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Lisa’s Tagebuch

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Autor: Klara Biller
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Titel: Lisa’s Tagebuch
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40–43, S. 649–654, 669–672, 689–695, 709–714
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Lisa’s Tagebuch.

Erzählung von Klara Biller.
Dresden, den 8. Juni 1886. 

Du willst wissen, wie sich Alles zugetragen hat, liebe einzige Lenotschka? Da hast Du die ganze ausführliche Geschichte — wem theilte ich sie lieber mit als Dir!

Denke nur, noch kein Monat, seit wir in Riga von einander Abschied nahmen, und so Viel schon erlebt! Ja, liebes Herz, nun bin ich recht froh, daß Mademoiselle Vertueux mich auf den Gedanken brachte, Alles aufzuschreiben, was mich interessirt. Damals schien’s mir so unnöthig.

Du erinnerst Dich doch an den Tag, wo Mama mich aus der Pension holte und Mademoiselle Vertueux sagte: „Ich glaube, es ist überflüssig, gnädige Frau, daß Lisa ihr Piano übt oder singt — sie hat gar kein musikalisches Gehör.“

„Wie schade — so soll sie fleißig malen.“

„Mademoiselle Lisa fehlt leider auch für die Kunst das heilige Feuer, ohne das man Nichts erreicht.“

„Mein Gott,“ rief Mama enttäuscht, „hat meine Jüngste denn gar keine Talente?“

„Professor Steinberg findet, daß Mademoiselle Lisa sich mit der Feder gar nicht übel ausdrückt, und wenn …“

„Pfui — ein Blaustrumpf! In unserer Familie ein Blaustrumpf — Horreur!“

„Gnädige Frau — Madame de Sevigné gehörte zur besten Gesellschaft, obgleich sie sehr gute Briefe schrieb. Lassen Sie Mademoiselle Lisa jeden Tag ein paar Seiten aufsetzen über ein Buch, das sie gelesen, oder einen Besuch, den sie gemacht hat, oder …“

Mama seufzte schwer.

„Es ist das Rechte nicht — nein, durchaus nicht, aber immerhin eine Beschäftigung. Und wenn man ein junges Mädchen ohne jede Beschäftigung läßt, so kommt es auf unnütze Gedanken.“

Die arme Mama! Ich weiß, was sie traurig macht. Sie liebt und bewundert uns sehr und ist nie glücklicher, als wenn Andere uns auch bewundern. Haben wir Gäste und Natalie singt, sieht sie wie verklärt aus. Sie behauptet, Dimitri habe sich zuerst in Nataliens Stimme verliebt. Auch auf die fein ausgeführten Bildchen von Julie ist sie sehr stolz. Sie giebt so viel Geld für Rahmen aus.

Mit meinen Stilübungen kann sie freilich keinen Staat machen; ich glaube, sie schämt sich ihrer sogar ein wenig. Arme, liebe Mama! Ich will sie ja auch Niemand zeigen! (Außer meiner herzallerliebsten Lenotschka, versteht sich!)

Mir selbst haben sie schon glückliche Stunden gemacht. Wenn man das Herz so recht voll hat und Niemand, dem man sich anvertrauen kann, fängt man mit sich allein zu reden an …

Aber nun ist’s genug — jetzt darfst Du das Buch aufschlagen — das ist ja eine ordentliche Vorrede geworden!


Dresden, den 10. Mai 1886. 

Mama hat sich in Frau von Pestov nicht getäuscht, obgleich sie diese doch nur zweimal gesehen hat. (Ich glaube, Mama täuscht sich nie!) Sie war wirklich eine sehr gute Reisebegleiterin. Als wir das Tücherschwenken unserer Lieben von der „Olga“ aus nicht [650] mehr sehen konnten, erzählte sie mir ihre Ankunft in Riga nach der ersten Reise ins Ausland. Es war das Einzige, was mich in dem Augenblick interessirte. Auf der See hatte sie immer einen Shawl bereit, um ihn mir über die Schultern zu werfen. Bemerkte sie aber eine Lorgnette, oder auch ein unbewaffnetes männliches Auge auf mich gerichtet, gleich nahm sie mich unter den Arm und sprach:

„Viens, filette! Il-y a des courants d’air par ici.“

(Als ob solche „Zugluft“ Einem schaden könnte!)

In Berlin brachte sie mich nach dem Bahnhof – sie reiste zwei Stunden später nach Paris und empfahl mich zwei alten Damen, die sich’s im Koupé eben bequem gemacht hatten. Dann küßte sie mich auf beide Backen (der Kuß stach ein Bischen!) und hielt mir eine kleine Rede.

„Springen Sie nur ja nicht aus dem Wagen, ehe der Zug wirklich still hält! Ich hoffe, wir sehen uns in der Heimath wieder … Beruhigen Sie sich, Lisa – Sie reisen ja in guter Gesellschaft zu lieben Verwandten!“

Bei dem Wort: Heimath, wurde mir nämlich auf einmal so weh – so weh ! Ich mußte mich zusammennehmen, nicht laut zu weinen. Es war nicht wegen Frau von Pestov; es war das letzte Stück Rußland, von dem ich mich trennte.

Ich steckte den Kopf zum Wagenfenster hinaus, damit man meine Thränen nicht bemerkte. Von der Gegend weiß ich nichts zu berichten. Ich sah nur unser liebes altes Haus in Fennern. Es war gerade die Zeit, wann Jürri anspannt. Da steht Papa gewöhnlich vor der Thür und unterhält sich mit den Pferden. Er behauptet, daß er ihnen gleich anmerke, wenn sie mit Jürri nicht zufrieden wären.

Manchmal denke ich, Papa interessirt sich mehr für Pferde als für junge Mädchen. Aber es ist eigentlich recht gut, da wird er nicht ungeduldig, wenn er auf Mama warten muß. Sie sieht noch so hübsch aus, wenn Röth sich viel Zeit zum Anziehen nimmt, es ist immer nur Röth’s Schuld, wenn sie spät herunter kommt. Julie wird nicht mitfahren, wenn die Sonne in Fennern so hell scheint wie hier. Sie wird am Hochzeitsgeschenk für Natalie malen. Natti aber ist zur Spazierfahrt immer bereit – da vergeht ihr die Zeit, bis der Brief von Dimitri kommt.

Ob Sultan mich wohl gesucht hat? Mein treuer, alter Sultan! Ach – mich findet jetzt Niemand in Fennern …

Warum bin ich eigentlich fortgegangen? Wenn ich Heimweh bekomme, werde ich Tante gar nicht aufheitern können, und dazu schickt man mich doch nach Dresden. Tante Therese ist einsam und traurig, weil Cäcilie sich verheirathet hat. Sie behauptet, da Mama drei Töchter hätte und sie ihre einzige eben fortgegeben, müsse Mama ihr eine von uns borgen, unter Geschwistern müsse man sich aushelfen.

Ob Mama auch traurig sein wird, wenn Natti heirathet? Wahrscheinlich nur ein Bischen beim Abschied, aber innerlich ganz froh. Wir sind ja auch drei! Und Mama sagt, wenn man so viele Mädchen hat und nicht viel Geld, da dankt man Gott, wenn eine versorgt ist. Dimitri ist, glaub’ ich, sogar eine gute Partie.

„Hinter einem Hauptmannsgerichtsassessor da steckt immer eine alte Familie und darum hat Jeder vor ihm Respekt,“ behauptete neulich Papa.

Wenn ich nur wüßte, ob Natalie sich auf ihre Hochzeit freut? Sie thut so versteckt. Neulich hat Dimitri sie geküßt. Ich stand an der Glasthür hinter dem Vorhang. Sie sah sich sehr erschrocken um, aber nur weil sie glaubte, Jemand hätte es bemerkt. Ich hatte angestoßen. Als sie mich nicht sah, ließ sie sich ganz ruhig weiter küssen.

Vielleicht ist es gar nicht so unangenehm von einem Mann geküßt zu werden, wie Fräulein Vertueux behauptet …

„Wollen Sie mir nicht ein wenig Platz machen, Fräulein, ich möchte meine Füße gern ausstrecken,“ rief da eine von den beiden alten Damen.

Ich bin gewiß über und über roth geworden. Wenn sie geahnt hätte, an was ich gerade dachte!

11. Mai. 
Gestern kam ich nicht weiter. Tante bemerkte Licht in meinem Zimmer, als sie vorüberging – dummes Schlüsselloch! Da klinkte sie auf und sah mich am Schreibtisch.

„Der Brief kommt morgen noch zurecht, mein liebes Kind,“ rief sie, „heut gehst Du gleich zu Bett. Von Rußland hergereist! Da mußt Du ja müde sein!“

Warum muß ich? Mich ärgert’s, wenn Jemand besser wissen will, wie’s in mir aussieht, als ich selbst. Ich war gar nicht müde. Aber ich fürchte mich noch ein Bischen vor Tante, und so machte ich schnell meine Mappe zu und verlöschte ein paar Minuten später das Licht. Natürlich dachte Tante, ich schreibe einen Brief. Woher sollte sie auch wissen, daß ich mein einziges Talent übte!

Jetzt fahre ich fort, wo ich gestern stehen blieb, heut hab’ ich mein Schlüsselloch verstopft.

Die alten Damen, mit denen ich reiste, waren Schwestern; Beide mehr noch zusammengeschrumpft als klein, und etwas altmodisch, aber mit so freundlichen Gesichtern, als habe ein Photograph ihnen eben zugerufen: bitte – lächeln!

Sobald ich nicht mehr zum Fenster hinaussah, fingen sie mit mir zu reden an. Die Sprache klang sehr weich und komisch, paßte aber zu ihren Gesichtern. Ich merkte bald, daß sie in Dresden zu Hause seien und herausbekommen wollten, wer die „lieben Verwandten“ wären, von denen Frau von Pestov gesprochen hatte.

Sie frugen immer abwechselnd. Die Eine – sie hatte ihre abgetragenen, sehr weiten dänischen Handschuhe ausgezogen, und ich bemerkte einen goldenen und einen silbernen Trauring – war lebhafter und immer um eine Frage vor der andern voraus.

„Das ist wohl Ihre erste Reise?“

„Nein. Ich war schon in Petersburg, mit Papa.“

„Petersburg? Dort muß es ja schrecklich zugehen …“

„Hatten Sie denn keine Angst?“

„Weßhalb?“

„Nun, vor den Nihilisten!“

„In die Luft gesprengt zu werden, wenn Sie in die Nähe von einem kaiserlichen Palast kamen?“

„Wir dachten gar nicht daran.“

„Also in Riga sind Sie zu Hause?“

„In Fennern, ein paar Meilen von Riga.“

„Fennern? … Julchen, den Namen muß ich schon gehört haben.“

„Er kommt mir auch recht bekannt vor.“

Ich schwieg.

„Wir haben in Dresden viele Russen …“

„Und wir kennen einige russische Familien; es sind charmante Menschen darunter, z. B. die Herrmanns …“

Ich schwieg weiter. Fragt nur – dachte ich – Ihr sollt es nicht herausbekommen.

„Wahrscheinlich reisen Sie zu Verwandten?“ fing die mit den Trauringen nach einer kleinen Weile wieder an. „Doch nicht zu den Wassiliev’s?“

„Meine Verwandten sind keine Russen.“

„So, so! Da hat sich Ihre Frau Mutter wahrscheinlich aus Deutschland nach Fenndorf …“

„Fennern.“

„… nach Fennern verheirathet?“

„Ja – meine Mutter ist eine Deutsche.“ (Sie kommen wahrhaftig näher und näher!)

„Es ist recht schlimm für ein so junges Mädchen, in einer stockfremden Stadt allein anzukommen – meinst Du nicht, Julchen?“

„Das Fräulein wird wahrscheinlich auf dem Bahnhof erwartet. Sie haben doch genau angegeben, mit welchem Zuge Sie reisen?“

„Ja – ich schrieb es.“

„Und wenn man Sie verfehlt, werden wir Sie beschützen.“

„Sehr gütig.“

„Sollten Ihre Verwandten in unserer Nähe wohnen, so könnten wir ja zusammen einen Wagen nehmen, falls Sie Niemand auf dem Perron fänden?“

Was blieb mir übrig? „Das Haus meines Onkels liegt an der Bautzener Straße,“ sagte ich.

„Ach!“ rief da plötzlich die Eine, wie von einer Erleuchtung betroffen – „Professor Borneth’s erwarten ja ihre Nichte aus Lievland!“

Ich war wüthend! Da hatten sie es wirklich heraus.

„Ja – ich besuche die Borneth’s.“

„Das hätten wir uns eigentlich denken können. Fällt Dir nicht eine gewisse Familienähnlichkeit auf, Julchen?“

„Ich war davon gleich frappirt, als das Fräulein in den Wagen stieg.“

[651] Beide betrachteten mich nun aufmerksam. Ich versuchte gleichgültig auszusehen.

„Professor Borneth soll jetzt die Hochzeit zu Kana für das Refektorium eines österreichischen Stiftes malen,“ sagte die Eine.

„Das ist aber nett, daß wir mit der Nichte eines so berühmten Malers gereist sind!“ bemerkte die Andere.

„Werden Sie lange in Dresden bleiben?“

Wenn das so fortgeht, dachte ich, werden Sie meine ganze Lebensgeschichte herausexaminiren, meine Leibgerichte und welche Kinderkrankheiten ich gehabt habe. Glücklicher Weise stiegen zwei Damen ein – gleich gekleidet: hellgeblumte Battistkleider, hellgelbe runde Strohhüte mit Tulpenbouquetts. Sie lenkten die Aufmerksamkeit von mir ab. Beide schienen sehr aufgeregt. Ein Herr, mit dem sie im anstoßenden Koupé gereist waren, hatte eine Theatergeschichte erzählt und ein andrer dabei ausgerufen: „Gut, daß wir keine jungen Mädchen unter uns haben, sonst kämen Sie mit Ihrer Geschichte schön an!“

„Für wie alt hält man uns denn eigentlich?“ rief die erste Hellblumige.

„Sobald man über Achtzehn ist,“ sagte die Zweite, „gehört man in Deutschland schon ins alte Register.“

Ich taxirte sie zwischen dreißig und vierzig.

Die Dresdenerinnen nahmen sehr viel Antheil und ließen sich die Theatergeschichte wiederholen. Alle Vier waren empört, daß Männer in Eisenbahnkoupé’s solche Geschichten erzählten.

„Diese Dinge mögen vorkommen,“ rief wieder die Erste, „aber man spricht doch nicht davon.“

„Man befleckt sich ja nur damit!“ sagte die Zweite.

Ich konnte nicht recht begreifen, warum sie selbst die Geschichte nacherzählten.

Dresden schien mir reizend vom Wagenfenster aus, ich freute mich schon auf den ersten Ausgang. Als der Zug in den Bahnhof einlief, nahm ich schnell Abschied von den alten Damen, denn ich erblickte Tante. Es war schon etwas dämmerig unter dem Dache des Perrons, und sie erkannte mich nicht, obwohl Mama eine Probe von meinem Reisekleid geschickt hatte. Einen Augenblick sah ich sie mir an; ich stand ganz nahe. Sie hat sich wenig verändert, seit sie uns vor drei Jahren besuchte; sie gleicht Mama, aber Mama ist jünger und hübscher. Tantens Gesicht ist schmal und gelb, ihre Nase sehr spitz. Neben ihr stand ein Herr in etwas nachlässigem Anzug; klein, etwas korpulent, mit ernsten schwarzen Augen. Man sah im Gesicht immer nur die Augen. Sollte das Onkel sein? Einen Künstler hatte ich mir anders gedacht. Aber er war es. Tante, die sich ein goldenes Lorgnon vorhielt und nach der mir entgegengesetzten Seite blickte, sprach zu ihm:

„Natürlich hat sie sich verspätet und den Zug versäumt.“

„Das arme Kind – wie mag sie sich nun ängstigen!“ rief er.

