch
Durch dürre Blätter rasselt.

205
Und weiter, weiter, hop hop hop!

Ging’s fort in sausendem Galop,
Daß Ros und Reiter schnoben,
Und Kies und Funken stoben.

     Wie flog, was rund der Mond beschien,

210
Wie flog es in die Ferne!

Wie flogen oben über hin
Der Himmel und die Sterne! –
„Graut Liebchen auch? - - Der Mond scheint hell!
Hurrah! die Todten reiten schnell!

215
Graut Liebchen auch vor Todten?“ –

„O weh! Las ruhn die Todten!“ – – –

     „Rapp’! Rapp’! Mich dünkt der Hahn schon ruft. - -
Bald wird der Sand verrinnen - -
Rapp’! Rapp’! Ich wittre Morgenluft - -

220
Rapp’! Tumle dich von hinnen! –

Volbracht, volbracht ist unser Lauf!
Das Hochzeitbette thut sich auf!
Die Todten reiten schnelle!
Wir sind, wir sind zur Stelle.“ – – –

225
     Rasch auf ein eisern Gitterthor

Ging’s mit verhängtem Zügel.
Mit schwanker Gert’ ein Schlag davor
Zersprengte Schlos und Riegel.
Die Flügel flogen klirrend auf,

230
Und über Gräber ging der Lauf.

Es blinkten Leichensteine
Rund um im Mondenscheine.

     Ha sieh! Ha sieh! im Augenblik,
Huhu! ein gräslich Wunder!

235
Des Reiters Koller, Stük für Stük,

Fiel ab, wie mürber Zunder.
Zum Schädel, ohne Zopf und Schopf,
Zum nakten Schädel ward sein Kopf;
Sein Körper zum Gerippe,

240
Mit Stundenglas und Hippe.

     Hoch bäumte sich, wild schnob der Rapp’,
Und sprühte Feuerfunken;
Und hui! war’s unter ihr hinab
Verschwunden und versunken.

245
Geheul! Geheul aus hoher Luft,

Gewinsel kam aus tiefer Gruft.
Lenorens Herz, mit Beben,
Rang zwischen Tod und Leben.

     Nun tanzten wol bei Mondenglanz,

250
Rund um herum im Kreise,

Die Geister einen Kettentanz,
Und heulten diese Weise:
„Gedult! Gedult! Wenn’s Herz auch bricht!
Mit Gott im Himmel hadre nicht!

255
Des Leibes bist du ledig;

Gott sey der Seele gnädig!“