Die Stimme klang sehr zutraulich. Ich hielt’s nicht länger aus und flog auf Tante zu:

„Hier bin ich ja!“

Sie küßte mich. „Grüß’ Dich Gott, Lisa! Wie hätte ich unsere kleine Wilde von damals auch erkennen können, die uns über den Kopf gewachsen ist! Da – gieb Deinem Onkel einen Kuß!“

„Willkommen, Elisabeth!“ rief dieser und drückte meine beiden Hände kräftig in den seinen, während die ernsten Augen mich ununterbrochen fixirten: „Ein kräftiger Typus! Das schlägt nicht in Deine Familie, Therese … und was sie für Augen hat! He – was sagst Du zu diesen Augen?“

Er sprach, als ob er vergessen hätte, daß ich dabei stand. Tante stieß ihn an:

„Sieh’ lieber nach ihrem Gepäcke, damit wir nun endlich nach Hause kommen.“

Ich hatte aber doch gemerkt, daß ich Onkel gefiel. Und man fühlt sich gleich so viel wohler in seiner Haut, wenn man das weg hat.

Eine reizende kleine Erkerstube ist für mich eingerichtet. Sie ist voll von neuen Möbeln und Kuriositäten. Auf dem Kamine steht eine blaue Pendüle von altem Meißner Porcellan mit einem Schäferpaar. Die Thürklinken sind von Krystall. Ueber der Thür ist ein Panneau eingelassen: darauf sechs Pierrots mit Angelruthen an einem Bache; einer immer kleiner als der andere, jeder hat einen rothen Schirm aufgespannt, man sieht, es regnet. Onkel hat das gemalt. Ich schlafe in einem Himmelbette mit blauseidenen Gardinen, und vom Kopfkissen aus kann ich die Elbe sehen mit vielen Schiffen, die Brücken und die Brühl’sche Terrasse. Ach! es ist himmlisch hier!

Aber, mein liebes altes Fennern, denke nicht, daß ich dich darüber vergesse; nie, nie will ich dir untreu werden!

12. Mai. 
Den ersten Tag – das war gestern – sehr zeitig aufgestanden. Ich konnte es gar nicht erwarten, mich umzusehen. Meine Koffer ausgepackt und eingeräumt. Von meinem kleinen pain-brûlé Kapothütchen sind die Federn etwas zerdrückt, aber das weiße Kleid mit den reizenden wolkigen Garnituren ist sehr gut angekommen. Röth kann stolz auf ihr Einpacken sein.

Ich kämmte mein Haar, als es klopfte.

Mein Schreck!

„Wer?“ frug ich.

„Mache nur auf, Kind!“

„Tante!“

Und bereits vom Spaziergattg zurück, in einem großen runden Strohhut mit Mohnblumen. Sie trinkt Brunnen und hatte mich vom Garten aus bemerkt.

„Stehst Du immer so zeitig auf?“

„Wenn es so viel Neues zu sehen giebt!“

„Aber die Reise – Du mußt ja noch angegriffen sein!“

Ich versuchte wie gewöhnlich mein Haar in einen großen Knoten zu schlingen, war aber sehr ungeschickt, weil Tante mich durch ihre Lorgnette betrachtete.

„Ich möchte, daß Du Dein Haar höher stecktest, Lisa. Alle Welt trägt das Haar jetzt hoch.“

„Meine Frisur gefällt Onkel, er sagt, sie zeigt die Kopfform.“

„Laß Dir nur von einem Maler nicht zu viel weismachen. Onkel versteht, was zu einem Bilde gehört. Aber für das, was comme il faut ist, hat er kein Auge.“

Beim Frühstück giebt Onkel mir Recht.

„Du wirst mir das Kind schön verwöhnen!“ sagt Tante.

„Das Kind – das Kind! Ei – solche Kinder sind zum Verwöhnen da!“

Es gefällt mir nicht, daß er klein und etwas dick ist, aber ich glaube, es steckt in ihm ein Prachtonkel.

Den 14. Mai. 
Heute gingen wir nach dem Frühstücke ins Atelier. Es nimmt einen großen Raum im Hause ein, beinahe die Hälfte. Man kann vom Garten aus eintreten, aber auch vom ersten Stock auf einer entzückenden Wendeltreppe hinuntersteigen. Zu beschreiben ist es nicht, weil so viel Dinge darin stehen, von denen ich die Namen nicht weiß. Aber ich habe nie etwas so Herrliches gesehen. Wenn ich mich umblicke, so ist mir, als ob ich Musik mit den Augen hörte.

„Du bist ja ganz aufgeregt, Lisa,“ sagt Tante.

„Es gefällt mir so gut hier.“

„Weil Du nicht aufzuräumen hast und die Spinnweben in den Ecken nicht bemerkst.“

Sie schüttelte dabei an einem Gobelinvorhang und blies den Staub von kleinen geschnitzten Figuren ab.

Onkel aber zog den Vorhang von dem großen Bilde, das in der Mitte steht und von dem die alten Damen im Waggon gesprochen hatten. Es ist noch nicht fertig; ein paar Figuren sind nur angelegt.

„Das ist die Hochzeit zu Kana im Augenblick, wo das Wunder geschieht“ – er beobachtete mich dabei, als ob ihm darauf ankäme, daß ich es schön fände, ich – Lisa! „Fällt Dir etwas auf?“ fragte er.

Der Bräutigam fiel mir auf. Ich fand ihn schöner als Dimitri, aber er erinnerte mich an diesen. Dimitri legt den Arm gerade so zärtlich um Natti’s Schulter. (Wenn sie’s ihm erlaubt! heißt das.)

„Nun – so sprich doch!“

Ich hätte gern gewußt, ob dieser Bräutigam wirklich existirte. Aber das wollte ich doch nicht fragen.

„Malst Du nach wirkkichen Menschen?“ sagte ich endlich.

„Und das ist Alles, was ihr bei diesem Bilde einfällt!“ Die Stimme klang fast traurig.

Ich fühlte, daß ich etwas Dummes gesagt hatte – er schien enttäuscht zu sein. Verlegen blickte ich zu Boden …

[654] Da schoß er plötzlich wie ein Raubvogel auf mich zu, faßte meinen Kopf mit beiden Händen und schrie:

„Rühre Dich jetzt nicht, Elisabeth – hörst Du? Das ist endlich die Stellung, nach der ich so lange gesucht! … so – die Augen dorthin“ – er schob mit dem Fuß einen Pinsel nach der Stelle – „kannst Du still halten?“

„Ja!“

Ich zitterte vor Schreck und wußte gar nicht recht, was er eigentlich von mir wollte.

„Still also! – Ich hole nur meine Palette …“

Da rief mich Tante, die hinter einer spanischen Wand wirthschaftete und nichts gehört hatte. Unwillkürlich wandte ich mich um.

„So – da ist die ganze Stellung wieder hin!“ schrie Onkel und stampfte mit dem Fuße auf. „Es ist zum Tollwerden mit Euch Frauenzimmern! Da ist auch nicht Eine, die fünf Minuten ruhig auf ihren Untergestellen bleiben kann! Himmeldonnerwetter, Therese – was hast Du mir da wieder angerichtet! Endlich hat man die Bewegung – paff, ist sie wieder hin!“

Das Letzte galt Tante, die hinter ihrer spanischen Wand zum Vorschein kam. Er schleuderte dabei die aufgesetzte Palette zur Erde, lief mit großen Schritten hin und her und rollte die Augen. Ich weinte und bewunderte Tante, die ihre Ruhe nicht verlor.

„Das findet sich ja Alles wieder, Karl!“ rief sie mit ihrer gewöhnlichen Stimme, „freilich, wenn Du wie ein bengalischer Tiger herumfährst und das arme Kind zum Fürchten bringst, die zum ersten Mal einen Maler in seinem Revier sieht, wird sie schwerlich mit Dir allein bleiben wollen. Da – das hast Du verschuldet!“

Mein Weinen hatte sich bei Tantens Worten nämlich zum Schluchzen gesteigert. Es rührte ihn nicht.

„Ruhig, Lisa!“ flüsterte Tante mir zu – „wenn er rabiat wird, malt er immer am besten.“

Dann bückte sie sich nach der Palette, die mit der Farbenseite auf einem türkischen Teppich lag.

„Liegt Dir etwas an dem Teppich, Karl?“ frag sie ganz ruhig – „so gieb mir den Spartel, damit ich ihn reinige, so lange es noch Zeit ist.“

Er hielt einen Augenblick im Laufen inne und reichte ihr das Farbenmesser, mit dem sie vorsichtig die Farbe vom Teppich abhob und auf einen Porcellanscherben setzte. Darauf entfernte sie die Flecken mit Terpentin.

„Nun wollen wir Onkel aber ungestört lassen und uns zurückziehen – hörst Du, Lisa?“

Wie mit Absicht sprach sie laut.

Er kam schnell auf mich zu.

„Das fehlte noch, daß Du sie mir jetzt entführst!“

„Wenn sie Lust hat zu bleiben – mir ist’s recht.“

Schnell trocknete ich meine Thränen, denn ich hatte große Lust, auf dem herrlichen Bilde als Braut gemalt zu werden, und ich merkte wohl, daß es ihr Kopf sei, für den er mich brauchte. Er war nur mit ein paar Kohlenstrichen angedeutet.

„Ich will mir so viel Mühe geben, Onkel!“

Er sagte nichts, warf mir aber eine weiße Draperie über, ließ einen Vorhang hinter mir herab und warf dann ein Kissen auf ein großes bretternes Gestell. Auf das Kissen mußte ich mich setzen. Ich versuchte sogleich meinen Kopf in die Stellung zu bringen, die ihm vorher gefallen hatte. Es gelang mir.

„Du bist intelligent, Elisabeth,“ rief er, „nun will ich sehen, was Du im Stillhalten leisten kannst.“

„Da soll er mich kennen lernen!“ dachte ich.

Er hatte nach einer zweiten Palette gegriffen, die „aufgesetzt“ an der Wand hing, und begann zu malen. Ich bewegte mich nicht. Ein paar Thränen, die einmal im Rollen waren, trank ich mit den Lippen auf, um ihn nur nicht zu stören. Er sprach nicht, manchmal hörte ich ihn tief athmen, sonst war Alles mäuschenstill.

Wie lange ich gesessen, weiß ich nicht. Erst schien mir’s leicht, dann wurde mir der Hals sehr steif, alle Glieder thaten mir weh, aber ich wagte nicht, mich zu rühren.

„Bravo – bravo!“ rief Onkel ein paar Mal. Das war immer wie Balsam – ich biß da die Zähne zusammen und blieb unbeweglich.

„So – jetzt komm einmal her, Lisa!“ rief er endlich.

Ich wollte aufstehen, aber es ging nicht. Da merkte er, wie steif ich war, sprang auf, streichelte mich und rieb mir Arme und Nacken ganz zärtlich.

„Da sieh einmal, was ich angerichtet habe! Wie man sich vergessen kann! Warum hast Du Dich nicht beklagt, mein armes Kind?“

Ich war selig. Für einen gewöhnlichen Menschen einen steifen Hals zu bekommen – was ist das? Aber für einen großen Künstler zu leiden, der in seiner Leidenschaft gleich Jemand umbringen könnte – das ist wohl etwas Anderes!

Er führte mich vor das Bild, wieder den Eindruck beobachtend, den seine Malerei auf mich machen würde.

„Onkel – so schön soll ich sein?“

„Wir sind nur Stümper neben der Natur!“ sagte er ernst. Eine Minute später aber rief er in einem ganz munteren Tone:

„Was der Kanaer sich für einen hübschen Schatz ausgesucht hat – he, Elisabeth?“

Er gefällt mir noch viel besser als sie.“

„Ei, sieh einmal an! Gut – das muß ich ihm wiedersagen.“

„Um Gotteswillen, Onkel! Ist das ein wirklicher Mensch?“

„Sogar ein wirklicher Mann!“

„Wer ist es?“

„Herr Heinrich …“ Und wie in Gedanken fing er leise zu singen an: „Herr Heinrich saß am Vogelherd“, während er mit seinem großen breiten Daumen in der frischen Farbe herumtupfte.

„So, Lisa“ – sagte er nach einer Weile – „wir können mit unserem Tagewerke heute zufrieden sein! Uebermorgen nehme ich Dich noch einmal vor. Wenn Du den bengalischen Tiger nicht fürchtest – heißt das!“

„Ach, Onkel!“ Da mußte ich ihn gleich umarmen.

„Nun geh’ aber und sag’ Deiner Tante, sie soll zusehen, daß wir bald etwas Ordentliches zu essen bekommen – hörst Du?“

Während ich die weiße Draperie zusammenlegte, begann er wieder mit auf dem Rücken gefalteten Händen auf und ab zu gehen. Diesmal ruhiger. Er pfiff dabei. Ich hatte noch nie so schön pfeifen hören.

„Er pfeift!“ sagte Tante, als ich heraus kam, „da hat er gut gemalt. Du siehst, es war nicht gefährlich.“

„Ah – Tante, wie hab’ ich mich vor ihm gefürchtet!“

„Wie ein Kind vor dem Donner! Merk’ Dir das: die Spektakelmacher, das sind die schlimmsten Männer nicht, man muß sie nur zu behandeln wissen!“

[669]
Den 15.  

Wer ist Herr Heinrich?“ fragte ich Tante heut’ Morgen.

„Ich weiß nicht, von wem Du sprichst.“

„Ich meine Herrn Heinrich von Onkels Bild …“

„Ach – den Sterngucker. Da mußt Du Onkel fragen, der hält auf ihn.“

Tante also nicht? Ich schwieg, obgleich ich gern etwas über Herrn Heinrich erfahren hätte.

Es ist ein langer Brief von Cäcilie aus Neapel gekommen, und Tante ist in sehr guter Laune. Sie las ihn mir vor: „Daraus kannst Du sehen, daß der gebildete Mensch mit Nutzen reist.“

Ein Stich! Sie findet meine Erziehung etwas vernachlässigt. Ach – ich weiß, Cäcilie ist sehr gebildet! Sie kennt alle Baustile und das ist so bequem, wenn man in alten Schlössern herumspaziert; sie ist auf Thürme geklettert und weiß, wie viele Stufen jeder hoch ist. Und sie schildert ihrem Papa auch die „Meisterwerke aller Malerschulen“, die sie in den Museen betrachtete. Wie viel Zeit muß sie übrig haben! Wenn Natti und Dimitri einmal zusammen reisen, da wird’s nicht so lange Briefe geben …

„Präge Dir das ein, mein Kind,“ sagt Tante am Schluß, „damit Du auch einmal so gut beschreiben lernst.“

„Wenn ich mich verheirathe, werde ich keine Hochzeitsreise machen.“

„Warum nicht?“

„Weil ich mich schon schrecklich darauf freue, mir eine Wohnung einzurichten, wie Natti, und weil ich es viel hübscher finde, hinein zu ziehen, wenn sie fertig ist, statt auszureißen, als hätte man seine Ausstattung gestohlen. Warum macht man eigentlich Hochzeitsreisen?“

„Weil – weil man sich auf die wichtigen Pflichten vorzubereiten hat, die man bei Gründung eines Hausstandes übernimmt.“

„Und dazu muß man auf Thürme klettern und alte Bilder ansehen, wie Cäcilie?“

Aber Tante, die immer ärgerlich ist, wenn man nicht von Allem entzückt ist, was Cäcilie thut, ging nach der Küche, als habe sie mich nicht gehört.


Den 16. Vormittags. 

„Warum nennt Tante Herrn Heinrich Sterngucker?“ fragte ich Onkel, während er seine Palette aufsetzte.

„Sterngucker? – ach so! Er ist Astronom, wenn Dir das lieber ist.“

„Mir ist das doch ganz gleichgültig, ich wollte nur wissen …“

„So – jetzt wollen wir sehen, ob Du Deine Sache so gut machst wie vorgestern …“ er war schon wieder beim Malen, und da war’s mit der Unterhaltung vorbei. Zwei Stunden gesessen. Sehr steifen Hals – Ameisen in den Füßen. Dann mit Göschen’s Kindern – sie wohnen nebenan – Dritten abschlagen und Wilder Mann im Garten gespielt. Alles wieder in Ordnung. Großen Appetit jetzt; wollte, wir äßen bald. Ein Wagen fährt vor – es klingelt. O weh, gewiß Besuch! Und heut’ giebt’s Citronenauflauf, der zusammenfällt, wenn er steht. Da wird Fanni schön schimpfen …

[670] 10 Uhr Abends. 
Besuch, wie ich dachte. Tante ließ mich herunterrufen, Frau von Gebsattel und ihr Stiefsohn, ein Officier. Onkel nennt sie Coeurdame, ich weiß nicht weßhalb.

Ich merkte, Tante war mit meinem Kompliment nicht zufrieden. Der Officier sprang auf, als ich eintrat. Tante sagte: „Keine Umstände, Herr von Gebsattel, meine Nichte ist noch nicht kourfähig.“

Aber er blieb stehen, bis ich mich dann auch gesetzt hatte. Es gefiel mir von ihm.

Frau von Gebsattel spricht leise und stößt beim Sprechen etwas an. Sie erinnert mich an eine Puppe, die Tante Katia uns einmal von Paris mitbrachte und die Mama in den Glasschrank setzte, weil sie zu schön zum Spielen sei. Ihre Kleider zeichnet ein Künstler apart für sie. Sie hat gekräuseltes, sehr feines blondes Haar und helle Augenbrauen, hellblaue Augen und einen Hals dünn und lang wie ein Licht.

„Ich hoffe“ – sagte sie zu mir – „daß Sie Ihre Tante nächsten Sonnabend zu unserm café dansant begleiten werden?“

„Lisa ist noch nicht ausgeführt und ihre Garderobe nicht ballmäßig.“

„Du vergißt wohl mein weißes Kleid, Tante,“ rief ich schnell (ich hatte solche Lust, auf eine Tanzgesellschaft mit wirklichen Herren mitgenommen zu werden!). „Du hast gesagt: darin könnte ich einen Ball mitmachen!“

Die Coeurdame lächelte: „Sie können es ja gar nicht übers Herz bringen, Ihre Nichte zu Hause zu lassen, meine liebe Frau Professor. Ich erwarte sie ganz bestimmt.“

„Wollen sehen, was Onkel dazu meint.“

Ich wäre beinahe gesprungen! Und in Fennern, wo es immer hieß: „das Kind!“

„Gnädig’ Fräulein, darf ich um den ersten Walzer bitten? Ich wäre unglücklich, wenn ich nicht … auf Ehre!“ sagte der Lieutenant.

„Mit dem größten Vergnügen!“ rief ich.

Er war ein wenig komisch, sobald er sich nach mir wandte, schob er schnell ein viereckiges kleines Glas ins Auge. Er fragte immer fort:

„Haben gnädig’ Fräulein eine gute Ueberfahrt gehabt?“

„Ja.“

„Haben gnädig’ Fräulein schon unser Theater besucht?“

„Nein.“

„Gefallen sich gnädig’ Fräulein in Dresden?“

„Ja.“

„Gnädig’ Fräulein waren doch sicher gestern in der Blumenausstellung?“

„Nein.“

Tante hatte wieder Alles gehört. Ich weiß nicht, wie sie es anstellt, daß sie immer sieht und hört, was ich thue, auch wenn sie mit etwas Anderem beschäftigt scheint.

„Du bist noch ein rechter Stockfisch, Elisabeth,“ sagte sie; „der arme junge Mann hat sich so viel Mühe gegeben, Dich zu unterhalten, aber es war ja nichts aus Dir herauszubringen!“

Sonntag, den 16. 
Briefe aus Fennern. Natti schreibt: „Sultan hat melancholische Augen und hat die ersten Tage, nachdem Du abgereist warst, nicht ordentlich gefressen. Er sucht Dich im ganzen Hause, kratzt mit der Pfote an Deiner Thür und heult.“ …

Armer Sultan! Aber Dresden ist sehr neu, und ich werde einen wirklichen Ball mitmachen – hurrah! Da mußt Du Dich schon ein Bischen noch gedulden, ehe ich zurückkomme!

Mit Tante um elf Uhr in der katholischen Musikmesse gewesen. Man geht hier Sonntags in die große katholische Kirche, die neben dem Schloß und Theater steht, wie man Sonnabends in die große protestantische Kreuzkirche geht, nur um Musik zu hören. Ich mußte an das jüngste Gericht denken, wie Herr Pastor Stachelmann uns beschrieben hat, daß es sein wird. Tante glaubt freilich, es würde anders dabei zugehen. Onkel erst – ich schreibe gar nicht her, was der gesagt hat! Und er hat es noch dazu schon gemalt! Die Frauen dürfen in der katholischen Kirche nämlich nicht neben ihren Männern stehn. Sie müssen auf die rechte, die Männer auf die linke Seite treten. Nun – ist das nicht gerade wie die Schafe und Böcke oder auch wie Gute und Böde?

Den 17. 
Ach – ich bin so unglücklich! Ich wollte, ich wäre wieder in Fennern und säße allein auf meiner Stube oder ginge mit Sultan spazieren. Ich will nicht mehr unter Menschen gehen – nie mehr, wenn ich es ihnen doch nicht recht mache!

Gestern und heute mit Tante Besuche gemacht. Sie war mit mir unzufrieden, eben hat sie mir eine Strafpredigt gehalten:

„Ich bitte Dich, Lisa – denke doch immer erst nach, ehe Du etwas sagst! Von einem Mädchen, das beinahe siebzehn Jahre alt ist und dabei so groß wie Du (also wenn ich klein wäre, da dürfte ich schon eher einfältig sein ?), erwarten die Leute doch schon eine gewisse Bildung! Du aber – wie neulich schon mit Herrn von Gebsattel – verstehst nicht, auf ein einziges Gespräch einzugehen. Ich weiß, Du bist nicht dumm, aber die Leute müssen Dich am Ende dafür halten, wenn Du nie eine Antwort in Bereitschaft hast.“

„Aber, Tante,“ sprach ich, „wie kann der Mensch denn eine Antwort bereit halten, wenn er nicht weiß, was man ihn fragen wird?“

„Siehst Du, Kind, es giebt einen Fonds allgemeiner Bildung, den mußt Du Dir aneignen; denn mit dessen Hilfe allein wirst Du dann über jedes beliebige Thema etwas zu sagen haben. Jetzt höre ich Dich immer nur: ja, oder: nein, höchstens einmal: ich weiß nicht, antworten.“

O mein Gott, wie ist das Leben doch so schwer! … Warum ich nur immer etwas zu sagen, vielmehr zu schreiben weiß, wenn ich ganz allein mit meiner Feder bin? Es ist gut, daß sie keinen Lärm macht, wie Natti’s Singen, oder schlecht riecht, wie Juliens Farben, denn seit ich mit Tante die schrecklichen Besuche gemacht habe, ist sie gar nicht gut auf mich zu sprechen und nähme mir vielleicht die Feder weg:

„Du kannst Deine Zeit besser anwenden, Kopfarbeit taugt nicht für Dich, dazu muß man Cäciliens Anlage haben,“ würde sie sagen.

Den 18. früh. 
Eben als ich Sophie beim Plätten helfen wollte, meinte Tante:

„Bis zum café dansant darfst Du Dich noch ausruhen, dann sollst Du mir aber in der Wirthschaft helfen. Die Königin von England hat bei ihren Töchtern auch darauf gehalten, daß sie in häuslichen Arbeiten unterrichtet wurden, und Cäcilie versteht sich ebenfalls darauf.“

Das ist mir ganz recht. Ich werde Onkel Klümpen machen und Palten mit Ofengrütze; er liebt so herzhafte Gerichte. Da wird Tante ja sehen, daß ich auch etwas kann!

Nachts halb zwölf Uhr. 
Was für eine herrliche Nacht! Wie duftet’s so süß nach dem blühenden Flieder – und das Rauschen der Elbe – klingt’s nicht wie ein Lied? Ich bin nicht müde, ich mag noch nicht zu Bett gehen …

Wir waren in einem großen Wohlthätigkeitskoncert im Theater, Onkel, Tante und ich. Onkel hatte keine Lust, mitzugehen. Wenn er fleißig gemalt hat, sitzt er gern in seinem bequemen Malkittel auf dem Balkon und raucht seine Pfeife. Da denkt er sich wahrscheinlich seine schönen Bilder aus. Tante aber findet, es macht sich besser, wenn wir mit einem Herrn in die Loge treten, und da sagte sie:

„Karl – Du hast Dich in den Tagen überangestrengt; es muß Dir ja Bedürfniß sein, Dich bei der Musik zu erholen.“

Er zuckt die Achseln und schweigt.

„Der Künstler“ – fährt Tante fort – „muß sich bei solchen Gelegenheiten dem Publikum auch zeigen, es vergißt ihn sonst.“

„Wenn der Künstler Nichts hat, als seinen schwarzen Anzug, um sich dem Publikum ins Gedächtniß zu rufen, geschieht’s ihm ganz recht.“

Ich dachte: warum sagt Tante lieber nicht gleich: „Ich gehe nicht gern ohne Dich ins Theater,“ denn das ist doch der Grund.

„Du wirst immer menschenscheuer, Karl – nächstens wirst Du wieder Deine Leberschmerzen haben, wenn Du nur zu Hause sitzst und grübelst!“

Er thut, als höre er nichts.

Da gehe ich auf ihn zu und rüttle ihn ein Bischen an der Schulter: „Weil wir kein Plaisir ohne Dich haben, sollst Du mit, alter Onkel, hörst Du das?“

[671] „Schmeichelkatze!“

„Tante – er kommt! Er kann ja gar nicht widerstehen!“

„Meinetwegen!“ sagt er da.

Meine Frisur kostete sehr viel Zeit. Tante hatte „hoch!“ befohlen.

„Alle Welt wird im Theater sein – ich will nicht, daß Du auffällst!“

Als ich mit Haarmachen fertig war, brachte sie noch eine hellblaue Schleife mit ein paar Rosen. Das wurde noch auf das Nest genagelt, da war’s thurmhoch. Nachdem sie mich dann eine Weile durch die Lorgnette beguckt hatte, rief sie aber auch.

„Ich finde Dich heute ganz passabel, Du mußt doch zugeben, daß es Dich kleidet?“

Ihr „passabel“ meinte: sehr hübsch. Man hat ein gewisses Gefühl für so etwas.

Als wir Beide angekleidet in den Salon traten, saß Onkel richtig noch im Schlafrock am Fenster und trommelte auf die Scheiben. Er stieß einen Seufzer aus, verschwand aber doch schnell in sein Schlafzimmer, um sich anzuziehen.

Der Wagen hatte schon eine gute Weile gewartet, als wir hinunter kamen. Zur Zugabe war das Handpferd lahm. Natürlich erschienen wir sehr spät im Theater, man hatte bereits angefangen. Wir hörten in der Garderobe die Schlußnoten einer Sopranarie. Tante warf Onkel einen vorwurfsvollen Blick zu; ich war nicht traurig. So hohe Sopranstimmen liebe ich nicht, sie sind wie zu helles Licht. Während des Beifallklatschens traten wir in die Loge, da konnten wir ungestört uns die Stühle zurecht rücken.

Ein Chorgesang folgte, ich sah mich dabei um: Alles feierlich, hochfrisirt, ernst und klassisch. Auf einmal begegnete ich in der dritten Loge von uns einem Paar Augen, die mir bekannt vorkamen. Sie gehören einem jungen brünetten Manne, der sehr aufmerksam zuhörte. Er steht hinter dem Stuhl einer netten alten Dame in mausgrauer Seide.

Wo ich nur diesen Augen schon begegnet bin? denke ich und versetze mich zurück nach Fennern, bringe es aber nicht heraus. Plötzlich wird mir’s klar.

„Onkel!“ rufe ich, „da ist ja …“

„Pst! Lisa – was fällt Die ein!“ flüstert Tante.

„Dein Bräutigam von Kana!“ sage ich so leise als möglich zu Onkel, der mir sein Ohr hinhält.

„Wo?“

„Dort –“

„Wahrhaftig! Das freut mich, da wirst Du ihn kennen lernen.“

„Nein – lieber nicht!“

Seit den Besuchen mit Tante fürchte ich mich vor neuen Bekanntschaften.

Er hat uns auch gesehen und den Operngucker nach unserer Loge gerichtet. Gewiß hat er bemerkt, daß ich ihn so lange angestarrt habe! Mein Herz klopft vor Scham. Das schwarzseidene Kleid ist etwas eng, da kann ich fühlen, wie es anschlägt.

Nach der ersten Abtheilung geht die Logenthür auf und der Bräutigam von Kana tritt ein.

Onkel nennt ihn Heinz und Du. Er scheint kein Liebling von Tante, denn sie sieht etwas verstimmt aus, als er auf Onkels Nöthigen den vierten Platz in unserer Loge einnimmt.

„Seit wann bist Du hier?“ fragt Onkel.

„Seit heute Morgen. Die Gebsattel’s ließen mir keine Ruhe; ich muß die Gläser, die ich ihnen besorgt, in dem kleinen Observatorium, das sie sich gebaut, selbst aufstellen.“

„Die Coeurdame will wohl mit Dir Beobachtungen machen?“

„Und Dein Bild?“

„Ja – denke, daß meine Nichte Dich nach dem Bilde erkannt hat; ich habe zu treu kopirt.“

„Und ich trage nicht einmal den Machlah!“

„Das ist schade,“ rufe ich, „denn er steht Ihnen besser, als der steife Kragen mit dem Schlips.“

Tante stößt mich mit dem Fuße an; wieder etwas Ungeschicktes gesagt!

„Und ich hätte Sie erkennen sollen, gnädiges Fräulein, nach einer Beschreibung, die zwei Kousinen meiner Mutter mir heute früh von Ihnen machten. Sie sind mit Ihnen gereist.“

Klapp – klapp! macht der Taktstock des Kapellmeisters. Herr Heinrich lehnt sich im Stuhl zurück, die Musik hat wieder begonnen.

Also meine beiden alten Damen sind mit ihm verwandt! Was mögen sie von mir erzählt haben, nichts Gutes, ich wette. Ich war recht abstoßend bei ihren Fragen … ach, man sockte gegen Fremde stets liebenswürdig sein – die Sonne bringt Alles an den Tag. Aber wer ist auch ohne Fehler! Wenn er Onkel besucht, wird er das Bild sehen und mich als Braut … Entsetzlich, wenn man so schnell roth wird wie ich … er sieht mich an, es muß ihm auffallen.

Ich will auf die Musik Acht geben … Gudehus singt. Gudehus – was für ein komischer Name! Es ist sonderbar, daß man bei einigen Menschen merkt, wenn sie uns ansehen, bei andern wieder nicht … Da ist die Arie schon wieder zu Ende. Alles klatscht. Ich klatsche mit, um meine Unaufmerksamkeit zu verbergen.

„Das war ein Genuß!“ sagte er, „Sie werden in Riga wohl kanm etwas Aehnliches hören?“

„Unser neuer Koncertsaal ist auch recht hübsch; sehr akustisch. Christine Nilsson hat vorigen Winter bei uns gesungen …“

Ein Chor erlöst mich. War es nicht das Dümmste, was ich antworten konnte? Wie kann ihn unser Koncertsaal interessiren? Und diesmal hatte ich nachgedacht; ich hätte so gern etwas Kluges gesagt – aber wenn mir nun nichts einfällt? Jetzt wird er sich über mich lustig machen, was ist das für eine einfältige Gans! wird er denken.

Vorsichtig drehe ich mich ein wenig nach seiner Seite, er nickt mir zu wie Jemand, der sein Entzücken mittheilen muß, mir aber ist’s auf einmal, wie ich ihn so andächtig sehe, als ob inwendig in mir etwas aufgeschlossen wurde – als ob ich jetzt erst zu hören anfinge. Sie singen einen Chor von Brahms. „Der Mensch verwelkt wie das Gras“. – Alle Verlegenheit, alle Qual wegen meiner ungeschickten Antworten ist plötzlich von mir genommen – o, diese himmlischen Töne! Sie umgeben mich wie eine unsichtbare Liebkosung … ich wollte, ich wäre in der Kirche und dürfte die Hände falten!

Schade, daß Alles so schnell vorüberging!

Beim Abschied sagte er, er würde uns besuchen. Aber ich werde ihn gewiß nicht wieder sehen. Ich merkte gleich, daß Tante ihn nicht gern hat, und da wird Onkel ihn für sich allein im Atelier behalten. Beim Nachhausefahren haben sie viel von ihm gesprochen. Sein Vater war Bildhauer und Onkels liebster Freund. Er starb früh und hinterließ nur eine halbfertige Marmorgruppe, kein Geld. Herr Heinrich (den andern Namen weiß ich noch gar nicht) ist Privatdocent in Leipzig. Onkel sagt: das ist ein genialer Kopf, und da oben – er meint die Astronomie – da weiß er besser Bescheid als ich in Dresden. Ein Mustersohn ist er auch, geizig für sich, um ihr Bequemlichkeiten zu verschaffen – die Mutter immer Nummer Eins. Und plagen muß er sich – und wird nicht einmal dafür bezahlt! Ist das nicht eine Ungerechtigkeit, Einem, der so viel weiß und Tag und Nacht arbeitet, nicht einmal Gehalt zu geben? Onkel sagt: es giebt in Deutschland sehr wenig Stellen für Astronomen. Ei – warum richtet man da keine neuen ein? Es ist doch so wichtig, daß man Alles über die Himmelskörper erfährt.

„Wer kein Geld hat,“ spricht Tante, „sollte sich die Passion für die Sterne vergehen lassen. Wäre er bei seinem Onkel, dem reichen Maschinenbauer, eingetreten, so hätte er jetzt schon sein hübsches Einkommen.“

„Wolltest Du vielleicht auch, ich hätte Petroleum und Heringe verkauft, wie mein Onkel wünschte, statt zu hungern und der Kunst treu zu bleiben?“

Ich drückte ihm die Hand.

„O – lieber, guter Onkel!“ rief ich, „wer könnte nur daran denken! Ich finde es herrlich, wenn Jemand ein Opfer bringt für seinen Beruf. Dein Land ist jetzt auch stolz auf Dich!“

„Da hör’ Einer die kleine Hexe, wie sie schmeicheln kann!“ spottet Tante.

„Deutschland wird einmal noch ganz andern Grund haben, auf Heinrich stolz zu sein als auf mich!“ ruft Onkel.

Ist es nicht, als ob ich seinem Bilde gleich angesehen hätte, was er für ein herrlicher Mensch ist? Mama sagt immer: ein Sohn, der seine Mutter ehrt, der hält seine Frau auch einmal werth … Vielleicht hat er in Leipzig schon eine Braut zum Werthhalten …

Schon ein Uhr, und ich bin immer noch nicht müde. Eben habe ich zum Fenster hinausgesehen. Die Nacht ist klar und es [672] wimmelt von Sternen. Sie scheinen am Himmel herumgestreut, wie Hanfkörner, die Jemand auswirft, um Vögel zu füttern. Und doch soll sich Alles in bestimmter Ordnung bewegen. Wie muß Jemand, der da oben bekannt ist, die Erde klein vorkommen – vielleicht sind ihm die Menschen alle gleichgültig … Nein, Herr Heinrich liebt ja seine Mutter, und er hört gern Musik – da muß er ja ein Herz wie andere Menschen haben.

Den 19. 
Er hat uns besucht – uns!

Beim Frühstück sagt Tante: „Fanni und Sophie müssen heut früh Wäsche rollen, da giebt’s nur Gewärmtes.“

Onkel sieht mich an: „Wie wär’s, wenn Du mir Deine ‚Klümpen‘ machtest?“

„Mit Wonne!“

Tante schüttelt den Kopf: „Ich dächte, Du probirtest Dein Gericht, wenn wir einen guten Braten daneben haben.“

„Kränke sie doch nicht – Du siehst, es geht ihr nah!“

(Er nimmt nämlich immer meine Partei.)

„Meinetwegen,“ spricht sie.

Als es Zeit ist, bind’ ich meine weiße Küchenschürze vor und Tante streift mir noch die Aermel bis über die Ellenbogen auf. Dann gehen wir in die Küche, sie will mir helfen, aber ich schiebe ihr einen Stuhl zurecht.

„So – jetzt thust Du, als wärest Du die Königin von England: die wird auch nur zugesehen haben, wenn ihre Prinzessinnen kochten. Ich mache Alles allein – auch die Sauce.“

Wie ich nun meinen Teig fertig in der Schüssel habe, geht die Thür auf und Onkel guckt herein.

„Bravo!“ schreit er, „komm nur nach, Heinz, bei Köchinnen braucht man sich nicht zu melden.“

Da stand er in der Thür. Ich will fortlaufen, um mir nur schnell das Mehl von den Händen zu waschen. Onkel aber hält mich fest: „Solche Hände, die haben wir am liebsten, was meinst Du, Heinz? Wie gefällt Dir meine neue Köchin?“

„Nun weiß ich, warum Du morgen nicht bei uns essen willst. Die giebst Du wohl nicht wieder her – sonst …“

„Gelobt wird nicht, bis wir ihre Gerichte gekostet haben – ich behalte Dich zu Tisch.“

„Am liebsten blieb’ ich –“ (konnte er etwas Netteres sagen?) „aber meine gute Mama, die mich erwartet …“

Ich sehe Tante an; das Gesicht kenn’ ich. Sie ist nicht zufrieden, wenn man ihr unvorhergesehen einen Gast an den Tisch bringt: „Du weißt, daß wir heut nur Gewärmtes haben, Karl!“

„Was,“ ruft Onkel ärgerlich, daß sie nicht freundschaftlicher nöthigt, „die Klümpen werden doch nicht mißrathen sein?“

„Ich weiß nicht, Onkel, wenn man den Ofen nicht kennt, ist kein Verlaß.“ Aber innerlich war ich meiner Sache sicher.

„So lassen wir Deine Mutter holen – ich schicke Hans.“

„Du kennst sie ja als umständlich, und es ist schon spät. Dazu kommen alle Bergroth’s zum Kaffee – ‚um mich zu genießen‘ heißt’s …“

Bergroth, das ist sein Onkel, der Maschinenfabrikant.

„Da darfst Du nicht nöthigen, Karl,“ sagt Tante schnell, und dann wendet sie sich an Herrn Heinrich: „Ein Vogel hat mir gesungen, daß Ihre Kousine Bertha die Zeit immer recht lang findet, ehe Sie von Leipzig einmal herüberkommen.“

Es gab mir einen Stich. Ich hatte solche Lust, daß ihm meine Klümpen schmeckten, und da war eine Kousine Bertha, wegen der er fort mußte.

„Solche Vögel singen meist recht falsch,“ antwortet er.

„Und seine Verwandten kann er dann noch lange genug genießen – ich lasse Deine Mama benachrichtigen, Heinz – nicht?“

Er sieht mich freundlich an: „Ich glaube wirklich, ich kann Deiner Köchin nicht widerstehen,“ ruft er.

Wer war froher als Onkel und ich! Als Alles in der Küche fertig, lief ich noch schnell in den Garten und schnitt eine Hand voll Rosen, sie in die Mitte vom Tisch zu stellen. Dann band ich meine beste Spitzengarnitur um und steckte mir eine blaue Schleife ins Haar. Tante traf mich auf der Treppe.

„Was fällt Dir ein – für wen willst Du Dich putzen?“

„Wir haben doch einen Gast zu Tisch.“

„Dummes Zeug – das ist kein Gast, für den man Umstände macht.“

Da war ich sehr beschämt ging aber noch einmal zurück und legte Alles wieder ab.

Onkel und Herr Heinrich haben die Klümpen fast alle allein aufgegessen. Sie waren auch locker, denn ich hatte sie vorher mit einem Speiler probirt, an dem nichts hängen blieb. Als Onkel mich lobte, fing Tante gleich wieder von der Kousine Bertha an, und wie wirthschaftlich die wäre, obgleich ein so reiches Mädchen es gar nicht nöthig habe.

„Merkst Du ’was, Heinz?“ spottete Onkel, „Frauen können es einmal nicht lassen, einem Junggesellen sein Hauskreuz anzuheften.“

Mich interessirte, was er wohl dazu sagen würde.

Er lachte ein wenig. „Wenn man schon eins tragen soll,“ meinte er, „so wählt man’s wenigstens nach eigenem Geschmack. Jetzt hat’s noch gute Weile damit.“

„Er denkt noch nicht an Euch – da hörst Du’s! Wie, Heinz – wir haben andere Wünsche – he?“

„Apropos, Wünsche,“ spricht er, als wäre er froh, auf ein anderes Gespräch zu kommen – „was hätte ich nicht drum gegeben, den letzten Durchgang des Mars durch die Sonne von einem der Trabanten des Jupiter aus betrachten zu können: Tausend, hatten die Astronomen da oben am 13. April ein interessantes Schauspiel!“

Und da waren auf einmal die Sterne an der Reihe. Herr Heinrich wurde dabei sehr gesprächig. Er zeichnete uns auch auf, welchen Weg der Mars am 13. April genommen. Aber warum die Astronomen auf dem andern Stern so zu beneiden waren, das habe ich nicht verstanden. Und dann sprach er nur immer von Millionen Meilen, von Millionen Jahren, daß mir nur so schwindelte.

„Was quält Dich denn, Lisa,“ frug Onkel, „Du siehst so ganz bestürzt aus?“

„Ich denke an den Jüngsten Tag. Wenn Alles so weit aus einander liegt, wie sollen die Todten sich alle auf einer Stelle versammeln können?“

„Kind,“ ruft Tante ärgerlich, „Du mengst doch Alles durch einander – das hat doch mit der Astronomie nichts zu thun, dafür hat man den Glauben.“

Nachts aber hat mich das doch sehr gequält. Wenn man sich die Millionen Meilen und Millionen Jahre erst anfängt vorzustellen, kann man nicht ruhig einschlafen. Mein Trost ist nur Herr Heinrich. Er, der das Alles so genau weiß, scheint ganz ruhig und vergnügt.

[689]
Den 20.  

Ja – er kommt auf den Ball! Er hat es heut früh zu Onkel gesagt, der war ganz erstaunt. Wir haben nämlich eine Stunde zusammen im Atelier gesessen. Onkel wollte unsere Gruppe einmal vollständig haben. Es war kindisch, aber ich freute mich darauf. Ich hatte vor, ihn dabei zu fragen, ob die Kousine Bertha auf dem Ball sein würde. Aber wie wir so still neben einander saßen, er eine Hand auf meiner Schulter, war’s, als ob alle meine Gedanken auf einmal fortgeflogen wären. Ich dachte weder an ihn noch an mich; es war, als ob ich träumte. Ganz leise flatterte seine weiße Draperie um meine Schulter, denn es war ein heißer Tag und Onkel hatte die Zuglöcher oben geöffnet. Ein paarmal hörte ich Herrn Heinrich leise athmen. Sonst war Alles still. Onkel, wenn er eifrig malt, spricht kein Wort.

„Sind Sie denn noch nicht müde?“ frug mich einmal Herr Heinrich.

„Nein – gar nicht; ich könnte noch eine Stunde so still sitzen.“ Wie ich dabei aufblickte, war mir’s, als ob er mir durch die Augen in die Seele sehen könnte, und ich mußte sie sogleich niederschlagen.


Später. 

Ein junger Engländer, Mr. Bluebottle aus Manchester, besuchte uns heut Nachmittag. Er fuhr in einer Equipage vor und sah aus, als wäre er eben frisch aus der Wäsche gekommen und geplättet worden. Seine Manschettenknöpfe waren groß wie Untertassen, und er roch wie ein Apotheker.

„Das ist ein feiner junger Mann von sehr einnehmendem Wesen,“ sagte Tante.

„Ich wußte, daß er Dir gefallen würde; wenn Einer zweispännig vorfährt, gefällt er Dir immer.“

„Dummes Kind – als ob ich auf Reichthum etwas gäbe.“

Aber ich weiß, daß ich Recht habe; wenn Herr Heinrich reich wäre, da würde er ihr auch gefallen. So findet sie, daß er ein rauhes Wesen habe und einen Gelehrtendünkel, weil er aus Büchern allerlei gelernt.

Mr. Bluebottle, der hat doch sicher nichts Ordentliches gelernt; wie kann Einer mit solchen Manschettenknöpfen an etwas Ernstes denken!


Den 21. 

Sehr heißer Tag. Früh zwei Stunden in der Bildergalerie. Wenn wir in einen Saal traten, fragte Onkel immer:

„Nun – was gefällt Dir hier am besten, Elisabeth?“ und Tante sagte:

„Sich einmal, Elisabeth, da ist ein Bild, das mußt Du doch schön finden!“

Ueber die Brühl’sche Terrasse zurückgegangen. Wie wir ans Belvedere kommen, spricht Onkel: „Was meinst Du zu einer Schale Eis, Lisa?“

Da braucht man mich nicht lange zu nöthigen.

[690] Als ich die erste Portion gegessen habe, fragt er wieder:

„Lisa – eine zweite, doppelt hält besser.“

„Wie Du denkst, Onkel.“

Und nach der zweiten: „Aller guten Dinge sind drei – noch eine, mir zu Liebe!“

„Wie Du denkst, Onkel.“ (Melange ist nämlich meine Passion!)

Aber Tante steht schnell auf.

„Willst Du sie mit drei Portionen Eis in die ‚Nachrichten‘ bringen, Karl? Ein paar alte Damen am nächsten Tisch verwenden kein Auge von ihr. Wer für ein Kirchenbild gemalt wird, Lisa, sollte etwas Rücksicht nehmen!“

(Sie hält mir das Kirchenbild so oft vor – ich stehe doch für keine Heilige?)

Ich sehe gar nicht auf, als wir am nächsten Tisch vorübergehen. Da ruft plötzlich eine Stimme: „Fräulein – Fräulein!“

Meine beiden alten Damen von der Reise! Ich hätte unter die Erde sinken können! Nun werden sie ihm erzählen, daß ich naschhaft bin! Aber sie ließen sich nichts merken und machten Onkel sehr viel Komplimente über sein Bild. Ein lieber Verwandter, den er „in seinem Gemälde verewigt“ habe, hätte ihnen viel davon erzählt. Ob sie das Bild im Atelier sehen dürften?

Onkel war so lieb und gut. Er sagte: „Verwandte von meinem theuren jungen Freunde sind mir immer besonders willkommen!“

Und doch weiß ich, wie er Besuche haßt. Nicht alle, versteht sich.

Den 22.  
Mein erster Ball, heut Abend! Früh das weiße Kleid noch einmal Probe angezogen. Tante rief Onkel dazu.

„Findest Du nicht, daß die Garnirung auf der linken Seite etwas mager ist? Ich will mit Rosenzweigen raffen – was meinst Du?“

Er sah mich mit seinen sonderbaren Maleraugen an, ohne zu reden.

„So sprich doch, Karl – soll ich raffen oder nicht?“

„Das ist ja gleichgültig,“ sagt er endlich, „wenn das Bild gut ist, frägt keiner nach dem Rahmen.“

Da schob ihn Tante zur Thür hinaus. Ich dachte: eitel macht mich das nicht – aber daß Herr Heinrich mich so sehen wird, das gefällt mir wohl!

Den 23. früh 3 Uhr Sonntag. 
Ich bin wieder aufgestanden; schlafen kann ich doch nicht. Als ich vor vierzehn Tagen ans Land stieg, fühlte ich die Bewegung des Schiffs noch eine Zeit lang nach. So lag ich vorhin im Bett, hörte Ballmusik und drehte mich. Aber ich dachte nicht viel ans Tanzen. Ein frischer, kühler Morgen, er thut den Augen wohl. Venus, Mars und Merkur stehen noch am Himmel, ein Bischen verblaßt schon. Die drei Sterne sind jetzt früh zu beobachten. Ja – ich verstehe etwas Astronomie, Herr Heinrich hat mich belehrt!

Also mein erster Ball ist vorbei. Da liegt der Ballstaat. Röth würde sich ärgern, wenn sie die linke Garnirung sähe – Herr von Trauermantel hat darauf getreten. Weil er’s war, wird Tante nicht zanken. Vor dem Fenster stehen fünfzehn niedliche Kotillonbouquetts mit Schleifen voll eingedruckter Devisen. Ein Sträußchen davon werde ich pressen, aber nicht das von Herrn von Trauermantel. Doch ich will von Anfang anfangen, nicht vom Ende.

Wir waren für fünf Uhr eingeladen, aber wir kamen viel später. Ein Prälat, der durch Dresden reist, wollte die Kanahochzeit sehen. Er fuhr vor, als wir eben fertig mit Anziehen waren. Onkel sagte: „Geht doch voraus.“ Tante wollte nicht. Sie setzte sich auf den Balkon und sah nach der Atelierthür, ob der Prälat nicht bald wieder herauskäme. Das war gerade, wie wenn man sich ans Feuer stellt und wartet, bis das Wasser kocht. Sie wurde ganz verstimmt und gelb vom Warten.

„Tante,“ fing ich an, „das schwarze Sammetkleid steht Dir doch sehr gut. Der Ausschnitt zeigt Deine hübschen Schultern.“

Sie zog an der Taille, da kamen sie noch etwas mehr zum Vorschein.

„Ich finde auch, wenn Du Dein Haar steckst wie Mama, siehst Du ihr ähnlich.“ (Es war immer Tantens Ehrgeiz, meiner schönen Mama ähnlich gefunden zu werden.)

„So – meinst Du?“

„O – bitte, halt’ einmal Deinen Kopf still, so wie Du ihn eben hältst …“

„Weßhalb?“

„Weil der blaue Himmel jetzt gerade hinter Deinem Profil steht. Onkel würde sprechen: wie gut stimmt der warme Ton des Fleisches zu dem kalten Hintergrunde …“

„Alter Affe!“ (aber sie lachte dabei).

„Ach Tante – ich habe es so gern, wenn Du freundlich aussiehst! Jetzt hast Du gewiß eben an Cäciliens Brief gedacht. Morgen ist Sonntag, das ist ihr Tag und sie ist immer pünktlich. Eine Andere würde auf so einer Reise vielleicht vergessen, an ihre Mama zu schreiben.“

„Das ist wahr. Cäcilie hat ein edles Herz; wer weiß, ob Natti …“

Da ging die Atelierthür. Der dicke Priester, gefolgt von Onkel, schritt voraus – Tante hatte es gar nicht bemerkt, sie war guter Laune geworden.

Gebsattel’s wohnen halbwegs zwischen Weißem Hirsch und Loschwitz. Ihr Park reicht fast bis an die Elbe. Die Villa ist ein wahres Paradies, am besten gefällt mir der viereckige Thurm mit dem Observatorium. Da sitzt jetzt Rachts gewiß die Coeurdame mit Herrn Heinrich und beobachtet die Sterne. Ach – können diese Gebsattel’s glücklich sein! Dem alten Oberforstmeister merkt man’s freilich nicht an. Mit seiner schmalen, sehr hohen Stirn (sie nimmt gar kein Ende!) geht er verdrossen einher, als ob seine Chokoladenaugen das Licht scheuten.

Fast Alles war schon versammelt. Als wir ins Vestibül treten, fangen sie gerad die „Blaue Donau“ zu spielen an. „Das ist mein erster Walzer!“ sag’ ich zu Tante, und es zuckt mir schon in den Füßen.

An der Salonthür schaut der junge Herr von Gebsattel bereits mit dem Kneifer nach uns aus.

„Ach, Gnädige – wie spät, wie spät! Wenn ich diesen Walzer verloren hätte – untröstlich, wahrhaftig!“

Dabei legte er gleich den Arm um meine Taille. Ich hatte nur Zeit, Tante meinen Fächer zuzuwerfen, da tanzte ich auch schon in meinen ersten Ball hinein.

„Gnädiges Fräulein – man ruht ja aus, wenn man mit Ihnen walzt,“ ruft er mir während des Tanzens zu, „Sie schweben wie eine Elfe – auf Ehre!“

Ich aber sah mich über seine Schulter dabei im Ballsaal um, es war noch lichter Tag. Die erste Person, die ich erblickte, war Herr Heinrich. Er war Tante entgegengegangen und unterhielt sich mit ihr. Dabei sah er sich nach mir um – ich merkte es wohl. Und als ich seinen Augen begegnete, da war mir plötzlich so froh zu Muth, daß ich vor mich hinlachen mußte, während ich zwischen den Spitzentoiletten und Uniformen unter Wohlgerüchen und Musik dahinflog. Die drei großen Flügelthüren, die vom Saal nach dem Garten führen, standen offen und die frische Luft von der Elbe strömte herein.

„Wo darf ich Sie absetzen, Gnädige?“

„Neben Tante, bitte, sie steht an der Mittelthür.“

„Wie Sie befehlen.“

Und immer langsamer walzend brachte er mich durch ganze Wolken von Seidentüll und Spitzen bis in ihre Nähe. Ich bewunderte seine Geschicklichkeit.

Tante hielt sich sehr gerade und steif und sah etwas gelangweilt neben Herrn Heinrich aus. Er fährt ja nicht zweispännig! Aber sie machte mir mit den Augen ein gewisses Zeichen; daran merkte ich, daß sie mit mir zufrieden sei.

„Sie haben Ihr Entrée in die Welt gleich tanzend gemacht,“ sagte Herr Heinrich. „Ich bin ein ungeschickter Tänzer, aber wenn Sie eine Quadrille mit mir riskiren wollen …“

„Natürlich tanzen wir zusammen, die erste, wenn Sie wollen?“

Ich hatte es ja erwartet, daß er mich auffordern würde. Er wollte weiter mit mir reden, aber da kam Herr von Gebsattel und stellte mir einen Herrn nach dem andern vor. Ich wurde ganz verwirrt von den vielen fremden Namen, meine Tanzkarte aber war auf einmal voll.

„Vergiß nicht, Frau von Gebsattel Dein Kompliment zu machen,“ flüsterte Tante mir zu.

„Wo ist sie?“

[691] „Dort, nicht weit vom Eingang …“

Wahrhaftig – ich hatte sie zuerst nicht erkannt. Sie trug ein krêmefarbenes Atlaskleid, das vorn sehr kurz war und ihre kleinen Füße sehen ließ, die in Atlasschuhen mit hohen Absätzen steckten. Nach rückwärts war es so stark gezogen, daß man die Kniee – ja die ganze Figur! durchsah, wie bei einer von den Marmorfiguren im japanischen Palais. Ich würde roth, müßte ich mich so sehen lassen, aber es schien sie gar nicht zu geniren. Sie stand in einem Kreis von jungen Herren und lachte, daß die rothen Federn auf ihrem Kopfe tanzten.

„Ach – da ist ja unsere kleine Russin!“ rief sie, als sie mich erblickte, aber sie sprach nicht mit mir, und ich war recht froh, als ich meinen Lanciertänzer auf mich zukommen sah.

Während der Quadrille haben wir nicht viel mit einander geredet, Herr Heinrich und ich. Ich mußte auf die Touren Acht geben, sonst hätte er Konfusion gemacht, denn er griff manchmal nach meiner Hand und wollte Chaine machen, wenn er gar nicht daran war.

Dann führte er mich in den Garten, viele Paare promenirten schon, denn es fing an, im Saal sehr heiß zu werden. Was soll ich mit ihm reden? dachte ich, gewiß werde ich wieder keine Antwort in Bereitschaft haben! Aber ich merkte bald, daß er sich gar nicht ungern mit mir unterhielt, und da wurde ich auch dreister. Er hat etwas – wie soll ich sagen? – etwas Liebkosendes in den Augen, so daß man ihn gern ansieht. Ich möchte wissen, ob es Andern auch so geht …

„Ich habe Sie heute früh schon gesehen,“ fing er an.

„Mich? – Und davon weiß ich nichts!“

„Als ich von einem sehr zeitigen Spaziergang zurück kam, standen Sie am Fenster. Sie waren sicher noch nicht lange auf und hatten die Hände hinter dem Kopf gefaltet … Sie schienen in tiefes Nachdenken versunken – an was mögen Sie wohl gedacht haben?“

„Ich weiß nicht – vielleicht an den Ball …“

Aber in dem Augenblick fiel mir ein, daß ich an meine alten Damen gedacht hatte und ob sie ihm wohl erzählt, daß ich drei Portionen Eis essen wollte. Da wurde ich wieder einmal sehr roth.

„Wissen Sie, warum Onkel Frau von Gebsattel die Coeurdame nennt?“ fragte ich, um das Gespräch abzulenken.

„Vielleicht, weil sie ein besonders gütiges Herz hat.“

Aber an seinem Gesicht merkte ich gleich, daß das nicht das Richtige war. Da steckt gewiss eine Liebesgeschichte dahinter, dachte ich, wie kann ich die nur herausbekommen, denn so etwas interessirt mich immer am meisten. Direkt fragen wollte ich doch nicht. Wie ich mir das noch überlegte, hörten wir auf einmal Stimmen hinter uns rufen: Fräulein! – Lisa!

„Es scheint, wir werden steckbrieflich verfolgt,“ sagte Herr Heinrich und kehrte ärgerlich um.

„Schade,“ rief ich, „es ist viel schöner hier im Freien als drin, in der Gluthhitze.“

Tante und eine alte Dame kamen uns entgegen.

„Du kannst Dich erkälten, Lisa!“ (als ob man sich in einer warmen Mainacht je erkältete!) rief Tante, „geben Sie Lisa’s Launen nur nicht nach, Herr Doktor!“

„Warum versteckt sich denn unsere kleine Russin?“ redete mich die alte Dame an. Sie hatte ganz weißes Haar, sehr lebhafte Augen und war in ihren großen Cachemire eingewickelt, als ob sie fröre.

„Erlauben Sie, Gräfin, daß ich Ihnen meine Nichte Lisa vorstelle,“ schrie Tante. „Sprich laut, Lisa, die Gräfin Nolimé ist etwas taub, sei sehr verbindlich, hörst Du?“ flüsterte sie mir dann zu.

Gewiß fährt die alte Gräfin in einer Equipage! dachte ich, und es quälte mich sehr, daß Tante Alles hören würde, wenn ich laut spräche, sie ging mit Herrn Heinrich dicht hinter uns.

Ich mußte meinen Arm unter den Cachemire der Gräfin stecken

„Wissen Sie denn, was Sie angerichtet haben, Sie allerliebster Unheilstifter?“ wendete sie sich an mich. „Wenn das so fort geht, werden alle jungen Damen petitioniren, daß man Sie nach Rußland zurückschickt.“

„Weßhalb denn?“ fragte ich so laut, als meine Verlegenheit zuließ.

„Ach – Sie spielen die Unschuldige! Soll ich Ihnen wiederholen, liebes Kind, was man soeben von Ihnen gesagt hat?“

„Etwas Schlimmes?“ frage ich erschreckt.

„Wie?“

„Etwas Schlimmes?“ schrie ich und hätte dabei unter die Erde sinken mögen.

„Aha – unsere kleine Lisa wird neugierig! Nun, man hat mir gesagt … Nein, ich will Sie nicht roth machen, mein Neffe soll es Ihnen selbst wiederholen. Ja, ja – ich habe Jemand eben in Verzweiflung gesehen, weil Sie ihn kalt und abstoßend behandelt haben.“

„Mit Absicht habe ich Niemand gekränkt.“

„Wie?“

„Mit Absicht habe ich Niemand gekränkt,“ schrie ich in meiner Verzweiflung. Was mußte Herr Heinrich denken, daß ich Jemand beleidigt hatte! Der ganze Ball war mir auf einmal verleidet.

„Wie naiv Sie noch ist!“ rief Gräfin Nolimé Tante zu.

Ein nicht mehr junger Herr, der uns an der Thür erwartet hatte, kam uns ein paar Schritte entgegen.

„O – da ist er schon, mein Neffe! Ich glaube, er ist Ihnen bereits vorgestellt. Baron von Trauermantel-Papier.“

Er verbeugte sich, ich machte ein Kompliment.

„Gnädiges Fräulein scheinen vergessen zu haben, daß diese Polka mir zugesagt war …“

„Ich wußte nicht, daß der Tanz schon angefangen hatte.“

„Es ist durchaus meine Schuld – ich habe dem Fräulein die Volière zeigen wollen, und man hört die Musik in der Entfernung nicht,“ rief Herr Heinrich, als ob er nicht leiden wolle, daß mich ein Vorwurf träfe.

,O – bitte, Herr Professor – bitte,“ entgegnete Herr von Trauermantel mit einer höflichen Verbeugung und führte mich in den Saal. „Gelehrten darf man solche Dinge nicht übelnehmen, wir holen das nach!“ sagte er dabei, und gleich darauf tanzten wir ein paar Mal im Saal herum. Er kam aber viel schneller außer Athem als Herr von Gebsattel. Beleidigt schien er nicht, im Gegentheil, nur zu freundlich. Mit seinem breiten rothen Gesicht lächelte er mich fortwährend an, sein Mund verzog sich dabei schief. Das kam mir mit einem Male komisch vor. Himmel – dachte ich – wenn ich nur nicht ins Lachen gerathe, ich weiß, da giebt’s nicht gleich ein Aufhören! Und Herr Heinrich, der mich beobachtet!

Ich biß mir auf die Lippen und versuchte an den Abschied von Natti zu denken.

Glücklicherweise fing er da zu reden an:

„Gnädiges Fräulein, Sie haben eine Toilette, die Ihnen vorzüglich steht. Auf Ehre – ich finde Ihren Anzug reizend.“

„Sehr gütig.“

„Gnädiges Fräuleim finden es indiskret, daß ich Ihren Anzug lobe – nicht?“

„Ich – nein … ich …“ ich wußte nicht recht, was ich hier erwiedern sollte.

„Ich spreche vom Anzug, weil ich mir doch nicht erlauben darf zu sagen: Gnädiges Fräulein, ich finde Sie …“

Jetzt nahm ich eine beleidigte Miene an, aber es brachte ihn nicht außer Fassung.

„Wir sind an der Reihe,“ sagte ich sehr steif. Und als wir zweimal herumgetanzt und er schon keuchte und mich absetzen wollte, rief ich doch:

„Bitte, noch eine Tour – es tanzt sich so gut nach dieser Polka.“

Wenn er außer Athem ist, kann er wenigstens nicht reden! dachte ich.

Nach dem Tanze wollte er mich ebenfalls in den Garten führen. Da rief ich schnell:

„Ich darf nicht, meine Tante hat’s verboten. Da ist sie!“ und so machte ich mich von ihm los.

„A bientôt – à bientôt!“ rief er mir noch zu.

Tante schien sehr aufgeregt.

„Warum läufst Du ihm denn fort?“

„Er wollte mich in den Garten führen – aber Du hast es ja verboten.“ Ich sagte das mit einem kleinen Triumph.

„Hier war das etwas Anderes. Herr von Trauermantel ist sehr gewählt; es ist eine große Ehre, daß er sich mit Dir [694] beschäftigt. Aber Dir fehlt es eben noch an dem richtigen Takt. Nun – wie gefällt er Dir?“

„O – er tanzt nicht besonders.“

„Darauf kommt es gar nicht an. Ich meine sein Wesen – seine ganze Erscheinung?“

„Er hat so wenig Haare, und wenn er lacht …“

„Du bist ein läppisches Ding – es sind die edlen Eigenschaften, die Güte des Herzens, auf die es bei einem Manne ankommt,“ unterbrach sie mich, „ich bitte Dich dringend, sei nicht abstoßend gegen ihn, Du könntest es später bereuen!“

Hier erlöste mich die alte Gräfin. Sie hatte durch Zeichen mit ihrem Neffen gesprochen und kam jetzt auf uns zu.

„Mais c’est le coup de foudre!“ rief sie Tante schon aus einiger Entfernung zu. „absolument le coup de foudre! Alfred ist noch ganz unter dem Charme!“

Tante hielt es nach dieser Eröffnung doch für besser, mich fortzuschicken und mit der Gräfin in ein Nebenzimmer zu gehen.

Ich weiß aber recht gut, was mit dem coup de foudre gemeint ist. Ich habe Herrn von Trauermantel sehr, sehr gut gefallen, das hat es zu bedeuten! Ach – wenn Herr Heinrich es nur gehört hätte! Natti hat Julie einmal Nachts erzählt – (sie dachte, ich schliefe! Ich habe oft nicht geschlafen, wenn sie so schwatzten!) –: Dimitri hat sich im Anfang nur für mich interessirt wie für eine nette Ballbekanntschaft. Erst als Fedor Kosnichef sich um mich zu bewerben anfing, da ist er so desperat verliebt geworden.

Ich möchte wissen, ob das ein Mittel wäre … Mein Gott, was schreibe ich da! … Aber vor sich selbst braucht man doch kein Geheimniß zu haben? – Nein, ich kann’s nicht niederschreiben – es geht nicht. Wenn ich plötzlich stürbe und man entdeckte das Buch, ich würde noch im Himmel roth vor Scham.

Ach – ich wollte, ich wäre reich, sehr reich – so reich wie diese Gebsattel’s. Dann ließe ich mir auch ein Observatorium bauen und meine Ferngläser von einem ausgezeichneten jungen Astronomen besorgen. Und Nachts nähme ich auch Stunden bei ihm, wie man die Sterne entdeckt. Ich wollte so aufmerksam sein, er sollte keine Noth mit mir haben. Freilich – mit Jedem möchte ich nicht so allein unter freiem Himmel lernen, es müßte schon Einer sein, der mir großes Vertrauen einflößt!

Onkel habe ich den ganzen Abend über nicht viel gesehen. Einmal merkte ich, daß Herr von Trauermantel sich ihm näherte, aber mir schien’s, der kam ihm nicht gelegen. Er nahm da gleich Herrn Heinrich unter den Arm und verließ mit ihm den Ballsaal.

Als wir vor der Thür auf den Wagen warteten, war Herr Heinrich auch neben uns. Ich hörte Folgendes:

Onkel sagte: „Wie sonderbar Du aussiehst, Heinz, was ist Dir denn begegnet?“

Herr Heinrich sprach:

„Das Glück ist mir begegnet, aber ich weiß nicht, ob ich’s festhalten darf …“

„Greif zu, mein Junge,“ rief Onkel, „es kommt nicht oft; ein Thor, der sich’s entgehen läßt!“

Da sah Herr Heinrich mich an, ganz lange und räthselhaft. Ich wurde feuerroth, aber weil’s schon dunkel war, so hatte Tante es nicht bemerkt.

O mein Gott, gieb, daß er seine Kousine Bertha nicht auch so ansieht … es ist mir, als ob ich gleich laut schluchzen müßte, wenn …

Himmel – Tante! – fort mit der Schreiberei!

Später. 
Sie hatte ganz leise angeklopft, falls ich noch schliefe; sie ist so gut, und ich komme mir manchmal recht schlimm vor, daß ich ihr nicht Alles sage. Als ob das möglich wäre! Ich könnte nicht einmal Mama alle meine Gedanken sagen, höchstens meiner herzallerliebsten Lenotschka!

„Liebes Kind,“ fing Tante an, „die paar Stunden ruhiger Schlaf haben Dir außerordentlich gut gethan. Man merkt gar nicht, daß Du so spät zu Bette gingst.“

Und ich, die ich kein Auge zugethan!

„Ich bin sehr munter, Tante,“ sagte ich.

„Es ist mir lieb. Ich habe der Gräfin Nolimé einen Besuch für heute Nachmittag versprochen und möchte, daß Du Dich zu Deinem Vortheil präsentirtest.“

„Herr Heinrich kommt ja heute Nachmittag …“

„Beschäftige Dich doch nicht mit Besuchen, die Onkel angehen. Was wirst Du anziehen?“

„Mein blaues Kleid?“

„Die Farbe ist etwas fade. Was hast Du sonst?“

„Das Kleid mit den kleinen Vergißmeinnichtbouquettchen mit rosa seidener Taille …“

„Hm – wirf es einmal über.“

Ich fuhr so schnell wie möglich hinein.

„Aber, Kind – diese Aermel sind geradezu unmöglich! Jetzt, wo man Alles anschließend trägt! Du siehst aus wie ein altes Bild.“

„Man muß sich doch bewegen können!“

Aber sie hörte gar nicht auf mich.

„Ich werde mit Pauline sprechen“ sagte sie, „die wohnt in der Nähe und macht vielleicht die kleine Aenderung, obwohl es Sonntag ist. Die Taille könnte man durch ein Plissé von Spitzen verbessern. Hast Du ein Bouquett für die Schulter oder eine zupassende Schleife?“

„Nein!“

„Du solltest wirklich anfangen, Dich selbst etwas mit solchen Dingen zu beschäftigen.“

„Tante, als ich Dir neulich von dem rosa Krêpehütchen der Prinzeß Olga vorschwärmte, hast Du gesagt: nur oberflächliche Naturen beschäftigen sich mit solchen Dingen.“

„Du wendest doch Alles falsch an. Es giebt Ausnahmen, wo es sogar geboten ist, eine gewisse Sorgfalt auf den Anzug zu verwenden.“

„Warum?“

„Weil Männer sich ebenfalls mit solchen Dingen beschäftigen und schnell herausfinden, ob ein Mädchen Geschmack hat oder nicht. Es ist ihnen nicht zu verdenken, wenn sie nur solche gern am Arme führen, die guten Geschmack verrathen.“

„Mich führt ja Niemand am Arm.“

„Ich setze den Fall, es fände sich Jemand dazu – das wär’ gar nicht übel.“

„Denkst Du an Heirathen, Tante? Ich habe keine Lust. Und nach Natti kommt erst Julie. Papa spricht: bei meinen Mädchen muß es nach der Reihe gehen!“

„Liebes Kind, wie die Verhältnisse bei Euch liegen, darfst Du nicht sagen: ich habe keine Lust, oder: ich will warten, bis mir Jemand gefällt. Wenn ich eine leidliche – vielleicht sogar eine glänzende Partie für Dich fände, kannst Du dem lieben Gott danken, daß er’s gut mit Dir meint.“

Sollte Tante wirklich die Absicht haben, mich zu verheirathen? Während ich das schreibe, ist mir ganz beklommen. Ich werde zu Pfingsten ja erst Siebzehn! Wenn sie nur nicht auch denkt, Schwestern müssen sich unter einander aushelfen – ich hatte nur eine Tochter, die ist untergebracht, Malwine (das ist Mama) hat drei, da muß ich eine übernehmen!

Als die Schneiderin mein Kleid änderte – Tante und ich halfen – fuhr ein Wagen vor.

„Herr von Trauermantel!“ rief die Tante, die am Fenster saß; sie sah ganz verklärt aus. „Geh’, Lisi, empfang’ ihn im Salon; ich will nur meine gute Brosche vorstecken.“

Er schien mir etwas gelber und etwas angegriffener als am Tage zuvor, aber gerade so gut gelaunt.

„Ich frage nicht erst, ob Gnädige gut geschlafen haben,“ rief er mir entgegen, „denn das sieht man Ihnen an. Wahrscheinlich haben Sie auch lange geschlafen – gestehen Sie, daß Sie eben erst aufgestanden sind?“

„Ich bin seit vier Uhr auf.“

„Gnädige scherzen …“

„Ich sehe die Sonne gern, wenn sie sonst noch Niemand sieht.“

„Was sagen Sie da, daß ich sie manchmal wochenlang gar nicht gesehen habe?“

„Litten Sie an den Augen?“

„O nein. Ich war damals in Paris.“

„Dort scheint sie doch gerade wie hier.“

„Immer naiv! Ich stand damals um fünf Uhr Nachmittags auf und ging früh sieben Uhr zu Bett. Ach – die glückliche Jugend, die noch unbeschadet mit der Sonne aufsteht!“

„Ja, es muß unangenehm sein, alt zu werden und es nicht mehr zu können!“ rief ich.

[695] Das hat ihn geärgert, ich weiß es! Und ich werde ihn noch viel mehr ärgern, denn sein coup de foudre ist schuld, daß wir heut zur Gräfin Nolimé eingeladen sind und ich nicht in Onkels Atelier sein kann, wenn er Besuch bekommt. Herr Heinrich kann den Trauermantel auch nicht leiden, das hab’ ich bald gemerkt.

10 Uhr Abends. 
Eben fertig mit Anziehen, warte auf Tante, sie fängt erst an. Er ist bei Onkel. Das Fenster steht offen, ich höre seine tiefe Stimme. Ach – wenn er mich doch sehen könnte; mein Anzug ist nämlich sehr hübsch geworden. Tante hat mir von ihren echten Spitzen gegeben und Pauline hat ein entzückendes Vogelnestchen daraus gemacht. Das sitzt auf meiner linken Schulter und darin steckt ein längliches Bouquett von Rosen und Vergißmeinnicht. Pauline hat mich auch frisirt – o, wie ist sie geschickt! Meine gewöhnliche Frisur, aber wie das gleich anders aussieht! Wie stell’ ich’s nun an, um ins Atelier zu kommen … Ich werde Onkel fragen, ob ich ihm morgen seine Pinsel waschen darf? – Das ist doch gewiß ein guter Vorwand!

[709]
10 Uhr Abends. 

Ach – ich möchte so gern Etwas wissen – aber wie soll ich es heraus bekommen! Ich glaube nicht mehr, daß Herr Heinrich sich viel aus der Kousine Bertha macht – aber wenn ich nur wüßte, ob er eine Andere gern hat …

Als ich Onkel wegen der Pinsel frug (ich stotterte etwas!), hat er mich gleich für eine Skizze festgehalten. Ich wußte ja, daß ihm mein Anzug gefallen würde.

„Unterhalte sie, Heinz, daß ihr die Zeit nicht lang wird,“ sagte er. Der liebe, gute Onkel, wie er immer an Alles denkt!

Eine Viertelstunde habe ich so still gestanden , da rief Tante, daß der Wagen warte – leider!

Und seitdem möchte ich so gern wissen – niederschreiben kann ich’s nicht –

Während wir zu Nolimé’s fuhren, hielt Tante eine Lobrede auf den Trauermantel, ich dachte an etwas ganz Anderes.

„Tante,“ fing ich an, als sie eine Pause machte, „wie hat denn Onkel um Dich angehalten?“

Sie sah mich mit einem sonderbaren Blicke an: „Hat Herr von Trauermantel-Papier etwas gesagt, was Dich auf diese Frage bringt?“

(Gut, daß sie immer nur an den denkt!)

„Nein. Aber ich kann mir gar nicht recht vorstellen, wie Onkel es gemacht hat.“

„Sehr einfach …“ Die Erinnerung stand ihr gut, sie sah auf einmal ganz belebt aus.

„Hattest Du Onkel vorher schon sehr lieb?“

„Komisches Kind! Hätte ich ihn sonst geheirathet?“

„Tante, woran hast Du denn gemerkt, daß er Dich lieb hatte?“

„So etwas fühlt sich heraus; jeder Mann hat seine besondere Art. Wenn Du ein bescheidenes und verständiges Mädchen sein willst, Lisi, so glaube ich, daß Jemand, auf den ich große Stücke halte …“

(Sollte er vielleicht gar vierspännig fahren?)

„… Dir auf seine Art zeigen wird, wie man eine Frau lieb hat.“

Ich fragte nicht weiter; mir war ganz heiß geworden, wie wird das mit dem coup de foudre enden! Jeder hat also seine besondere Art, und das fühlt sich heraus? Aber wenn ich nun etwas herausfühlte und dann wäre es nicht das Richtige? O – mein Gott, wie mich das quält! Die ganze Zeit, während wir bei den Nolimé’s waren, habe ich darüber grübeln müssen und da hatte ich ein paar Mal wieder keine Antwort bereit.

Es war nur eine kleine Gesellschaft, aber sehr „comme il faut“, meinte Tante. Die Gräfin war eine liebenswürdige Wirthin, obgleich sie nicht gut hört und sehr zerstreut ist. Sie hatte eine Seite ihrer Locken noch aufgewickelt, als sie uns empfing. Keiner wollte es ihr sagen. Als sie beim Spiegel vorbeikam und es bemerkte, lachte sie sehr und zog die Wickeln vor aller Welt heraus. Der Salon war etwas dunkel, weil das Licht durch rothseidene Gardinen fiel, die man zugezogen hatte. Aber der rothe Schein verschönerte Alle. Selbst Tante sah leidlich aus. Junge Herren gab’s nicht, nur ältliche und alte. Wenig Damen. Eine Baronin Papier fiel mir auf. Verwandte der Trauermäntel. Sie besah mich von unten bis oben, als wollte sie mich kaufen und vorher prüfen. Eine große, [710] schmale Frau war sie, mit einer Oberlippe, wie Papa, wenn er sich nicht rasirt hat, und sprach mit einer Husarenstimme. Gegen Tante schien sie gereizt, ich weiß nicht weßhalb. Ihre Tochter ist sehr hübsch, sie hat traurige Augen und einen lachenden Mund. Die alte Baronin trug eine verblichene Atlastoilette, die Tochter aber war frisch und kleidsam angezogen.

Herr von Trauermantel-Papier war noch um zehn Grad wärmer als am Vormittag. Er stand an der Thür, als wir eintraten, und griff nach meiner Hand, sobald er Tante begrüßt, die ihn schon ganz bekannt anlächelt.

„Ich bin so glücklich, Sie abermals zu sehen,“ redete er mich an, „freuen Sie sich denn auch ein Bischen darüber?“

Ich verzog keine Miene. „Ich freue mich immer, mit Tante in Gesellschaft zu gehen.“

„Sie ist noch ein scheues Ding, die das rechte Wort nicht findet,“ sagte Tante und kniff mich dabei in den Arm.

„Wer wollte sie anders wünschen! Diese jungfräuliche Herbheit ist ja ein besonderer Reiz!“ aber er seufzte doch dabei.

Ich glaube, die Baronin mit der Husarenstimme hätte es gern, wenn ihre Tochter auch ein coup de foudre für den Trauermantel wäre, wenn ich nur wüßte, wie ich ihr dazu verhelfen könnte! Sie kam immer, wenn er sich gerade neben mich setzen wollte, und fing ein Gespräch mit ihm an.

„Mein lieber Vetter – warum sieht man Sie denn gar nicht mehr in der Ostra-Allee?“

„Die Blumenausstellung zum Besten der Volksküchen hat mich sehr in Anspruch genommen.“

„Was macht denn Ihre Musik?“

„So so – la la! – Gnädiges Fräulein sind auch musikalisch?“ wendete er sich an mich.

„Ich höre gern Musik …“

„Das ist freilich genügsam,“ sagte die Baronin, „Annette hat zwei reizende vierhändige Piècen von Schullzoff zu Hause – wann wollen Sie mit ihr spielen?“

„Nächste Woche … ich kann den Tag noch nicht bestimmen …“

„Annette, Du sollst etwas musiciren,“ rief sie dem jungen Mädchen zu.

„Nicht doch, Mama!“

Aber Herr von Tranermantel war sogleich aufgesprungen und hatte das Piano geöffnet.

„Fräulein Annette wird vorspielen,“ rief er der Gräfin Nolimé ins Ohr und führte das junge Mädchen dann ans Instrument. Sie ließ sich nicht lange bitten.

Tante sah sich etwas beleidigt nach der Husarenstimme um, als ob sie ihr einen Vorwurf mache, Herrn von Trauermantel von meiner Seite entfernt zu haben. Er kam leider bald zurück, schob seinen kleinen Sessel noch etwas näher an meinen Stuhl als vorher und flüsterte mir zu. „Ich begünstige die Musik, weil wir uns dabei ungestörter unterhalten können – begreifen Gnädige?“

Ich begriff. „Aber ich liebe die Musik und möchte zuhören!“ rief ich schnell. Ich fange an, mich vor ihm zu fürchten.

Er lehnte sich zurück und sah mich von der Seite an.

Das junge Mädchen war sicher eine echte Künstlerin. Ihr Spiel glich mehr ihren traurigen Augen als dem lachenden Munde. Sie fixirte manchmal ein ihr gegenüberhängendes Oelbild, aber ich glaube nicht, daß sie den Ritter mit schwarzem Barett und langer weißer Feder sah, der darauf gemalt war. Ihre Gedanken schienen auch nicht allein bei der Musik zu sein – vielleicht hat’s ihr auch Jemand angethan, daß sie immerfort an ihn denken muß! …

Drei alte Herren in einer Fensternische fuhren trotz des Spielens fort, sich zu unterhalten. Der eine sprach sogar heftig und gestikulirte dabei.

Herr von Trauermantel zuckte die Achseln, als ich eine mißbilligende Bewegung machte.

„Bei dem Leichenmarsch kann man es ihnen nicht verdenken,“ flüsterte er mir zu.

Es schien mir, als ob die alte Baronin seine Worte errathen hätte.

„Spiele doch etwas Pikantes – etwas Heiteres, Annette!“ kommandirte sie nach dem Flügel.

Da schloß das junge Mädchen mit einem ungeduldig hingeschleuderten Accord ihr Adagio und begann Cadenzen zu rollen, erst mit einer, dann mit der andern, dann mit beiden Händen. Drauf legte sie die Rechte bei Seite, als sollte die sich ausruhen, und spielte im Baß allein mit der Linken. Plötzlich fuhr die Rechte wieder dazwischen, beide Hände sprangen im höchsten Diskant abwechselnd in die Höhe wie junge Ziegen auf einer Wiese, wirbelten dann mit fabelhafter Geschwindigkeit in den Mitteltönen herum und paukten die Schlußaccorde so laut, als sollte man sie in der nächsten Straße hören.

„Bravo – bravo! Ja, sie versteht’s!“ schrie jetzt der Trauermantel und klatschte, was das Zeug hielt. Und die Gräfin Nolimé, die den Spektakel auch gehört, klatschte ebenfalls – wie alle Welt, selbst die drei Schwadroneurs in der Nische. Die Papierbaronin aber sah sich sehr befriedigt um.

Ich ging auf das junge Mädchen zu und drückte ihr die Hand. Ihr lachender Mund schien mir in der Nähe weniger von einer fröhlichen Stimmung abzuhängen als von einer etwas kurzen Oberlippe, welche die schönen Zähne fast immer ein wenig sichtbar ließ. Sie sah mich befremdet, fast feindselig an. Gleich stand auch der Trauermantel neben uns. Er machte ihr Komplimente über ihr Spiel.

„Dein Lob will nichts sagen,“ rief sie mit einem pikirten Ausdruck, „Du hast nur Jahrmarktsgeschmack!“

Dabei wandte sie uns den Rücken. Die Herren in der Nische waren unterdeß schon wieder an einander gerathen.

„Wie kann man sich in einer Gesellschaft so zanken!“ sagte ich zu Herrn von Trauermantel.

„Zanken! Gnädige, Sie profaniren den Eifer für die Wissenschaft durch dieses Wort. Gelehrte nehmen es mit ihrer Meinung immer ernst. Onkel Nolimé ist aber stolz, diese geistigen Berühmtheiten in seinem Hause zu empfangen – sehen Sie nur, wie er schmunzelt!“

Wirklich; der alte Graf – sehr alt und runzlig, aber in einem ganz hellen Anzug und hellblauem Schlips – saß zwischen den Streitenden und lächelte bald dem einen, bald dem andern zu.

„Ich dachte, über so eine alte Geschichte, wie die der Jungfrau von Orleans, könnte man nicht mehr verschiedener Meinung sein?“

Trauermantel blickte mich zum ersten Male etwas überlegen an: „Ich habe der Debatte im Anfang beigewohnt. Sie ist höchst interessant. Es handelt sich nämlich darum, wie die heutige Karte von Frankreich aussehen würde, wenn die Engländer die Jungfrau von Orleans damals nicht verbrannt hätten. Professor Gründlich spricht den Franzosen in diesem Falle den ganzen südlichen Theil von England zu.“

„So war es doch wohl gut, daß man die Arme verbrannte?“

„Für uns jedenfalls. Aber dabei beruhigen sich die Herren noch lange nicht. Sie werden heut kaum zu einem Resultate kommen.“

Während eine große Baisertorte herumgegeben wurde, sah ich Herrn von Trauermantel auf einem Puff neben Tante. Sie sprachen ebenfalls sehr eifrig, ein paar Mal richteten sich Tantens Augen nach mir. Wenn sie nur nicht etwa darüber disputirt haben, wem ich einmal zufallen soll! … Ehe ich diesem Trauermantel gehörte, da wollte ich noch lieber von Engländern verbrannt werden, wie die Jungfrau von Orleans – ja wahrhaftig, das wollte ich!

Als wir heimkamen, sagte Onkel zu Tante: „Ihr kommt recht spät. Heinrich wollte Dir gern sein Kompliment machen und hat gewartet und gewartet. Er wurde zuletzt ganz ungeduldig.“

„Das ist ja etwas ganz Neues,“ entgegnete Tante. „Gewöhnlich hält er mich seiner gelehrten Gegenwart gar nicht für werth.“

„Ich weiß nicht, was er hat,“ fuhr Onkel fort, „er ist in der letzten Zeit recht nervös geworden. Ich denke, sein Verleger chikanirt ihn. weil er das Werk über die Astronomie der Alten nicht für den Osterverlag druckfertig hatte. Der könnte mir auch gestohlen werden, der Bilder und gelehrte Werke nach der Uhr schafft!“

„Er hat eben seine Launen – das ist Alles!“

„Nein – er hat keine Launen!“ fuhr Onkel auf „Er meint’s ernst mit seinem Beruf und ist kein Frauenzimmerheld. Aber das will kajolirt sein – das will flattirt sein! Versteht’s Einer nicht, gleich muß er ,Launen‘ haben. Du wirst ihn übrigens bald los – er geht in den nächsten Tagen nach Leipzig zurück!“

Ich glaubte zu wissen, warum er auf uns gewartet hat – es machte mich froh … aber daß er fort geht, daß ich ihn vielleicht nie wieder sehe! … das machte mich traurig.

Ich trat schnell ans offene Fenster, damit man meinem Gesicht die Gedanken nicht anmerkte.

[711] „Bist Du denn noch nicht müde?“ rief Tante, „jetzt giebt’s draußen doch nichts zu betrachten.“

„Wie deutlich man die Musik vom Schillerschlößchen bei Euch hört – eben spielen sie den „Tannhäuser“-Marsch …“ sagte ich, als hätte ich nur deßhalb den Kopf hinausgesteckt. Wie ich schon anfange, mich zu verstellen!

Den 26.  
Eben aufgestanden. Sehr unruhige Nacht. Bis drei Uhr alle Stunden schlagen hören. Abwechselnd glücklich und unglücklich – manchmal gewünscht zu sterben. Das Leben ist sehr schwer. – Heut früh wieder etwas mehr Lebensmuth. Es kann ja noch Alles gut werden!

Später.  
Tante sehr liebevoll beim Frühstück; nannte mich: Lisi und: geliebtes Herz.

Lisi bedeutet: ich bin sehr mit Dir zufrieden. Lisa: nicht gut, nicht böse. Elisabeth – darauf folgt meist ein Donnerwetter.

„Du siehst ein Bischen blaß aus, Herzenskind – es fehlt Dir doch nichts?“ fängt sie an, sobald Onkel ins Atelier gegangen ist.

„Mir? O nein ich bin sehr wohl.“

Ich wurde dabei roth, sie schien das natürlich zu finden, es hängt ja mit dem coup de foudre für sie zusammen.

„Ich begreife, daß Du aufgeregt bist, meine Lisi. Es kann Dir ja nicht verborgen bleiben, was Dir bevorsteht … jede hat da etwas Aufregung durchzumachen, aber daran stirbt man nicht – im Gegentheil! Ja – geliebtes Kind – ein großes Glück scheint Dich zu erwarten!“

(Jetzt kommt das Gespräch während der Baisertorte! dachte ich, aber ich ließ mir nichts merken.)

„Hat Mama geschrieben, daß sie mich von Dresden abholen will?“ fragte ich.

„Du weißt recht gut, daß es sich um etwas Anderes handelt, schlimmes Kind!“ rief Tante und drohte mir mit dem Finger. „Es kann Dir ja nicht entgangen sein, daß Du das Herz eines seltenen Mannes gewonnen hast, der, obwohl ihm ganz andere Frauen zu Füßen liegen, nur an die kleine, unbedeutende Lisi denkt!“

Ich schwieg. Was sollte ich auch sagen!

„Es ist eine wichtige Sache, von der das Glück Deines ganzen Lebens abhängt, über die wir jetzt gemeinschaftlich berathen wollen – nimm Dir das zu Herzen!“

Im Augenblick, wo Tante die Miene annimmt, die sie für solche Predigten in Bereitschaft hat, wird sie mir immer ein Bischen komisch, es ist wie ein Verhängniß. Ich sah zu Boden, meine Lippen bebten etwas.

„Herr von Trauermantel-Papier – Du weißt, daß ich von ihm rede? …“

„Ja, Tante.“

„… hat sich durch die ganze Art und Weise, wie er in dieser Angelegenheit auftritt, meine höchste Achtung erworben. Er ist ein Ehrenmann, und Du kannst volles Vertrauen zu ihm haben – das ist das Wichtigste. Denn Du weißt, die Frau muß dem Mann unterthan sein!“

„Aber, Tante, Du bist Onkel doch auch nicht unterthan, im Gegentheil …“

„Elisabeth!“ unterbrach sie mich mit erregter Stimme. „Es gehört eine Engelsgeduld dazu, um bei Deinen Bemerkungen ruhig zu bleiben. Wie kannst Du Dir ein Urtheil in solchen Sachen erlauben! Man muß Dir zu Gute halten, daß Du nicht überlegst, was Du sprichst.“

„Was sagt denn Onkel dazu?“ fragte ich etwas kleinlaut.

„Ich habe mit ihm noch nicht darüber gesprochen. Er ist durch sein großes Bild jetzt sehr in Anspruch genommen. Man muß Künstlern von solchen Dingen erst dann reden, wenn man selbst ganz klar darüber geworden ist, man stört sie sonst nur in ihren Arbeiten. Onkel wird natürlich ganz mit mir übereinstimmen.“

Darüber hatte ich meine Zweifel.

„Herrn von Trauermantel,“ fuhr Tante fort, „geht häusliches Glück über jedes andere. Das ist bei seinem großen Vermögen, das ihm jeden Genuß erleichtert, sehr anzuerkennen! Solider Reichthum! Denke, daß er vorige Woche auf der Blumenausstellung hundert Mark für eine Theerose bezahlt hat!“

„Hat er Rosen so gerne“

„Wie schwer Du begreifst! Das beweist doch, daß er hundert Mark mir nichts, dir nichts wegwerfen kann – aus Wohlthätigkeit. Ein edles Herz; dabei hübsche Kenntnisse – viel für sich studirt …“

„Ja – in Paris, die Nächte.“

„Vorlautes Ding – was fällt Dir ein!“

„Aber, Tante, er hat mir gestern doch selbst gesagt, daß er in Paris manchmal wochenlang die Sonne nicht gesehen hat.“

Sie blickte mich scharf an: „Heilige Unschuld!“ sprach sie dann wie zu sich selbst und schüttelte den Kopf.

Nach einer kleinen Weile ging’s in ihrem Texte weiter: „Du bist fürs Landleben doch gerade wie geschaffen, Lisi! Wie Dir als Herrin auf einem schönen Rittergute wohl zu Muthe wäre! – he? Herr von Trauerwantel besitzt ein’s in der Nähe von Altenburg, es heißt Knollern. Ein großes Vermögen ist heute eine wichtige Sache, die man nicht unterschätzen darf. Versprich mir, Dich wenigstens jetzt noch nicht wider ihn zu entscheiden. Er will Dir Zeit geben, Dich zu sammeln; Du sollst ihn in den nächsten vierzehn Tagen manchmal sehen, und er hofft – ja er ist überzeugt, daß er Deine Liebe bei näherer Bekanntschaft gewinnen wird. Gestehe, daß kein Grund gegen ihn vorliegt!“

Die Verzweiflung ließ mich einen finden.

„Wenn einmal Krieg zwischen Rußland und Deutschland ausbricht und mein Mann marschirte gegen Papa – o, ich ertrüg’ es nicht – ich stürbe eher!“

Hier brach ich in Schluchzen aus, mir war gar so weh zu Muthe.

„Beruhige Dich, Lisi, beruhige Dich! Ich habe Dich noch nie so patriotisch gesehen – wie bist Du es nur mit einem Male so sehr geworden? Es ist immer ein schöner Zug – aber bedenke nur, daß Deine Mama auch eine Deutsche ist. Dein Papa ist ein Ostseebaron, also ebenfalls aus unserem Stamme, obwohl ein russischer Unterthan.“

„Aber mein Mann, der gegen Papa in den Krieg zöge – o mein Gott!“

„Es ist mir lieb, Herzenskind, daß Da Gefühl zeigst und diese Dinge ernst nimmst. Hier ist aber wirklich kein Grund zu solchem Jammer. Deine Vernunft wird Dir das selbst sagen, sobald Du Dich gefaßt. So – wir wollen die Sache für den Augenblick fallen lassen; Deine Augen sind schon ganz roth (sie küßte mich)! Sei jetzt meine gute, verständige Lisi und gehe ein paar Mal im Garten auf und ab, es wird Dir gut thun. Vergiß nicht, Deinen großen Strohhut aufzusetzen und lange Handschuhe anzuziehen, daß Dein Teint nicht leidet. Nach dem Regen brennt die Sonne.“

Ich war froh, ins Freie zu kommen, es athmet sich gleich leichter. Ich lief an den Beeten hin und her. Wie die Rosen so schön blühten und dufteten! Ich kann ein Dutzend brechen und das kostet nicht gleich hundert Mark –

Da kommt auf einmal Onkel mir entgegen. Er schwenkt einen Brief und sieht sehr lustig aus.

„Heda. Lisi – heut’ Abend giebt’s Maibowle, rathe weßhalb!“

Dabei ist er vor mich hingetreten und hat mir das Kinn in die Höhe gehoben.

„Ums Himmelswillen, Kind, was ist Dir? Hast Du Heimweh?“

„Nein!“

„Aber wie Du aussiehst … Thränenspuren!“

Er zog mich an sich … da – ja, ich war schwach, ich fing zum zweiten Male zu weinen an. Er küßte mich.

„Und willst Deinem alten Onkel nicht einmal sagen, was Dich quält?“

„Ach – ich darf nicht …“ war Alles, was ich hervorbrachte.

„Du darfst nicht? –- Das wollen wir doch sehen! Hat Dich Jemand gekränkt?“

Weinend erwiederte ich: „Nein!“

„Laß mich ’mal rathen – guck’ mich an. Tante thut recht geheimnißvoll … da ist ein alter Junggeselle mit sehr rothen Backen und einem Schmetterlingsnamen – wie, Lisi, ist Er der Verbrecher?“

Unter Thränen mußte ich lachen.

Er will!“ fuhr Onkel fort, „sehr begreiflich. Sie will nicht – eben so begreiflich. Unser Schatz muß schöner sein, wie, Lisi?“

„Ach – Onkel!“

„Tröste Dich – er behagt mir auch nicht!“

„Aber, Onkel – ich habe nichts gesagt!“ Dabei klammerte ich mich an seinen Arm. Es fielen mir gleich zwölf Centnersteine von der Seele, da ich ihn auf meiner Seite hatte.

[712] „Schon gut, schon gut! Nur gräme Dich nicht! Wir lassen diesen Schmetterling laufen – oder fliegen, wenn’s ihm lieber ist. Mag er sich doch mit einer Andern in Knollern einspinnen – mit der Klavierprinzessin, wenn sie mag! – Jetzt freue Dich aber mit mir. Mein Heinz hat einen Ruf als Professor nach Zürich … Um Gotteswillen, was ist denn da schon wieder los? …“

Ja – ich muß leichenblaß geworden sein, meine Zähne schlugen gegen einander, ich konnt’s nicht hindern.

Er blickte mich mit seinen ernsten Maleraugen an; ich fühlte das, obgleich ich zu Boden sah. Dann schlug er sich vor den Kopf. „Ich alter Einfaltspinsel!“ rief er, „nun wird mir Manches klar!“

„Onkel – sei barmherzig!“

„Still, Liebling, still,“ und er drückte mir die Hand; dann streichelte er mich und quälte mich nicht mit Fragen. Ach – er ist ein Prachtonkel, in Gold zu fassen. Wie er immer gleich herausfühlt, was Einem wohl thut! Nachdem wir eine Weile – er den Arm um mich geschlungen – so schweigend neben einander gegangen sind, hält er mir den Brief von Herrn Heinrich hin.

„Da – lies einmal das …“

Ich las:

  „Mein bester Freund und Berather!
Die Nachricht, von der ich Dir neulich sprach, ist eingetroffen – ich habe den Ruf nach Zürich erhalten. Es ist kein Peru, was man mir verspricht, Zürich ist ja auch nur Durchgangsstation. Vor Allem – es ist ein Anfang! Du wirst errathen, was mir diesen Anfang jetzt so werthvoll macht … Es handelt sich nun darum, ob ich als ein Glücklicher dahin abgehen darf, oder – aber Du wirst ja wissen, was ich meine – hier, wie überall, ist Deine Güte mir entgegengekommen …“

„Na – da sieh einmal, wie man zu unverdientem Lobe kommt!“ murmelte Onkel und lachte, aber nur ganz leise.

„Sobald ich die nothwendigen Briefe expedirt und Mama mich losläßt, bin ich bei Euch …“

Ich gab den Brief zurück – reden konnt’ ich nicht, die Kehle war mir wie zugeschnürt. Einen Augenblick nur war ich selig – dann packte mich ein furchtbarer Zweifel: wenn er die Kousine Bertha meint!

Es war, als ob Onkel meine Gedanken erriethe:

„Gelt – mein Kanaer, der kann Einem schon in die Augen stechen …“

„Sprich nicht weiter – wenn Du Dich täuschtest, es wäre entsetzlich – ich müßte unter die Erde sinken!“

„Quäle Dich doch nicht – ich will ja nichts wissen! … Denkst Du, Dein alter Onkel würde Dich verrathen? Es bleibt Alles unter uns, und wir Beide stehen zu einander!“

Ich lief in meine Stube zurück und schloß mich ab, mir war, als müßt’ ich mich vor aller Welt verstecken – ich war wie erstarrt.

O mein Gott – was ist das in mir! Ist das Liebe – solch eine Liebe, wie Natti sie für Dimitri fühlt? Lieb’ ich denn Herrn Heinrich? Und da fiel mir ein, daß Natti sagte: wenn ich Dimitri verlöre, wollte ich nicht weiter leben … Und Herr Heinrich gehört mir nicht einmal! Da wurde mir sehr beklommen und ich konnte mich nicht trösten. Es war, als wäre ich mit einem Male eine ganz andere Lisa geworden.

Später.  
Bei Tisch war Tante sehr gesprächig, damit Onkel mein verstörtes Wesen nicht bemerkte. Sie glaubte gewiß, ich stellte mir nur immer den Trauermantel vor, wie er als Feind mit der Flinte auf Papa zielt.

Und Onkel wieder war auch sehr gesprächig, damit Tante mein verstörtes Wesen nicht bemerkte! Er erzählte allerlei Malgeschichten. Wegen der Bowle, das hatte er vorher schon mit ihr abgemacht. Sie scheint froh, daß er morgen geht! Ach – wie wird dieser Tag enden, davon hängt all mein Glück ab! Man kann nur einmal lieben – es ist für die Ewigkeit, und wenn sie Millionen Jahre dauerte … Da hab’ ich’s niedergeschrieben – es thut nichts. Heute Abend bin ich entweder glücklich, oder ich sterbe aus Gram – vorher verbrenne ich dann das Buch noch …

Nachts.  
Wie soll ich Alles niederschreiben! Nein – das Buch wird nicht verbrannt!

Onkel holte mich nach Tisch hinunter, ich wußte weßhalb.

„Willst Du mir nicht ein wenig behilflich sein, liebes Kind, meine Renaissancefiguren abzuputzen?“ sagte er vor Tante, „der Staub hat sich arg hineingesetzt.“

„Ach – endlich kommst Du auch darauf Karl, daß Schmutz kein Konservationsmittel für Kunstwerke ist!“ rief sie ihm zu.

Wie so ein großer Künstler doch Alles herausfindet, was man tief im Herzen fühlt, ohne daß man’s ihm sagt! Es war gerade, als ob er wüßte, daß ich vor Unruhe fast verging, und daß eine Beschäftigung neben ihm wie Balsam für mich sein würde.

So putzte ich an einer lebensgroßen Holzfigur herum, während er, ohne zu reden, an seiner Staffelei saß. Ich wollte meine Gedanken sammeln – es ging nicht. Es war, als ob mein Herz den Takt dazu schlüge, bald heftiger, bald ruhiger – manchmal schien’s still zu stehen.

Plötzlich geht die Thorklingel; bald daraus höre ich Herrn Heinrich’s Schritt – ich kenn’ ihn längst. Onkel ihm entgegen – sie sprechen vor der Thür.

O mein Gott, sei barmherzig! O mein Gott, verlaß mich nicht! sag’ ich in einem fort vor mich hin, und dabei putze ich doch so eifrig an der Figur herum, als ob’s in der Welt weiter nichts für mich gäbe. Ich knieete auf der Erde, denn ich war gerade an den Füßen, da trat er herein – ohne Onkel. Er kommt auf mich zu und steht eine kleine Weile neben mir, ohne zu sprechen – und ich putzte nur immer weiter …

„Fräulein …“

Ich wende mich um – er reicht mir die Hand entgegen … ich sehe zwei große feuchte Augen auf mich gerichtet – die Augen kommen mir näher und näher, es ist, als ob eine unsichtbare Gewalt mich ihnen entgegenzöge … Alle Zweifel verschwinden, alle Qual … ich fühle mich so leicht, als ob ich Flügel hätte.

*               *
*

Auf einmal steht Onkel hinter uns – wie ich das uns nur so ruhig niederschreiben kann!

„Meine Kanaer!“ ruft er. Die Stimme klingt nicht recht fest, er läßt’s nicht gern merken, wenn er gerührt ist – „Meine Kanaer – ei, was treibt Ihr für Geschichten! … Tante, die wird aber Augen machen!“

„Rufe sie gleich, Onkel,“ sagte er, „ich kann jetzt Alles aushalten!“

„Was Du für Eile hast, Heinz, Deinen hübschen Schatz der Welt zu zeigen! Wart’, wir müssen die Sache erst in Scene setzen!“

Und dabei placirt er uns gerade, wie wir auf seinem Bilde neben einander sind, wirft uns auch die Draperien über. Drauf schreit er an der Thür sehr laut:

„Therese – schnell, Therese!“

Und wie sie, außer Athem vom Laufen, denn sie konnte sicher nicht begreifen, warum er solche Eile hätte, hereintritt, da weist er mit dem Malstock auf uns hin:

„Sieh einmal die Kraft der Wunder! Das alte Wunder hat ein neues bewirkt …“ weiter kam er nicht, Herr Heinrich zog mich an sich.

„Was für ein dummer Scherz!“ ruft sie ärgerlich, „Du weißt doch, Karl, daß Herr von Trauermantel ernste Absichten auf Lisi hat!“

„Der Schmetterling?“ jetzt lacht Onkel, „daß er Geschmack an dieser Blume findet, wollen wir ihm nicht übelnehmen – he, Heinz? Aber solche Blumen sind für solche Schmetterlinge auch nur zum Bewundern da!“

Tante aber schien da ernsthaft böse.

„Es ist eine alte Geschichte,“ schalt sie, „daß Künstler und Sterngucker keine praktischen Leute sind. Die Augen immer nach oben gerichtet, kommen sie leicht zu Falle, wo vernünftige Leute den Weg zu einem ruhigen Glücke finden. Oder denkst Du, ich habe das Glück meiner Nichte nicht im Auge gehabt? Sie hat kein Vermögen, Heinrich hat keins! … Es ist, als ob Du ganz vergessen hättest, was ein Hausstand in unseren Tagen kostet!“

Da war es wohl an mir zu sprechen. Ich faßte mir ein Herz, obgleich die Worte nicht recht gehorchen wollten.

„Tante … die Klümpen haben ihm neulich sehr gut geschmeckt … Ofengrütze und Palten kann ich auch machen … das sind Alles … billige Gerichte … und ich bin so jung … ich kann so viel noch lernen … wie man eine Wirthschaft … sparsam einrichtet …“

[714] „Bravo, bravo!“ schrie Onkel und klatschte in die Hände.

Ach – was er da erst Alles gesagt hat – ich schreib’s nicht her – das vergess’ ich ihm doch nie!

„Therese“ – sprach Onkel, und wieder klang die Stimme nicht ganz sicher – „was Deinen Schmetterling anlangt, so will ich Dir dann Einiges aus seiner Naturgeschichte mittheilen, was ihn für unsere Nichte (er betonte das unsere) nicht recht geeignet macht. Danke Gott, daß es so gekommen! Kinder!“ rief er dann in einem ganz lustigen Tone, „meinen Segen habt Ihr! Und die Kanahochzeit auch – für den Erlös giebt’s schon eine recht nette Ausstattung.“

Darauf fielen wir Beide über ihn her, wie sich’s für so einen Onkel gehört.

Da küßte Tante mich auch:

„Sei glücklich, Elisabeth!“ sagte sie.

Ich weiß, morgen wird sie mich schon wieder Lisi nennen; sie ist ja so gut.

„Ach Tante – ist es nicht möglich, daß der Trauermantel das Mädchen mit den betrübten Augen heirathet? Ich bin sicher, sie hätte es sehr gern … und Du glaubst nicht, was ich für Sehnsucht habe, allen betrübten Menschen ihre Wünsche zu erfüllen!“

Es scheint, sein Buch hat in Zürich sehr gefallen. Das müssen gescheite Menschen dort sein, die’s gleich begriffen haben, was mein Heinrich Werth ist!

„Bist Du glücklich, Lisa?“ fragte er mich, als wir nach der Maibowle unter den herrlichen Sternen, die so bekannt auf ihn herunterschauten, neben einander im Garten gingen – „bist Du auch glücklich?“

So – daß ich sterben möchte!“

„Um Gotteswillen – Liebste …“

„Ich fürchte mich, weiter zu leben – glücklicher kann ich nie werden!“

„Wir wollen sehen!“ sagte er und schloß mir die Lippen …